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Das Rollen eines Wagens weckte am folgenden Morgen Dr. Almeneuer, der, seiner Gewohnheit gemäß, bei offenem Fenster geschlafen hatte. Er dachte, es sei der Wagen, der Herrn Fininger zur Bahn bringe; er war es auch, aber schon zurückkehrend von dieser Fahrt, die um das untere Ende des Sees herum in einer Stunde Zeit die Verbindung zwischen Seeport und dem Bahnhof des Städtchens herstellte. Bei Tagesgrauen hatte Herr Fininger sich erhoben, um den ersten Bahnzug zu erreichen. Der Wagen mit den Pferden blieb den Sommer über auf dem Landgute zur Verfügung der Damen und wurde hauptsächlich zu eben diesem Verkehr mit dem Städtchen benützt, da das Hinüberrudern über den See nicht bei jedem Wetter tunlich und oft unbequem war.
Es ging schon gegen acht Uhr, so daß der junge Mann sich der Langschläferei anklagte; freilich, wer, wie er gestern, den Schlaf erst sehr spät finden kann, den hält dann leicht ein Morgentraum in desto festeren Banden. Jetzt aber sprang er rasch auf und beeilte sich mit seiner Toilette, da es ihm doch unangenehm war, vielleicht später als die Damen und sein Zögling beim Frühstück zu erscheinen.
Dieser Unannehmlichkeit entging er gleichwohl nicht. Der Kaffeetisch war hinter dem Hause unter einer breitästigen alten Linde gedeckt, in deren Nähe ein kräftiger Strahl frischen Bergwassers sich in die von Algengrün überzogene granitne Muschel einer alten Brunnenschale goß. In allen Zweigen der Linde und der benachbarten Bäume und Hecken zwitscherten die Vögel; im nahen, gegen Raubvogelgefahr nach oben vergitterten Geflügelhof schlug ein Pfau sein Rad und blähten sich Puterhähne. Bruno lag, sich sonnend, auf den Stufen der Hintertür des Hauses, und damit das ländliche Idyll vollständig sei, schmiegte sich eine Katze von ungewöhnlicher Größe und Schönheit an die junge Herrin, die, in weißem Morgenkleide am Frühstückstische sitzend, heute fast mehr den Eindruck einer neu vermählten Hausfrau, als eines Mädchens machte. Sie war allein; denn die Tante und Amadeus hatten den Morgenimbiß schon beendigt und befanden sich in der Nähe auf einem kleinen Rundgange, um in dem ausgedehnten Gute gleichsam wieder neuerdings Besitz zu ergreifen von allen den traulichen Plätzchen, die ihnen von früheren Jahren her lieb waren.
»Es freut mich, daß Sie unter unserem Dache gut geschlafen haben,« sagte das junge Mädchen, indem es dem Hauslehrer zum ersten Male nicht ein spöttisches, sondern nur ein schalkhaftes Lächeln zeigte, das dem lieblichen, aber oft so strengen Antlitz plötzlich allen Zauber holder Weiblichkeit verlieh. Dazu sah sie ihn unbefangen mit hellen Augen an, die so frisch waren wie der Frühlingsmorgen, der um die beiden herum duftete und funkelte.
Ihm war es bei diesem Gruß und während er sich der jungen Patrizierin gegenübersetzte, zumute, als sei eben jetzt erst die Schöpfung aus Gottes Hand hervorgegangen und die zwei ersten Menschen atmeten die noch unentweihten Lüfte des Paradieses. Mag immerhin die Blume um Mittag von der Sonnenglut getroffen werden und abends hinsinken verdorrt, Staub zu Staub, sie hat doch diesen Tropfen Himmelstau am Morgen in ihrem Kelch getragen und in sich hineingesogen. Was immer die Zukunft aufbehalten mochte, diesen Morgen konnte keine Gewalt seinem Herzen mehr rauben. Das fühlte er, und in der Seligkeit dieses Gefühls erwiderte er mit warmem Blick die Sprache der kleinen unschuldig neckenden Geisterchen, die in den klaren Augen Dougaldinens wie Fische in einem Teiche spielend an die Oberfläche traten.
Das, was in solchem Falle von den Lippen tönt, wie unbedeutend ist es im Vergleich zu der seelischen Berührung, die auf andere Weise sich herstellt! Jenes Wort eines tiefsinnigen französischen Psychologen, daß zwischen Mann und Weib es vielleicht nichts Wahres und Aufrichtiges gibt als die Gefühle, welche das Wort niemals ausdrückt, – wie bewährte es sich auch hier zutreffend!
Die beiden sprachen von den einfachsten zunächstliegenden Dingen, von der frühen Abreise des Vaters Dougaldinens, von dem Werte des Frühaufstehens auf dem Lande, von der so ungewöhnlich milden Temperatur des Frühlingsmorgens und von der Freude, mit der Amadeus sich den Herrlichkeiten des Landlebens hingab; aber durch alle diese Reden zog ein ahnendes Grüßen zweier sich suchender und doch auch wieder scheu sich meidender Seelen. Die Worte ihres Duetts hatten nur den gewöhnlichen Inhalt einer artig geführten Unterhaltung, die Melodie lag in einem verborgenen Orchester und war eine süße Weise.
Die Rückkehr Fräulein Marthas und des Knaben brach den Zauber dieser Morgenstunde. Amadeus wollte sogleich, nachdem er den Lehrer begrüßt, seine Bücher hierher holen; doch hielt ihn Dr. Almeneuer zurück. »Bücher?« sagte er. »In diesen Frühlingstagen gilt es nur das Eine Buch zu lesen, das unterm blauen Himmel weit aufgeschlagen liegt.« Verwundert sah ihn der Knabe aus großen Augen an. »Sieh,« sagte der junge Mann, »im Winter, da ist dies Buch eine große weiße Fläche, unbeschrieben. Aber um diese Zeit des Jahres, und in keiner spätern mehr so reich und so schön, da bedecken sich die Blätter des Buches mit Buchstaben und nicht mit dunkeln schwarzen Lettern, nein, mit einer Schrift, die in allen Farben prangt.« »Die Blumen! die Blumen! ich verstehe!« rief Amadeus. »Ganz recht,« fuhr Dr. Almeneuer fort. »Die Blumen. Es wäre Sünde, um diese Jahreszeit eine andere Wissenschaft zu treiben, als Botanik.« »Und das Latein?« bemerkte fragend Dougaldine. »Das soll dabei nicht zu kurz kommen,« versicherte der Hauslehrer. »Diese Blumen alle führen ja neben dem schlichten deutschen Namen recht vornehme römische Titulaturen. Wenn Ihr Bruder mit Salvia pratensis, mit Campanula und Primula officinalis Bekanntschaft schließt, so wird das eben so gut und besser sein, als ob er nach veralteten Ablativen grübe. Also fürs erste keine Bücher, von Papier nichts anderes als graues Löschpapier, um eine flora lacuporticensis, – es klingt ein bißchen barbarisch – ich meine eine Pflanzensammlung des Landgutes ›Seeport‹ anzulegen.
Er verbeugte sich und ging mit seinem Zögling, der voll Begier nach der neuen Wissenschaft war. Den beiden nachblickend, sagte Fräulein Martha zu Dougaldinen: »Das ist wirklich ein prächtiger Mensch, dieser Hauslehrer unseres 'Deus.« Dougaldine gab keine Antwort, aber ein leichtes Rot flog über ihre Wangen und die verklärten Augen sahen ins Weite, während sie mit Verwunderung ihr Herz befragte, wie es gekommen sei, daß diese Morgenstunde ihr so friedliches Glück beschied, nachdem gestern die erste Begegnung mit dem neuen Hausgenossen nur tägliche versteckte Kämpfe, vielleicht offene Feindschaft erwarten ließ.
Ja! wie war es gekommen? Vielleicht wußten es die Bienen, die von ihren Stöcken in aneinander vorüberziehenden Heerhaufen ausschwärmten auf die sonnenbeglänzten Wiesen; vielleicht wußten es die von jungem Saft geschwellten hellgrünen Blätter des Buchenwaldes, der drüben vom Berge her grüßte, und jener kleine Zaunkönig, der im nahen Busch so übermütig sang von dem unnennbaren Glück, das der Frühling in die Herzen gießt. Aber, wenn sie es wußten, sie verrieten es dem Mädchen nicht. Und Dougaldine konnte nur staunen, unruhvoll staunen, daß die Dinge anders gehen wollten, als sich mit den Vorsätzen vertrug, die sie gestern noch neuerdings gefaßt hatte.
Indessen ganz so ungetrübt wie dieser erste paradiesische Morgen verflossen nun doch keineswegs die Tage den beiden jungen Gemütern, die durch einen mächtigen geheimen Zwang sich einander näherten. Den Momenten unbefangener Hingebung in Wort und Blicken folgten oft, als ob beide Teile von einer Art Reue über ihre Schwäche ergriffen würden, Ausbrüche einer plötzlichen Fehde. Der geringfügigste Anlaß, den etwa das Tischgespräch darbot, war alsdann hiezu willkommen, wie sich rebellische Völker auch aus den Gegenständen friedlicher Gewerbe scharfe Waffen schmieden können. Bald war auch ein besonderes Schlachtfeld gefunden, auf dem Dougaldine und Dr. Almeneuer einander immer als Gegner trafen, und dieses suchten sie auf, sobald in ihnen das seltsame Bedürfnis entstund, einander zu reizen. Es war dies die Kontroverse über französische und deutsche Bildung.
Die junge Patrizierin war, gleich allen ihren Standesgenossen, im Geiste der französischen Kultur erzogen worden, was namentlich jetzt, wo sie ihre Lektüre frei wählen durfte, zur Folge hatte, daß sie ausschließlich französische Bücher las. Ein solches gab denn auch den Anlaß zum ersten Aufflammen des Krieges, der von nun an über diesen Gegenstand geführt wurde.
Es war an einem der ersten Tage, als Dougaldine im Kiosk am See unten lesend saß. Dr. Almeneuer kehrte mit Amadeus soeben von einer Kahnfahrt zurück, welche die beiden nach dem jenseitigen Ufer unternommen hatten, von wo sie aus einem der herrschaftlichen Gärten einige exotische Blüten mitbrachten, die durch ungewöhnlich prächtige Ausbildung aller innern Blütenteile dem Hauslehrer zur Erklärung der pflanzlichen Organe besonders geeignet schienen. Zufrieden mit ihrem kleinen Beutezug, befestigten sie die Schaluppe am Uferpflock und schlenderten am Kiosk vorbei, wo die Lesende sie absichtlich nicht zu bemerken schien. Hierdurch etwas gereizt, blieb der junge Mann vor der Ballustrade des geschmackvollen offenen Säulentempelchens stehen und sagte, indem er grüßte: »Ich fürchte, Fräulein, bei dem kleinen Format des Buches, das Sie in den Händen halten, daß Sie sich die Augen verderben werden.« Gern hätte er noch etwas von Zwielicht hinzugefügt; aber noch war die Sonne nicht untergegangen; der See, der Garten, die Berge – alles lag noch im Glanze der späten Nachmittagssonne da.
Die Patrizierin blickte auf, hielt Dr. Almeneuer das kleine Buch hin und sagte: »Da sehen Sie selbst, wie sehr Sie sich irren. So klein das Format ist, so wenig lassen doch die Lettern an Größe und Schärfe zu wünschen übrig.«
Es war ein Band von Alfred de Mussets Dramen, in wirklich prächtigen großen und deutlichen Lettern gedruckt.
Der Hauslehrer fühlte sich geschlagen. Aber um so schärfer erwiderte er: »Der Druck dieser französischen Bücher ist allerdings zuweilen bewundernswert und wäre eines bessern Inhalts würdig.«
»Ah!« bemerkte die Patrizierin, »Alfred de Musset ist Herrn Dr. Almeneuer nicht gut genug?«
Für Sie nicht gut genug – hätte er gern geantwortet; doch wagte er diese Erwiderung nicht. Er warf daher bloß die Worte hin: »Er ist so gut wie ungefähr alle die französischen Poeten sind, die man bei uns so außerordentlich überschätzt.«
»So mögen Sie wohl auch Viktor Hugo nicht?« fragte doch etwas frappiert das Mädchen.
»Von nicht mögen kann nicht die Rede sein gegenüber Talenten hohen Ranges, gegenüber Dichtern, die wenigstens in der Sprache eine Meisterschaft des Stils gezeigt haben, die ihnen die Achtung eines jeden sichern muß, der ihre Sprache liest. Aber, was mir leid tut, das ist diese ausschließliche Verehrung französischer Poeten, wo man deutsche Dichter hat, die, vielleicht nicht in sprachlicher Beziehung, – obwohl es auch solche gibt, – aber sicherlich an Tiefe des Gehaltes einen de Musset, einen Viktor Hugo übertreffen.«
»Das kann einem Deutschen leid tun,« sagte Dougaldine. »Aber in unserm Lande, wo die deutsche und die französische Sprache neben einander bestehen, da dürfte man doch jedem überlassen, wohin seine Neigung ihn zieht.«
»Ja, Fräulein, zehnmal ja!« antwortete etwas eifrig der junge Mann. »Ich überlasse es jedem, der sich wirklich auf beiden Gebieten umgesehen hat. Aber daß man einseitig die französische Bildung annimmt, ungefähr wie die von den Vätern ererbte religiöse Konfession, daß man sich nicht einmal die Mühe gibt, die andere Literatur wenigstens zu kennen und dann erst zu urteilen, wo man mit Herz und Geist zu Hause sein will, das scheint mir nicht in Ordnung. Und machten sich solcher einseitiger Kultur des Französischen nur die von französischem Stamme entsprossenen Bürger des Landes schuldig, so wäre am Ende dagegen nicht viel zu sagen. Aber daß wir von deutschem Stamme, – Sie entschuldigen Fräulein, daß ich Sie mit einbegreife, – daß wir von deutschem Stamme die eigene Literatur zu Gunsten einer fremdsprachlichen stiefmütterlich behandeln, das ist doch gewiß unnatürlich.«
»Es tun es ja auch nicht alle, Sie zum Beispiel tun es offenbar nicht!« gab Dougaldine zur Antwort. »Was mich betrifft, so zieht mich das Saubere, Nette, Reinliche der französischen Sprache an. Können Sie das einem Mädchen übelnehmen?«
Sie sah in diesem Augenblicke, da sie für das Reine und Nette in der Sprache einstund, so reizend aus, die sorgsame Genauigkeit und duftende Sauberkeit ihres hellen Kleides, die Ordnung, zu der sie ihr reiches Blondhaar gezwungen hatte, so daß es in wohlgeflochtenen Knoten das schön geformte Haupt schmückte, hiezu das Leuchten der frischen, klaren Augen und ein Aufschimmern der blendend weißen Zähne in dem zu schalkhaftem Lächeln leicht verzogenen Munde – das alles wirkte mit so unmittelbarer Gewalt auf den mittlerweile an den Eingang des offenen Kiosks getretenen jungen Mann, daß er sich gestehen mußte, der Genius der Reinlichkeit dürfte nicht leicht eine edlere, schönere Verkörperung finden als in dieser Jungfrau.
Doch um so heftiger entbrannte in seinem Herzen ein Zorn, da sich plötzlich seinem Geiste darstellte, wie wenig dem reinen Stil französischer Dichter oft der Inhalt ihrer Werke entspreche und wie gar manchem dieser Schriftsteller allzuviel Ehre angetan werde, wenn eine unentweihte jungfräuliche Seele gleich einem ahnungslosen Falter um das trügerische Licht eines derartigen Poeten umherflattere.
Er war sonst kein pedantischer Moralist. Aber das französische Buch in der Hand dieses von ihm geliebten Mädchens machte ihn dazu. Und fast im Ton eines erzürnten Beichtvaters rief er aus: »Ja, sauber sind diese französischen Schriftsteller! Sauber wie die Sünde.«
Dougaldine errötete tief. Ein Groll stieg in ihr auf über die Anmaßung dieses jungen Mannes, der sich herausnahm, ihr anzudeuten, sie lese Bücher, die ihr nicht geziemten. »Ich glaube, Amadeus hat eine Entdeckung gemacht,« sagte sie, indem sie auf den in einiger Entfernung sehr aufmerksam einen Strauch untersuchenden Bruder deutete, »... eine Entdeckung, die vielleicht ebensoviel wert ist, als was Sie in meinem Buche entdecken wollen.« Sie sprach diese Worte in gereiztem Tone und begleitete sie mit einer so entschiedenen – man möchte fast sagen – königlichen Handbewegung, daß der Hauslehrer wohl einsah, sie verbitte sich momentan jede Fortsetzung des Gespräches. Er verbeugte sich und verließ den Kiosk, um bald nachher mit Amadeus im Innern des Landhauses zu verschwinden.
Diesem Zusammenprall der Ansichten folgten ähnliche Wortgefechte über denselben Gegenstand bei jedem Anlasse. Das Lokalblatt der Stadt wurde Dougaldine täglich von ihrem Vater zugesendet; es enthielt eines Morgens die Anzeige, daß eine französische Theatergesellschaft Ohnets »Hüttenbesitzer« im Stadttheater aufführen werde, woselbst in der Wintersaison deutsche Schauspieler zu spielen pflegten; jetzt, da das Sommerhalbjahr begonnen hatte, stund das Theater leer und konnte eben deshalb einer zufällig durchreisenden französischen Truppe überlassen werden. Dougaldine, indem sie beim Frühstückstisch das Blatt ihrer Tante zuschob, nachdem sie einen flüchtigen Blick in den Anzeigenteil geworfen, äußerte ihr Bedauern, von der Stadt gerade jetzt abwesend zu sein.
»Ich zweifle nicht,« nahm Dr. Almeneuer das Wort, »daß trotz den sehr erhöhten Preisen die Gesellschaft vor vollem Hause spielen wird.«
»Und das scheinen Sie fast zu bedauern?« bemerkte Dougaldine, die einem sich vorbereitenden Scharmützel nicht ausweichen wollte.
»Ja und nein!« erwiderte der Hauslehrer. »Ich bin selbst für die französischen Schauspieler sehr eingenommen …«
»Hört! hört!« rief Dougaldine.
»Ja, mein Fräulein,« fuhr Dr. Almeneuer fort. »Wir Männer sind so objektiv, daß wir das Gute auch da können gelten lassen, wo wir es mit viel Schlechtem in inniger Gemeinschaft erblicken. Die französischen Bühnenkünstler sind ohne Frage – so weit ich's verstehe – den deutschen weit überlegen und zwar sowohl im Konversationsstück, wie in der Tragödie höhern Stils. Im erstern ist es der ruhigere, natürlichere, dem feinen Gesellschaftsleben besser entsprechende Ton, der sie vor deutschen Schauspielern auszeichnet. So ein deutscher Hansnarr, – Sie sehen, ich kann auch streng sein, – der spricht selbst die einfachen Worte: ›Belieben Sie Platz zu nehmen‹ oder ›Wollen Sie mir dieses Glas reichen‹ im Ton eines der Schattenrichter im Hades und rollt dazu die Augen wie der Uhu in der Wolfsschlucht; hätte er Federn, er würde damit ein Rad schlagen wie der Truthahn auf dem Hofe dort. Dann, in der Tragödie, da treffen die Franzosen es wieder dadurch besser, daß sie dem Realismus einigermaßen Zügel anlegen. Sie sind Liebhaber schöner Verse, sie wissen und fühlen, daß ein Drama zunächst ein literarisch wertvolles Werk ist und daher rezitieren sie auch im Affekt niemals so sinnlos wütend, wie es die Deutschen und – nebenbei bemerkt – teilweise auch die Engländer machen, wo ganze Kolonnen der schönsten Verse wie ein explodierendes Feuerwerk auf einmal mit einem Knall in die Luft fahren, so daß man nichts von den schönen Linien mehr bemerkt, die bei verständigem Abbrennen des Feuerwerkes sich unserm Auge in allen Farben würden gezeigt haben.«
»Sie müssen offenbar heute hineinfahren in die Stadt, Herr Doktor, da Sie mit Ihrer Schwärmerei für die Franzosen mich noch weit übertreffen.«
»Gott behüte mich davor, Fräulein,« sagte der junge Mann. »Die Kehrseite der Münze kommt jetzt: diese selben Franzosen, deren Schauspielkunst ich so sehr bewundere, welchen Unrat haben sie auf die Bühne gebracht! Ist denn in diesen Stücken des jüngeren Dumas, auch in den meisten von Sardou, ein einziger gesunder Faden? Ich hoffe, Fräulein, daß Sie dieselben gar nicht kennen, da ich sonst davon überhaupt schweigen müßte.«
»Ich … ich kenne sie wirklich nicht … nicht recht,« bemerkte stockend und leicht errötend Dougaldine.
»Nun, dieser ›Hüttenbesitzer‹,« fuhr der junge Mann fort. »Wie ist hier alles auf Schrauben gestellt und voll Unnatur und Häßlichkeit! Nehmen Sie nur das Eine, daß ein junges Mädchen sich einem Manne, den sie nicht liebt, zu eigen gibt, bloß, weil derselbe ihr seine Hand anbietet in dem Augenblicke, da ihr bisheriger Bräutigam, ein Graf, die Verbindung löst, nachdem er vernommen hat, seine Braut sei infolge eines Prozesses, den die Familie verloren, plötzlich ganz arm geworden. Kann sich ein anständiger Mann unter den Zuschauern für ein Mädchen noch länger interessieren, das lediglich aus verletzter Eitelkeit die Braut eines Ehrenmannes wird, den sie also gleich von Anfang an betrügt, indem sie ihm die Hand ohne das Herz überläßt? Von jener häßlichen Szene dann am Abende der Trauung will ich nicht reden! Wie roh müssen die Zuhörer sein, die es vertragen, daß ihnen eine solche frivole Mischung von Sinnlichkeit und Sentimentalität unter dem Vorwand von dramatischer Kunst aufgetischt wird!«
»So roh – wie Sie es unartig zu nennen belieben – so roh sind in unserer Stadt die allervortrefflichsten Leute aus den besten Ständen, die Ihre Achtung verdienen, Herr Doktor,« erwiderte mit zornsprühenden Blicken die junge Patrizierin. »Was mich betrifft,« fuhr sie fort, »so kenne ich allerdings nur den Roman von Ohnet, noch nicht die dramatische Bearbeitung. Aber ich glaube, ich würde das alles, was Sie da tadeln, bei einer Aufführung nicht empfunden haben und bin also ebenfalls – so roh!«
»Ich bin zu weit gegangen,« erwiderte Dr. Almeneuer, indem er Dougaldine, die sich erheben wollte, durch einen Blick bat, noch zu verweilen und das Gespräch nicht in diese Dissonanz ausklingen zu lassen. »Ich hätte statt ›roh‹ sagen müssen: ›wie wenig kritisch veranlagt‹ sind solche Zuhörer. Das ist es am Ende! Man denkt nicht genug nach bei dem, was uns einmal mit einer gewissen Autorität geboten wird. Ohnet ist ein Name. Die bloße Tatsache, daß ein Stück auf vielen Theatern gespielt wird, ist ein mächtiger Umstand. Auch die Anwesenheit so vieler vortrefflicher Mitbürger im Theater, so vieler, wie ich zugebe, achtungswerter Personen, die zugleich mit uns in gespannter Aufmerksamkeit dem Gang eines Stückes folgen, lullt unsern kritischen Verstand ein. Was alle Welt erträglich und annehmbar findet, warum sollten wir es allein verurteilen? Aber mit alle dem wird die Sache selbst nicht besser gemacht. Dieses Stück ist doch ein brutales Stück. Eines aber will ich nun Ihnen, verehrtes Fräulein, zugeben: die Franzosen, die solche Stücke schreiben, würden eben diese Stücke doch niemals aus einem fremden Theater in ihr eigenes hinüberpflanzen. Zu einer solchen Verachtung der eigenen nationalen Kunst braucht es – Deutsche. Und in Frankreich existiert über dergleichen häßlichen Werken einer angeblich naturwahren Kunst noch eine ideale Pflege des echt poetischen Dramas, von der wir nur zu wenig Notiz nehmen. Ich habe noch letzten Winter von Aufführungen in Paris gelesen, wo das Publikum aufs höchste entzückt war über den Schwung lyrisch schöner Stellen in modernen Versdramen und wo niemand daran Anstoß nahm, daß der Dichter es wagte, sogar griechische Gottheiten oder in einem andern Stücke antike Philosophen auftreten zu lassen, während in Deutschland die edelsten Perlen der dramatischen Literatur unbeachtet liegen bleiben, sobald der unglückliche Dichter seine Phantasie in entlegenen Zeiten spazieren gehen ließ. Auf den Bühnen Berlins wurden zufälliger Weise am Tage der Sedan-Feier überall nur französische Stücke gegeben und ebenso bringt der Theaterzettel des berühmten Burgtheaters in Wien vorherrschend Sardou, Dumas, Ihren Ohnet und den etwas bessern Augier. Die Dramatiker Deutschlands aber werden in allen Blättern mit Hohn und Spott übergossen, weil sie, angeblich, nur Buchdramen schreiben, das heißt, weil sie poetische Werke von literarischem Werte hervorbringen, die ihnen, hätten sie als Franzosen dieselben französisch geschrieben, in Frankreich zur größten Ehre gereichen würden.«
»Gibt es denn wirklich gute deutsche Stücke?« fragte etwas naiv Dougaldine.
»Mein Fräulein,« erwiderte Dr. Almeneuer, »ich will von den gegenwärtig lebenden deutschen Dichtern schweigen, weil das Urteil über Zeitgenossen häufig der Gefahr der Überschätzung oder der Unterschätzung ausgesetzt ist. Aber wenn ich allein nehme, was die Zeit nach Goethe und Schiller mit Werken von Kleist, von Grillparzer, von Grabbe, Immermann hervorgebracht hat, wenn ich an Stücke wie der ›der Erbförster‹ von Otto Ludwig denke und an so viele andere, von denen kaum jemand in Deutschland ernstlich Notiz nimmt, dann muß ich die Deutschen schwer anklagen der Nichtachtung ihrer eigenen vortrefflichen Literatur und der gedankenlosen Anbetung des Fremdartigen, auch einer Verwilderung des Sinnes für echte Poesie. Man beklagt auch ganz offen in deutschen Literaturgeschichten, daß Goethe und Schiller der kraftgenialen Prosa ihrer Jugendwerke später untreu wurden und zu Dichtungen harmonischer Schönheit der Verse fortschritten.«
»So wäre das Fazit unserer Unterredung,« sagte Dougaldine, indem sie sich jetzt beruhigt erhob und dem jungen Manne freundlich zulächelte, »daß die Franzosen zwar teilweise recht schlechte frivole Ware auf den Markt bringen, daß sie aber doch das poetischer empfindende, geschmackvollere Volk sind als die Deutschen, die zwar sehr gute Dichter haben, aber ihre eigene Poesie tatsächlich vernachlässigen.«
»›Wie bündig schließt der Mann!‹ heißt es in einem Grillparzer'schen Drama,« erwiderte, ebenfalls sich erhebend und ihr das Lächeln zurückgebend, Dr. Almeneuer. »Aber auch die Frau schließt bündig, wie Sie mir bewiesen haben. Ich habe das Glück, zu bestätigen, daß wir in diesem Schlusse übereinstimmen.«
»Wenn Sie das glücklich macht,« sagte Dougaldine, »nun, so tragen Sie auch zu meinem Glücke oder wenigstens zu meiner Belehrung ein wenig bei und leihen mir auf einige Zeit, – falls Ihnen ein solches Buch überhaupt hier zur Hand ist – eine Geschichte der deutschen Literatur, nach der Sie mich nun wirklich neugierig gemacht haben.«
Ein wahres Freudenfeuer entzündete sich im Antlitz des jungen Mannes bei diesen Worten des lieblichen Mädchens. »Ihr Wunsch soll augenblicklich erfüllt werden,« rief er. »Ich habe Wilhelm Scherers vortreffliches Buch mitgenommen.«
»Aber dann brauchen Sie es selbst,« bemerkte, schon etwas auf den Rückzug bedacht, Dougaldine, die sich im stillen fragte, ob sie nicht ein zu großes Zugeständnis gemacht habe.
»Gewiß nicht!« versicherte eifrig der junge Gelehrte. »Das Buch ist mir nur so lieb, daß ich es nicht einsam wollte auf dem Büchergestell in der Stadt zurücklassen; wie einen Freund habe ich es mitgenommen; aber ich kenne es ja durch und durch. Es ist das beste seiner Art. Und sollte ich je darin etwas nachschlagen müssen, so würde ich wissen, wo ich darum bitten darf.«
Er holte das Werk und bald kam dasselbe nicht mehr von der Seite Dougaldinens, wenn sie hier oder dort im Park oder auch auf ihrem Zimmer bei einer kleinen Stickarbeit saß, die ihr eigentlich nur jenen Vorwand zum Lesen lieferte, den häuslich geartete junge Mädchen zu brauchen scheinen, um sich einem Buche hinzugeben. Auch dauerte es nicht lange, so kamen mit der Post Bücher an, welche Dougaldine sich bestellt hatte. Denn sie wollte nicht bloß über die Werke der Dichter Urteile in sich aufnehmen, sondern diese Werke selbst lesen. Ihre bisherige Unwissenheit auf diesem Gebiete wurde ihr bald eine Quelle höchsten Genusses. Von Lessings »Nathan« und »Emilie Galotti« hatte sie bis dahin wohl reden hören, aber niemals geahnt, welche Schätze diese Werke bargen. Und nun gar Goethes »Tasso«. Diese Dichtung erfüllte sie nicht bloß mit Bewunderung der Entwicklung feinster seelischer Zustände der Menschennatur und mit Wohlgefallen an dem Goldgehalt der darin in harmonievollen Versen zutage tretenden Lebensweisheit; nein! bald las sie dieselbe in dem Gefühl, daß hier Zustände geschildert wurden, die ihren eigenen analog seien. War nicht auch »Seeport« ein »Belriguardo«, auf das jene Verse paßten:
»... schon erquickt uns wieder
Das Rauschen dieser Brunnen, schwankend wiegen
Im Morgenwinde sich die jungen Zweige.
Die Blumen von den Beeten schauen uns
Mit ihren Kinderaugen freundlich an,
Der Gärtner deckt getrost das Winterhaus
Schon der Zitronen und Orangen ab.
Der blaue Himmel ruhet über uns,
Und an dem Horizonte löst der Schnee
Der fernen Berge sich in leisen Duft.«
Doch das war nur im Äußerlichen Übereinstimmung. Eine andere, tiefere, die sie sich nur zögernd gestand, machte Dougaldine ausfindig, als sie die Beziehungen der Prinzessin zu Tasso in ihrem Herzen nachzuempfinden glaubte. War da nicht Neigung, Liebe, aber getrennt durch unüberschreitbare Schranken? Ein ewiges sich Suchen und dann wieder scheues sich Zurückziehen zweier Seelen? Sie war davon so ergriffen, daß sie manche Stellen der Dichtungen sich abschrieb, z. B. jenes Wort der Prinzessin:
»Ach! daß wir doch dem reinen stillen Wink
Des Herzens nachzugehn so sehr verlernen!
Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust,
Ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an,
Was zu ergreifen ist und was zu fliehn.«
Der junge Gelehrte hier in »Seeport« war freilich nicht Tasso; aber wenn ihm zum Dichter hohen Fluges manches abging, so war er dafür auch nicht nur Tasso, sondern ein Stück Antonio dazu. Er übertraf jenen träumenden Poeten an Sinn für die praktischen Aufgaben des Lebens, ohne deshalb jenen Idealismus vermissen zu lassen, der den Dichter ausmacht, auch wenn derjenige, der solche Gesinnung hegt, zufälligerweise keine Verse schreibt.
Das Ende des Dramas füllte die schönen Augen Dougaldinens mit Tränen und ihr Herz mit der Ahnung, daß wenn in dieser Dichtung vorbildlich enthalten sei, was sie selbst innerlich erlebe, auch der Ausgang dieses Erlebnisses nicht ein anderer sein könne als der im Drama. Nach solcher Erkenntnis raffte sie sich auf, machte sich stark in ihrem Herzen, ließ tagelang die gefährlichen Bücher liegen und nahm sich der Hausgeschäfte an, als ob der dienenden Leute zu wenige wären und der Hilfe der Herrin nicht entbehren könnten. Wachsam über jede Miene ihres Antlitzes, zeigte sie sich dann im Verkehr mit dem Hauslehrer frostig, zurückhaltender als je und betrübte ihn durch scheinbare Nichtbeachtung seiner Gegenwart. Dann aber schmolz das Eis wieder; sie kehrte zu der eben erst beendigten Dichtung zurück und las sie wieder – das Ende aber nicht.
Der junge Mann, seit er wußte, daß sie auf seine Anregung hin sich dem Zauber deutscher Poesie gefangen gab, war von tiefem Glücksgefühl durchdrungen, das nur durch jenen eben erwähnten gelegentlichen Stimmungswechsel Dougaldinens zuweilen eine Störung erfuhr. Aber an den meisten Tagen sah er, wie sie jene Bücher las, die er ihr nahe gebracht hatte, und ihm war zumute, als ob sie ihm selbst in solchen Augenblicken sich hingebe. Die hohen Geister der deutschen Literatur warben für ihn – das fühlte er. Dieses Mädchen, dessen klare Denkkraft er bewundern mußte, erhielt nun für die hohen Fähigkeiten ihres wohl organisierten Geistes endlich auch den schönsten, den besten Inhalt, der eine ganze Neugestaltung ihrer Seele zur Folge haben mußte. Und wenn sie diese Wandlung als eine innere Bereicherung, als den Gewinn eines unendlichen Schatzes an Schönheit und Weisheit empfand, war es dann nicht natürlich, daß sie zuletzt ihr Herz dem Manne schenkte, der ihr dies alles gegeben hatte?
So waren nun bereits mehrere Wochen auf dem Landgute verstrichen und selten war das Stilleben der glücklichen Bewohner desselben durch anderes unterbrochen worden, als durch die Besuche Herrn Finingers, der häufig telegraphisch seinen Wagen an die Station im Städtchen bestellte und gegen Abend auf Seeport anlangte, wo er in der Regel nur die Nacht zubrachte, ausgenommen die Sonnabende und Sonntage, die er ganz dem behaglichen Genusse des Lebens in der Nähe seiner Lieben widmete. Diese Besuche waren nicht nur seinen Nächsten, sie waren auch dem Doktor angenehm, indem die Gegenwart des unbefangenen heitern Vaters Dougaldinens dem Zusammenleben immer eine größere Vertraulichkeit gab, als sie möglich war, wenn der Hauslehrer, als einziger Herr, mit den Damen und seinem Zögling allein bei Tische saß.
Nach einem dieser sonntäglichen Besuche des Vaters war es, daß nach beendigter Mittagstafel der Hauslehrer sich unvermutet an die junge Patrizierin wandte mit den Worten: »Nun hatte ich mir die letzten Tage her immer vorgesagt, daß ich an Ihren Herrn Vater eine Bitte zu richten habe. Und richtig habe ich es vergessen, so lange er da war, so daß ich nun an Sie mich wenden muß.«
»Und was könnte das sein?« sagte Dougaldine, indem sie ein wenig Unruhe im Blick verriet.
»Die Bitte um einen kurzen Urlaub auf etwa zwei Tage. Ich möchte meinen Vater besuchen, da ich schon seit mehreren Wochen hier in der Nähe meines Heimatdorfes lebe. Dasselbe ist für einen rüstigen Fußgänger kaum sieben Wegstunden von hier gelegen.«
»Aber, Herr Doktor,« erwiderte Dougaldine, »wie können Sie nur auf den Einfall kommen, sich erst zu erbitten, was Ihnen selbstverständlich zusteht?«
»Entschuldigen Sie, ich bin jetzt ein Angestellter Ihres Herrn Vaters und meine Zeit gehört ihm; in seiner Abwesenheit aber sind Sie meine … Gebieterin.«
Dies Wort ›Gebieterin‹, das Liebende so gern zuweilen von der Dame ihres Herzens anwenden, hatte auch hier, im Munde des jungen Mannes einen eigentümlichen, von einem nur halb unterdrückten Gefühl leise zitternden Klang, so daß Dougaldine der persönlichen Huldigung wohl inne ward, die damit sollte ausgesprochen werden. Ehe sie jedoch etwas antworten konnte, rief Amadeus, der bei den Worten seines Lehrers hoch aufgehorcht hatte: »O! Dougaldine! Erlaubst du mir, daß ich den Herrn Doktor begleite? Das wäre mein größtes Glück!«
»Wie kann ich so etwas erlauben?« antwortete Dougaldine. »Ich ahne gar nicht, ob deine Begleitung deinem Herrn Lehrer willkommen wäre. Darüber kann er nur selbst entscheiden.«
»Wenn es darauf ankommt,« sagte der junge Mann, »so ist der Wunsch Ihres Bruders erfüllt. Ich dachte sogar daran, von mir aus diese weitere Bitte um seine Begleitung beizufügen. Eine solche Tour ins Gebirg wird ihm so gut tun wie mir.«
»Also abgemacht,« sagte Dougaldine. »Und wann wollen Sie reisen?«
»Das Wetter ist augenblicklich das günstigste,« erwiderte der Hauslehrer. »Der gestrige Frühlingsregen hat auf der Landstraße allen Staub gedämpft. Er wird auch oben in unsern Bergen den letzten Rest von Schnee, der an den Abhängen über dem Dorfe lag, getilgt haben, so daß wir, ohne uns arger Nässe auszusetzen, nach frühen Alpenblumen eine kleine Seitentour machen können, vielleicht sogar durch die Bachschlucht hinauf in jenes wundersame verlassene Tal, wo noch einzelne verfallene Hütten verkünden, daß es früher bewohnt war, bis die häufigen Lawinen und Bergstürze die Bewohner bewogen, gesichertere Gegenden aufzusuchen.«
»Aber daß Sie nicht selbst unter eine solche Lawine geraten,« sagte Dougaldine, und ihr Antlitz erbleichte infolge der Erregung ihrer Seele; dann plötzlich glühte es, da sie glaubte, durch dieses Wort zu viel Anteil an dem jungen Manne verraten zu haben, und rasch streckte sie die Hand nach ihrem Bruder aus, zog ihn an sich und sprach: »'Deus ist der Berge noch nicht so gewohnt wie Sie, Herr Doktor. Nicht wahr, daran werden Sie denken, wenn er sie begleitet? Und wirklich, in jenes Tal nehmen Sie ihn lieber nicht mit. Denn, wenn es überhaupt ein Lawinental ist, so muß jetzt im Spätfrühling, bei dieser Wärme, die Gefahr am größten sein.«
»Seien Sie ohne Sorge für das Wohl Ihres Bruders,« antwortete Dr. Almeneuer. »Ich verbürge mich für ihn in jeder Beziehung. Und was jenes Tal betrifft, nun, das werden wir vielleicht bloß von der Höhe des Passes ansehen, der rechts über der Schlucht am hohen Berge sich hinzieht. Dort überall bin ich zu Hause und habe, da ich jünger war als jetzt Amadeus, manchmal meine paar Ziegen auch schon im Frühling in jenes Lawinental getrieben.«
»Noch eines,« nahm Dougaldine nach kurzer Pause des Nachdenkens das Wort. »Sie wollen zu Fuß gehen, gut. Aber das sollten Sie doch erst von da an, wo die eigentliche Steigung nach Ihrem Dorfe zu beginnt. Warum die endlos lange, gerade Straße bis in den Winkel des Haupttales zu Fuß begehen, wenn es doch für unsere Pferde das Beste ist, täglich hinauszukommen. Johann soll Sie beide im Wagen morgen die paar ersten Stunden führen. So sind Sie auch viel frischer für das Wandern in den Bergen.«
»Ja! ja! das ist prächtig!« jubelte Amadeus, und auch Dr. Almeneuer, der das Verständige dieses Vorschlages einsah und das Liebenswürdige des Anerbietens zu schätzen wußte, verbeugte sich dankend und nahm ihn an.
Der Nachmittag ging unter allerlei Vorbereitungen zu der kleinen Reise hin. Eine größere Jagdtasche, die im Gewehrschrank Herrn Finingers hing, wurde für Herrn Almeneuer hervorgeholt; Amadeus steckte in seine kleine Botanisierbüchse, was er mitnehmen wollte, und legte auch das in einer Lederscheide steckende breite Pflanzenmesser zurecht, das er an einem Gurt sich um den Leib schnallen wollte; es kam ihm vor wie ein kurzes römisches Schwert. Beim Abendessen herrschte eine heitere Reisestimmung und namentlich der Knabe plauderte, was sein junges, durch die Aussicht auf diese Wanderung freudig erregtes Herz ihm eingab. Nur Dougaldine wurde allmählich stiller und stiller und endlich fühlte auch der junge Mann sich von einem eigentümlichen Gefühl bedrückt, das er nicht recht zu deuten wußte; doch war es wie eine Ahnung, als ob diese so kurze Reise eine Änderung in seinen bisherigen Beziehungen zu Dougaldinen einleiten, als ob er vielleicht nach der Rückkehr nicht mehr alles so finden sollte, wie er es verlassen. Als er bald nach beendigter Abendmahlzeit sich erhob, um sich auf sein Zimmer zurückzuziehen, stund auch Dougaldine auf und zum ersten Mal bot sie unaufgefordert dem jungen Manne die feine schmale Hand zum Abschied. »Glück auf die Fahrt,« sagte sie, indem sie zu lächeln sich bemühte, »und bringen Sie sich und den Bruder gesund wieder.« Die Rechte des jungen Mannes zitterte, als er die Hand des jungen Mädchens in die seine schloß. Er sagte nichts; nur ein leiser Druck der Finger und ein langer Blick war sein Abschiedsgruß.
Am nächsten Morgen, als erst die Spitzen der Berge im Frühlicht erglühten, fuhr der zweispännige Wagen schon im Hofe vor und wenige Minuten später nahmen der Hauslehrer und sein Zögling darin Platz. Wider Erwarten – nach dem gestrigen Abschiede – war trotz der frühen Stunde Dougaldine in ihrem duftigen Morgenkleide erschienen. »Ich mußte doch nachsehen, ob Sie ein ordentliches Frühstück bekommen würden,« sagte sie gleichsam zur Entschuldigung, als sie in das Zimmer trat. Dann machte sie sich mit dem Bruder zu tun, strich ihm noch ein Butterbrot, das sie ihm in den Wagen hineinreichte, und fragte den Doktor mit einem liebenswürdigen Lächeln im blassen Antlitz, ob sie ihm vielleicht ebenfalls eines streichen dürfe. Er bat sie, sich nicht länger der kühlen Morgenluft auszusetzen, und dankte in herzlichen Worten für ihre Fürsorge. Dann setzte er sich zu seinem Zögling, Dougaldine trat zurück und die Pferde zogen an, während Dr. Almeneuer und Amadeus die Hüte schwenkten zum Abschiedsgruße. Der von niemand eingeladene Hühnerhund Bruno lief freudig bellend den Rossen voran und hielt es für selbstverständlich, daß er seinen jungen Herrn begleiten dürfe.
Bald lag das Landhaus mit seinen von Frühtau benetzten Baumgärten in der Tiefe hinter den Reisenden und der Wagen rollte auf der anfänglich nur sanft ansteigenden, wohlerhaltenen Straße dahin durch eine Landschaft, die nun, nachdem die Sonne über den nordöstlichen Bergesgipfel endlich Zutritt ins Tal gefunden hatte, in der energischen Lichtflut, die über die grünen Wiesenabhänge hinströmte, allen ihren Zauber entfaltete. Hoch oben auf Bergesmatten über Dörfern, aus deren Holzhäusern dünne Rauchsäulen kerzengerade in die klare Luft emporstiegen, funkelten die Sensen früher Mähder und warfen ihre Blitze weit hinab ins Tal. In der Tiefe, seewärts von der Straße, rauschte der Bergbach, oft mit Tosen über Felsen hinwegschäumend; von fernen Hügeln tönte das Jauchzen eines einsamen Sennen und von einem Kirchlein jenseits des Sees drang ein Läuten herüber, das durch die Morgenstille weithin vernehmbar wurde. Und in schweigsamer Majestät ragten über all dem Leben der Niederung die stolzen Gipfelriesen der Alpenwelt gen Himmel, von der Talschaft getrennt durch dazwischenlagernde, mit dunkler Tannenwaldung reich bestandene niedrigere Berge und durch schroffe Felsen, die gleich von der Natur getürmten Kastellen das Land zu bewachen, zu verteidigen schienen.
Nach einer dreistündigen Fahrt wurde ein großes Dorf erreicht, wo das Haupttal sich in zwei engere Seitentäler trennt; das linksseitige war dasjenige, in dessen oberstem Winkel die heimatliche Hütte Dr. Almeneuers lag. Der Wagen hielt vor dem stattlichen Gasthofe der Ortschaft, und den Pferden wurde Futter gereicht, ohne daß man sie ausspannte, da sie die beiden Reisenden noch bis an die eigentliche Steigung des Seitentales, etwa drei Viertelstunden weit führen und dann erst umkehren sollten. Der Hauslehrer und sein Zögling hatten den Wagen verlassen und sich auf eine Bank vor dem Wirtshause gesetzt, wo sie bald einem zweiten Frühstück mit dem Appetit zusprachen, den die scharfe Morgenluft geweckt hatte.
Vergnügt saßen sie da und betrachteten das freundliche und lebensvolle Bild, das um diese Stunde die Ortschaft gewährte; kleine Buben und Mädchen gingen zur Schule, eine junge Bäuerin fütterte, auf der untersten Türstufe eines ziervollen Holzhauses stehend, das sich begehrlich überstürzende Hühnervolk, der Postbote trug die paar Zeitungen und Briefe, die hier herauf gelangten, in die Häuser der Einwohner. Bauern und Bauernknechte kehrten von der ersten Früharbeit in den nassen Bergwiesen zurück und der Geruch von Mehlsuppe drang aus den offenen Türen mancher Häuser, während aus den Kaminöffnungen der mit großen Steinen beschwerten Schindeldächer der Rauch der Küche in die klare Morgenluft emporstieg.
Plötzlich hörte Dr. Almeneuer hinter sich, von der Stube im Erdgeschosse des Wirtshauses her, eine scharfe Männerstimme, die in ausländisch klingendem Deutsch einige nicht eben freundliche Bemerkungen über die zu hohe Wirtshausrechnung machte. Die Stimme kam dem jungen Manne bekannt vor, doch wußte er nicht sofort, wo er sie schon gehört hatte. Eine sanftere Stimme eines Knaben oder eines Weibes schien den Erzürnten beschwichtigen zu wollen, verstummte aber bald auf ein heftiges Wort des andern. Dann hörte man in der Mundart der Gegend eine brummige Stimme, die offenbar diejenige des Wirtes war. Dieses seltsame Terzett wurde für einen Augenblick zum Quartett, indem auch die schmucke Kellnerin, welche vorher Dr. Almeneuer und Amadeus bedient hatte, sich einmischte und natürlich ihren Herrn unterstützte. »Die reine Räuberhöhle,« sagte der Fremde. »Das hat mir noch niemals ein Gast gesagt«, entgegnete mit mühsam verhaltenem Zorn die tiefe Stimme und setzte hinzu: »Wenn Sie nicht bezahlen können, so müssen Sie eben nicht Forellen zum Nachtessen verlangen und nicht den teuersten Wein trinken.« »Ich verbitte mir Ihre Ratschläge«, rief mit Heftigkeit der Fremde. »Ich werde bezahlen, aber auch gehörigen Ortes mich beschweren. Da – da.« Nun hörten die vor dem Hause Sitzenden den Klang von Geldstücken auf dem Wirtstische und im nächsten Augenblick traten aus der Tür zwei Gestalten, ein hochgewachsener stolz um sich blickender Mann, mit dem Ränzel eines Fußreisenden auf dem Rücken, sonst aber in eleganter Kleidung, hinter ihm ein schmächtiger bartloser Jüngling von lieblichen, fast mädchenhaften Zügen, eine Erscheinung etwa wie jener Jüngling auf dem »Sposalizio« Raphaels, der mit elegischer Wehmut seinen Stab zerbricht und von dem die Rede geht, er sei das Selbstporträt des jugendlichen Raphael. Er trug keine Reisetasche; ein Havelock von leichtem Stoff verhüllte seine Gestalt. Auf dem von langen Locken umwallten Haupte saß ein weicher schwarzer Filzhut.
Auf den ersten Blick hatte Dr. Almeneuer den zuerst Heraustretenden erkannt. Das war jener herausfordernde Fremde, jener Heinz von Heinzenstorff, mit dem er an dem Souper bei Herrn Fininger das kleine Wortgefecht bestanden. Auch Amadeus, der ihn im Hause des Vaters schon gesehen hatte, erkannte ihn sofort, und der Knabe war es denn auch, der eine Begrüßung herbeiführte, die sonst wohl nicht erfolgt wäre. Denn in seinem Zorn über die vermeintlich zu hohe Gasthofrechnung wollte der Fremde schon mit großen Schritten vom Wirtshause sich entfernen, so daß sein jüngerer Begleiter ihm kaum zu folgen vermochte; dem Doktor aber wäre es nicht eingefallen, den ihm unsympathischen Mann zuerst anzureden und die Bekanntschaft zu erneuern. Amadeus jedoch, mit der Arglosigkeit der Jugend, rief in seiner guten Reiselaune dem schnell wieder Erkannten ein fröhliches »Guten Morgen, Herr von Heinzenstorff!« zu. Der Angerufene wandte sich um, sichtlich unangenehm überrascht, hier von jemand gekannt zu sein. Als er aber einen hurtigen Blick auf den Knaben und auf dessen Hauslehrer, sowie auf den mit dem Fininger'schen Wappen geschmückten Landauer geworfen hatte, gab er seinen martialischen Zügen plötzlich, wie der geübteste Schauspieler, den Ausdruck höchster Freundlichkeit und trat an den Tisch der beiden mit den Worten: »Ah! welche angenehme Überraschung! Der junge Herr von Fininger. Und der Herr Doktor! Auf einer Reise begriffen? Und wohin, wenn man fragen darf?«
Dr. Almeneuer grüßte mit kalter Höflichkeit und nannte das Reiseziel.
»Und sonst ist niemand von der verehrten Familie hier?« fragte Heinz von Heinzenstorff, indem er seine beerenschwarzen Augen unruhig umhergehen ließ.
»Wir sind allein,« erwiderte Dr. Almeneuer. Der Fremde konnte ein Aufatmen der Erleichterung nicht unterdrücken, sagte jedoch, gegen Amadeus gewandt: »Wie schade! Ich hätte so gern Ihren Herrn Papa und Ihre Fräulein Schwester begrüßt. Ich habe sie mehrere Wochen nicht mehr gesehen, was auch natürlich ist. Denn ich wohne jetzt in dem Städtchen unten am See.«
»Ah!« rief Amadeus, »also in nächster Nähe unseres Landgutes. Sie wußten wohl gar nicht, daß wir auf Seeport wohnen?«
»Das erste, was ich höre,« versicherte Heinz von Heinzenstorff. »Es ist mir sehr angenehm, das zu vernehmen. Ich werde nicht verfehlen, schon morgen dort meine Aufwartung zu machen. Denn ich bin auf der Rückreise. Habe eine kleine Tour gemacht mit einem jungen Studienfreunde aus der Heimat, dem ich die Berge ein wenig in der Nähe zeigen wollte. Jetzt geht's talabwärts. Schade, daß wir in entgegengesetzter Richtung reisen.«
Als Herr von Heinzenstorff seines Begleiters erwähnte, den er seinen Studienfreund nannte, warf Dr. Almeneuer einen Blick auf den zarten Jüngling, der nicht an den Tisch herangetreten war, sondern in einiger Entfernung von den Sprechenden wie träumend dastund. Die Augenlider waren niedergeschlagen, und ein leichtes Spazierstöcklein, das er in der Hand hielt, stocherte nervös an den Steinchen der Straße herum.
»Da könnten Sie eigentlich unsern Wagen zur Rückfahrt benützen«, sagte der kluge und artige Amadeus, der bei aller Jugend bereits ein Gefühl für höfliche Verpflichtungen hatte, wie sie dem Vornehmen zukommen gegenüber Personen, die seiner Familie vorgestellt und empfohlen sind. »Wir können ja schon von hier weg zu Fuß gehen; nicht wahr, Herr Doktor?«
Doktor Almeneuer stimmte ohne weiteres bei. Aber Herr von Heinzenstorff protestierte in einer Weise, welche bewies, daß er den Vorschlag nicht aus bloßer übertriebener Rücksicht nicht annehmen wollte. Er mochte irgend einen anderen Grund haben, die an sich sehr verlockende Fahrt in dem bequemen Finingerschen Wagen auszuschlagen. Jetzt schützte er vor, ihm und seinem Begleiter sei es aus Gesundheitsrücksichten notwendig, zu Fuß zu gehen.
»Aber es ist die gerade Landstraße, Herr von Heinzenstorff,« bemerkte Dr. Almeneuer, dem dieser Abschlag auffallend vorkam.
»Hier zu Lande und an solchem Frühlingsmorgen ist auch die gerade Landstraße ein hoher Genuß,« erwiderte der Fremde. »Und nun will ich aber auch den Weg sofort unter die Füße nehmen. Wir haben wirklich zu lang in den Morgen hinein geschlafen.«
»Wenn Sie es bereuen,« sagte der Knabe, indem er mit demselben schalkhaften Lächeln aufsah, das auch seiner Schwester eigentümlich war und ihrem Antlitz oft einen so anziehenden Reiz verlieh, »wenn Sie es bereuen, so brauchen Sie nur unterwegs ein wenig unter einem Baum zu rasten. Wir schicken den Wagen in einer Stunde spätestens zurück und da holt er sie noch ein, so daß Sie einsteigen können, wo es Ihnen beliebt.«
»Meinen verbindlichsten Dank und gute Reise!« brachte der Fremde mit schnarrender Stimme hervor. Dann machte er eine Verbeugung, wandte sich und ging raschen Schrittes mit seinem Begleiter, der aus der Ferne mit Abziehen des Hutes gegrüßt hatte, von dannen, ohne sich ein einziges Mal umzuwenden.
Wen er da bei sich haben mag? dachte Dr. Almeneuer. Und daß er uns seinen Begleiter nicht einmal ordentlich vorstellte.
»Wissen Sie, wer der jüngere Herr war?« fragte er die Kellnerin, die am offenen Fenster der Wirtsstube dem Gespräch zugehört hatte und jetzt aus dem Hausflur trat.
»Der jüngere Herr?« gab sie zurück, lachte kurz auf, wurde plötzlich sehr rot, schien etwas sagen zu wollen, fand sich aber wahrscheinlich zurückgehalten durch den Umstand, daß Dr. Almeneuer Herrn von Heinzenstorff zu kennen schien. »Nein, ich weiß es nicht, wer der jüngere Herr war,« sagte sie kurz und gab den letzten Worten einen eigentümlich wegwerfenden und zugleich spitzen Akzent. »O! jeh! diese Fremden!« setzte sie dann achselzuckend hinzu und trug die leeren Milchtassen, die vor dem Hauslehrer und seinem Zögling stunden, ins Haus zurück.
Inzwischen hatte der Kutscher den Pferden die Riemen wieder eingeschnallt und der Wagen stund bereit zur Weiterfahrt. Dr. Almeneuer bezahlte die Rechnung und machte dabei den Schluß, die Vorwürfe Herrn von Heinzenstorffs müßten sehr ungerecht gewesen sein, wenigstens, wenn der Wirt demselben nicht ganz ausnahmsweise hohe Ansätze gemacht hatte, was nun freilich der Fall sein konnte. Denn allerdings mußte hier zu Lande der Fremde nicht sowohl seine Ausländerschaft, wohl aber zuweilen ein gewisses hochfahrendes, gebieterisches Benehmen, das dem Wesen der sich als freie Bürger fühlenden Bewohner des Landes unangenehm ist, teuer bezahlen.
Die beiden fuhren eine halbe Stunde weit bis an eine Stelle, wo eine Holzbrücke über den schmalen, aber reißenden und von Frühlingsfluten hochangeschwollenen Bergbach führte. Dort stiegen sie aus, und um für ihre Rückreise nicht an eine bestimmte Zeit gebunden zu sein, sagten sie dem Kutscher, der sie andern Tages gegen Abend an dieser Stelle wieder erwarten wollte, er möge an Fräulein Dougaldine ausrichten, sie würden den ganzen Heimweg zu Fuß machen; sie möge daher den Wagen nicht schicken. Ein kleines Bauernmädchen stund bei der Holzbrücke und hielt einen aus Vergißmeinnicht geflochtenen zierlichen Kranz in Händen. Sie mochte den Wagen schon von weitem gesehen und aus der nahen Hütte oberhalb der Brücke mit dem Werk ihrer kleinen geschickten Finger herbeigeeilt sein, um dasselbe den Reisenden anzubieten. Wie gerne hätte Dr. Almeneuer Dougaldine diesen Blumengruß gesandt. Aber das ging doch nicht an. Wenn nur wenigstens Amadeus darauf verfiele! dachte er. Dem Knaben kam dies jedoch nicht zu Sinn. Ohne damit einen Auftrag zu verbinden, legte der Hauslehrer das Kränzlein auf die Polster des Wagens und drückte dem kleinen Mädchen ein Geldstück in die Hand. Dann kehrte der Wagen, nicht ohne Mühe, da die Straße ziemlich schmal war, und fuhr talabwärts, nachdem noch Amadeus dem Kutscher eingeschärft hatte, Herrn von Heinzenstorff und dessen Begleiter zur Fahrt aufzufordern, wenn er die beiden auf der Straße einholen werde. Daß ihm dies nicht gelang, indem Heinz von Heinzenstorff einen Fußweg ausfindig gemacht hatte, der sich, parallel mit der Landstraße, an den Hügeln rechtsseitig hinzog, dürfen wir schon jetzt mitteilen.
Für den Hauslehrer und seinen Zögling hatte nun der genußvollste Teil ihrer Wanderung begonnen, indem ihre Straße in mäßiger Steigung, meist in der Nähe des schäumenden Bergwassers sich haltend, sie durch eine waldreiche Landschaft allmählich der höchsten Talterrasse zuführte. Zu beiden Seiten des Weges lagen, in tiefgrünen Matten oder an Hügelrändern, die stilvoll schön gearbeiteten Holzhäuser, welche jener Gegend zu besonderem Schmucke gereichen. Herrliche Gruppen von Ahornbäumen wechselten mit den düstern, riesenhaften Tannen, und als sollte die Romantik einer Gegend, die schon durch die zackigen Felsen der nächsten Bergzüge und durch die glitzernden Firnen der Schnee- und Eisgipfel in einzigartig wilder Majestät sich zeigte, noch durch Erinnerungen an alte, halb sagenhafte Zeiten erhöht werden, grüßte von einem der näheren Hügel eine Burgruine herab, durch deren leere Fensterhöhlungen man den blauen Himmel oder den Silberblink eines fernen Gletschers gewahrte. Rechts in der Tiefe zog sich eine Zeit lang neben der Straße ein dunkler Tannenwald hin, der das holde Geheimnis eines kleinen Sees von wunderbar blauer Farbe einschloß. Hier hielten die Wanderer eine kurze Rast. Dann aber ging es die letzten steilen Windungen der Bergstraße empor und um die Mittagszeit endlich war der hochgelegene Talboden erreicht, wo, wie in einer natürlichen Arena, aber einer von Wiesensammet bedeckten, das Heimatdorf Dr. Almeneuers seine zerstreuten Häusergruppen zeigte. Hier schien die Welt ein Ende zu nehmen. Denn so dicht nebeneinander gerückt waren die hohen Berge für jedes Auge, das von hier aus den Talkessel betrachtete, daß nichts andeutete, ein Weg führe aus diesem stillen Grund nach andern Gegenden. Und doch ging gerade von hier aus ein im Sommer viel besuchter Saumpfad nach der Südseite des Alpenzuges.
Der ernste Charakter des Landschaftsbildes mit seinen mächtig getürmten felsigen Bergstöcken und den gigantischen Schneegipfeln tat auf den Knaben, der zum ersten Male so hoch hinauf ins Gebirg kam, tiefe Wirkung. Schweigend folgte er dem Hauslehrer, der nun von der Straße abbog und einer links an der Bergeshalde gelegenen Hütte zuschritt, vor welcher ein Mann mit dem Spalten zäher Fichtenklötze beschäftigt war. »Das ist mein Vater,« sagte Dr. Almeneuer, und verwundert heftete Amadeus die neugierigen Blicke auf die Gestalt, die jetzt, als die beiden am Gartenzaun anlangten und der Sohn den Vater anrief, sich von der Arbeit abwandte, die Augen mit der Hand gegen das Licht schützte und dann mit etwas hinkendem Gang den Ankömmlingen entgegenkam. »So! du bist's wieder einmal, Hans!« sagte der Alte, indem er dem Sohne die schwielige Rechte zum Gruß darbot. »'S ist recht, daß du nachschauen kommst, was wir da oben machen. Und da, was ist das für ein junger Herr? Aha! kann mir's denken. Das wird der Knab' sein von dem Stadtherrn, bei dem du dienst. Grüß Gott!« Damit reichte er auch dem Patriziersöhnchen die Hand. Amadeus gab sie, etwas befangen, indem er offenbar in seinem jungen Geiste beschäftigt war, den Gegensatz zu verarbeiten, der zwischen einem solchen Vater und einem solchen Sohne bestand. An Körpergestalt und in Gesichtszügen glich allerdings der Sohn seinem Vater; aber diese Ähnlichkeit hätte nur das geübte Auge eines Malers oder doch wenigstens eines reiferen Beobachters herausgefunden. Der Knabe hielt sich mehr an die äußerlichen Unterscheidungsmerkmale und da wollte es ihm gar nicht passen, daß der alte Mann mit dem grauen Stoppelbart im faltigen, lederartig gelben Antlitz und mit der schwarzen Zipfelmütze auf dem Kopf, der Mann in weiten Hosen von grobem Tuch und mit offenstehendem unsaubern Hemde, daß dieser eben den Schweiß mit dem Rücken der Hand sich abtrocknende Tagelöhner, – denn als solcher erschien er dem Knaben, – der Vater seines Hauslehrers sein sollte. Und nun die Worte des Alten! Auch Dr. Almeneuer war errötet, als der Vater in seiner Schlichtheit das Verhältnis des Sohnes zu dem Stadtherrn einfach als ein Dienstverhältnis bezeichnet hatte, und in diesem Augenblicke hatte er gewünscht, Amadeus, der gewiß alle seine Eindrücke zu Hause der Schwester wiedererzählen würde, möchte doch lieber nicht mitgekommen sein.
Diese Beklommenheit verminderte sich nicht, als der Alte die Ankömmlinge ins Haus hinein nötigte, wo es freilich in der Stube unordentlich genug aussah, indem das Schusterhandwerkszeug und Schuhe zum Flicken auf dem Bett, auf Stühlen und Tischen und auf dem Ofensitz umherlagen. »Ihr werdet noch nicht zu Mittag gegessen haben?« sagte der Vater. »Ich habe schon gegessen; aber da wäre noch Milch und Brot.« Und er holte einen Napf hervor und aus einem Schränklein einen halben Laib Schwarzbrot, woran der Hühnerhund Bruno alsobald begierig schnupperte.
»Im Gegenteil, Vater,« sagte Dr. Almeneuer, »möchte ich dich einladen, mit uns ins Wirtshaus hinunter zu kommen, wo wir logieren wollen. Du kannst schon noch einmal mit uns zu Mittag essen oder doch ein Glas Wein trinken. Zieh den Sonntagsrock an und komm' mit uns.«
»Auch recht,« erwiderte der Alte, und während die beiden aus der dumpfen Stube gern wieder in die frische Luft hinaustraten, schlüpfte er in etwas bessere Kleider.
»Gelt, mein Vater kommt dir sonderbar vor?« sagte draußen Dr. Almeneuer zu seinem Zögling. »Aber du mußt bedenken, daß er immer nur hier in diesem einsamen Bergdorfe gelebt hat. Und seit Jahren ist er nun ganz allein. Die Mutter ist schon lange tot. Dort drüben auf dem kleinen Friedhöfe vor dem Kirchlein liegt sie.«
Er kam sich schwach vor und unpädagogisch dazu, der junge Mann, als er so vor seinem Zögling den eigenen Vater gleichsam entschuldigte. Nur um Dougaldinens willen traten ihm solche Worte auf die Zunge.
Der Knabe blickte verlegen zur Seite und wußte nichts zu antworten. Dann trat der Vater aus der Hütte und sah nun in einem hellbraunen Rock, der komischer aber landesüblicher Weise den Zuschnitt eines echten Frackes hatte, schon wesentlich besser aus. Auch hatte er statt der Zipfelmütze einen alten Zylinderhut aufgesetzt und ging an einem Stocke. Sein gutmütiges Gesicht war heiter und ohne Spur irgendwelcher Befangenheit.
Diese verlor sich nach und nach auch bei dem Hauslehrer und dem Knaben. Denn auf dem Wege nach dem Wirtshause plauderte der Alte vergnügt und mit jenem gesunden Witz, der die Bewohner jener Gegend auszeichnet, von den überstandenen Witterungsmühsalen des letzten Winters, von einer Schullehrerin, die im Schnee war stecken geblieben, so daß man sie herausschaufeln mußte, von einem Jägersmann, der vor seinem einsamen Hause den Köder für Füchse mit einem Klingelzug in Verbindung gebracht, so daß ihm des Nachts die anbeißenden Füchse läuteten und er nur zum Fenster hinaus zu schießen brauchte, um seiner Beute gewiß zu sein. Amadeus horchte hoch auf bei solchen Geschichten und begann zu merken, daß auch unter dem Kittel von grobem Tuche ein frohes Herz schlagen könne, während ihm sonst Armut mit Unglück gleichbedeutend geschienen hatte. Was ihm dann aber wieder viel zu schaffen machte, das war das vertraute »Du«, mit dem jetzt im Wirtshause die Wirtsleute und zufällig anwesende Bauern und Bäuerinnen seinen Hauslehrer begrüßten. »So, Hans! bist auch wieder hiesig?« klang es von allen Seiten, und hier drängte sich ein junger Mann in blauer Bluse, dort eine dralle Dirne an den Doktor, und es war gerade, als ob sie alle seine Geschwister wären. Man ging auch nicht in die obere Stube hinauf, wo sonst in der Reisesaison Touristen zu speisen pflegten. In dieser frühen Jahreszeit war dies Zimmer im obern Stockwerk noch nicht eingerichtet und frostig. Hier, zu ebener Erde, in der gewöhnlichen Gaststube, spendete der mit der Küche in Verbindung stehende Ofen eine bei der hohen Lage des Gebirgsdorfes trotz dem sonnigen Wetter angenehme Wärme. Daher wurde hier das Essen aufgetragen, ein einfaches Mahl, dem der gute Wein, von jenseits der Berge bezogen, wesentlich aufhalf. Der alte Almeneuer, sein Sohn und Amadeus langten tapfer zu; eintretenden Bewohnern der Ortschaft wurde seitens des Doktors das Weinglas dargeboten und manche alte Bekanntschaft erneuert. Dazu qualmten die Pfeifen und je dumpfiger und wärmer allmählich die Luft der Stube geriet, desto behaglicher wurde das Beisammensein, desto vergnügter gerieten auch die hin- und herfliegenden Reden, so daß Amadeus, der diese ihm neue Welt anfänglich mit staunenden Augen angeschaut hatte, immer mehr Gefallen an ihr fand. Sein Lehrer erkundigte sich nun auch genau nach den Schneeverhältnissen der Seitentäler und der Schluchten, und es stellte sich heraus, daß verschiedene Ausflüge bereits jetzt zu unternehmen waren, wenigstens, wenn man ein bißchen Schneestapfen nicht scheute.
»Da werden wir doch wohl bis übermorgen hier bleiben, wenn es dir recht ist,« sagte Dr. Almeneuer zu seinem Zögling. Dieser war mit Freuden einverstanden, nachdem er von all den Herrlichkeiten gehört, die ringsum zu besichtigen waren. Namentlich die Schlucht und droben am Fuß eines der höchsten Schneegipfel der teilweise noch mit Eis bedeckte große Bergsee – das waren Gegenstände, an die er mit besonderer Sehnsucht dachte.
Die Ortschaft besaß Telegraphenverbindung. Dr. Almeneuer hielt es daher für passend, Dougaldinen das vermutlich längere Ausbleiben zu melden und tat es in der höflichen Einkleidung der bittenden Frage, ob sie eine Verlängerung der Abwesenheit von Seeport gestatte. Gegen Abend lief die Antwort ein: »Handeln Sie ganz nach Ihrem Belieben«. Der Ton der Depesche ärgerte den Doktor. Auch daß jede Unterschrift fehlte, tat ihm weh. Sie hatte ihren Namen zurückgehalten, wie dies ja bei Telegrammen gestattet ist, aber doch mehr nur aus Sparsamkeitsrücksichten geschieht, die hier nicht in Frage kommen konnten. Weil die Depesche an ihn gerichtet war, deshalb allein, – das fühlte er, – hatte sie die Unterschrift weggelassen; ihre beiden Namen sollten nicht auf demselben Blatte stehen. Die Kränkung stimmte ihn trotzig. Wohlan! so bleiben wir desto länger, wenn es Amadeus hier aushält. So dachte er und darnach handelte er.
Es liegt nicht in unserer Absicht, zu erzählen, wie nun an den folgenden Tagen Dr. Almeneuer und Amadeus ihren Urlaub zu Ausflügen ins Gebirg benutzten und wie namentlich der Knabe entzückt war nicht bloß von den Schönheiten der Alpenwelt, die sich ihm hier aufschlossen, sondern wesentlich auch von den mit diesen Spaziergängen verbundenen Anstrengungen und kleinen Gefahren, die alle mit Hilfe eines Bergstockes und an der sichern Hand seines Erziehers überwunden wurden. Auch wie der Knabe den alten Mann lieb gewann, vor dessen Hütte sie nach solchen Unternehmungen zu rasten pflegten, darf hier nur erwähnt werden.
Am vierten Tage erst verließen sie früh morgens das kleine Dorf. Der alte Almeneuer gab den beiden Wanderern das Geleite bis an die Stelle, wo die Straße in vielen Windungen rasch eine tiefere Terrasse des Talgrundes erstrebt. Dort nahm er in der schlichten Weise, die den Landleuten auch da eigen ist, wo ein tieferes herzliches Gefühl sie bewegt, vom Sohne Abschied und wünschte auch dem »Junker«, wie er Amadeus nannte, eine fröhliche Heimkehr.
Dieser Wunsch ging insofern in Erfüllung, als die Fußreisenden in bester Stimmung den weiten Weg zurücklegten. In jenem Wirtshause, wo sie auf der Herfahrt mit dem Wagen eingekehrt waren, hielten sie eine längere Mittagsrast und dann ging es mit hurtigen Schritten talabwärts. Freudig begrüßten sie am späten Nachmittag, als sie um den letzten Hügel des Haupttales bogen, von der erhöhten Straße aus den unten sich ausbreitenden See und glaubten in ihrem Leben nichts Schöneres gesehen zu haben als diesen weiten blauen Spiegel, an dessen freundlichen Ufern waldige Hügel und Berge mit Zackenfelsen sich erhoben und aus dessen Flut die rötlich beleuchteten Eisgipfel mit feuchtem Glanze schimmerten. Alles schien hier vereinigt zu einem paradiesischen Landschaftsbilde. In den Feldern am Wege breiteten Wallnußbaume ihre wölbigen Kronen aus; Weinberge am jenseitigen sonnigen Ufer deuteten auf die überraschende Milde des Klimas bei solcher Nähe an den Schneebergen. Fischerdörfer wechselten mit Schlössern mittelalterlicher Bauart. Längs dem rechten obern Seeuser zeigte sich die weiße Linie einer Kunststraße, die mit Tunnels durch die schwer vorgelagerten Felsenabhänge eines Berges führte. Und wie wundersam nahm sich von hier die ungeheure jenseitige Schlucht aus, die zwischen zwei großen Gebirgsstöcken weit hinauf sich zu einem Alpental ausweitete und von einer uralten Zeit zu erzählen schien, in welcher durch furchtbare Gewalten die einst beide Berge verbindende Felsenmauer war zerrissen worden.
Eine kleine Stunde später stunden sie am Gittertor des Landhauses Seeport und traten ein. Helles Lachen von Mädchenstimmen, dazwischen auch der scherzende Ausruf einer Männerstimme schallte ihnen entgegen. Erstaunt blickten sie nach der Gegend des Parks, von wo das Jauchzen ertönte, und gewahrten auf kurz geschorener Wiese unter einer Art Rondell von Linden, Platanen und Roßkastanienbäumen mehrere junge Fräulein, denen das beliebte Croquetspiel Anlaß zu so ausgelassener Fröhlichkeit gab. Die munterste von allen schien Dougaldine zu sein. In ihrer Nähe, ebenfalls dem Spiele mit Eifer sich hingebend, stund ein hochgewachsener, stattlicher Mann in seiner dunkelblauen Tuchkleidung. Auf den ersten Blick erkannte Dr. Almeneuer Herrn von Heinzenstorff und empfand bei dieser Entdeckung etwas wie einen Stich im Herzen.
»Dougaldine! Dougaldine! wir sind zurück!« rief Amadeus und eilte, bestaubt und erhitzt, wie er war, auf die Schwester zu, die einen Moment im Spiel einhielt, aber den hölzernen Hammer mit dem sie soeben eine der Kugeln hatte treffen wollen, nicht aus der Hand legte.
»Gut, gut!« sagte sie eigentümlich kühl, »ich seh's, da bist du wieder.« Zugleich ließ sie einen gleichsam zufälligen Blick auf den in einiger Entfernung stehen gebliebenen Hauslehrer gleiten. Dieser grüßte durch Abziehen des Hutes, den er in der Hand behielt. Sie nickte bloß leichthin und wandte sich wieder zu ihrem Bruder, indem sie so laut, daß auch Dr. Almeneuer jede Silbe verstehen konnte, zu ihm sagte: »Wie du aussiehst, so bestaubt. Zieh dich um. Und wenn du hungrig bist – Tante ist im Hause. Nachher, wenn du dich hübsch abgekühlt hast, magst du wiederkommen und mitspielen.«
Damit ließ sie Amadeus stehen, den dieser ungewöhnlich frostige Empfang der sonst so liebevollen Schwester ganz außer Fassung brachte. Sie schien es nicht zu bemerken, sondern schlug bereits den hölzernen Ball und zwar mit solcher Wucht, daß er weit über das niedere Buchsgebüsch einer nahen Gartenbeeteinfassung flog, was Heinz von Heinzenstorff zu dem bewundernden Ausrufe »Schneidig, gnädiges Fräulein, schneidig!« bewog.
»Komm, Amadeus,« sagte Dr. Almeneuer und faßte den Zögling an der Hand. »Gehen wir ins Haus.« Und ohne sich umzusehen, verschwanden sie im Innern der Villa. Aber durch die offenen Fenster des Hauses drang zu ihnen unaufhörlich das fröhliche Gelächter der auf dem Rasen Spielenden und jeder Ton schnitt dem plötzlich von allen Qualen der Eifersucht befallenen junge Manne in die Seele.
Herzlich begrüßte Herrn Finingers Schwester die Heimgekehrten und sorgte für ihre Bedürfnisse. Von Fräulein Martha erfuhr der Hauslehrer, ohne daß er sich darnach zu erkundigen brauchte, die jungen Damen Gisela, Marguerite und Hanna, Dougaldinens beste Freundinnen, seien schon seit vorgestern hier und würden noch einige Tage auf Seeport zu Besuch bleiben; Herr von Heinzenstorff aber war gestern zum ersten Male herübergekommen, hatte sich den Damen vorgestellt und die Einladung erhalten, so oft er wolle sich einzustellen, nachdem er sich beim Croquet als gewandter und leidenschaftlicher Spieler ausgewiesen.
Amadeus, nachdem er sich den Reisestaub abgewaschen und frische Kleider angezogen hatte, eilte zu den Spielenden hinaus. Die schönen Mädchen begrüßten den feinen Jungen, den sie alle längst kannten, mit freundlichen Worten und wußten ihn bald in einer der beiden Partien des Spiels unterzubringen als Hilfspartner. »Und haben Sie ihren Freund nicht mitgebracht?« fragte er zutraulich Herrn von Heinzenstorff. Dieser errötete fast unmerklich, besann sich einen Augenblick und sagte: »Nein! die neuliche Reise hat ihn zu sehr angestrengt; er bleibt für die nächste Zeit auf sein Zimmer beschränkt und wird übrigens nächstens abreisen.« »Sehen Sie!« entgegnete Amadeus, »Sie hätten doch schon um Ihres Freundes willen unsern Wagen zur Rückfahrt benützen müssen.« Dann wurde dieser zufälligen Begegnung nicht weiter gedacht und das Spiel nahm seinen Fortgang.
Dr. Almeneuer hatte sich nicht entschließen können, der Gesellschaft sich zu nähern. Übrigens hatte ihn auch niemand dazu aufgefordert. Deutlich genug hatte Dougaldine vorhin nur ihrem Bruder die Erlaubnis erteilt, am Spiele sich zu beteiligen. Und selbst, wenn ihm eine solche Aufforderung wäre zu teil geworden, falls er nun hinausging und ihnen zusah, – er hätte gestehen müssen, daß ihm dieses Spiel völlig fremd sei. Da würden sie ihn ausgelacht haben, diese aristokratischen Dämchen alle, die freilich nichts anderes zu tun haben, als im Winter zu tanzen und Schlittschuh zu laufen und im Sommer Croquet zu spielen. So dachte er in aufsteigendem Groll, der seinen sonst so klaren Verstand umnebelte. Einen Moment allerdings fuhr ihm durch den Kopf, daß er mit diesem seinem Ärger ungefähr dieselbe lächerliche Rolle spiele, wie sie in seinen humoristischen Predigten Abraham a Santa Clara schildert, wo er des vom Felde heimkehrenden Bruders gedenkt, der den Jubel über die Heimkehr des verlorenen Sohnes vernimmt, von weitem schon das Tirelieren der Flöten und das Jauchzen der Freunde des Hauses hört, sich dann schmollend seitab setzt auf eine Bank, an den Nägeln »kifelt« und unwillig das Glas zurückweist, das ihm mit gutmütigem »Brindisi« ein Knecht zum Parterrefenster hinausbringt. »Dem Gispel wäre es besser gewesen, hineinzugehen und einen fröhlichen Rundtanz mitzutun,« heißt es dort, und die Stelle stund deutlich vor dem Geiste des jungen Mannes. Aber hier bewährte sich einmal auch an einem sonst trefflich gearteten Menschen, daß zuweilen alle angelernte Weisheit nicht Stich hält vor einem übermächtigen, zur Leidenschaft gesteigerten Gefühle. Unwirsch verließ er das Haus durch die nach der Seeseite gelegene Tür des Salons und ging an den Strand hinab. Dort lag neben der Schaluppe Herrn Finingers ein fremdes Fahrzeug, sicherlich dasjenige, in welchem sich Herr von Heinzenstorff aus dem Städtchen drüben hergerudert hatte. Zornigen Blickes starrte er auf die Barke. Dann sprang er in das zum Landhause gehörige Schiffchen, stieß ab vom Lande und gewann mit mächtigen Ruderschlägen bald die Breite des offenen Sees. Die Anstrengung tat ihm wohl. Je heftiger die Ruderschaufeln in die Flut eingriffen, je gewaltsamer der Ruck war, den er mit jedem Eintauchen dem Schifflein gab, desto mehr löste sich von seiner Seele der Groll und Unmut. Die Überlegung begann zu arbeiten. Er bedachte, daß zwar dieser Empfang von seiten Dougaldinens ein beabsichtigt unfreundlicher gewesen sei, daß aber eben diese Unfreundlichkeit vielleicht eine Strafe bedeuten solle für sein unvermutet längeres Ausbleiben. In diesem Falle mußte sie sein Ausbleiben irgendwie empfunden haben, und dann, so schloß er weiter, war er ihr also wenigstens nicht gleichgültig.
Aber nun dieser Heinz von Heinzenstorff! An jenem Gesellschaftsabend im Finingerschen Hause schien er ihr nicht sonderlich gefallen zu haben. Und jetzt? Waren sie nicht beim Spiel Ein Herz und Eine Seele? Geschah auch dies von ihrer Seite vielleicht nur, um ihn, den Hauslehrer, zu strafen, zu reizen? Das ließ sich schwer beurteilen, am schwersten jedenfalls, wenn man da draußen auf dem See wie ein Verrückter zwecklos umherruderte, wahrend dort unter den Bäumen der Nebenbuhler alle seine Kavalierskünste aufbot, um der schönen Herrin des Hauses den Hof zu machen.
Mit einem Ruck drehte der junge Mann das leichte Boot und fuhr nun eben so eifrig dem Lande zu, als er vorhin hinaus auf den offenen See geeilt war. Wie übermäßig heftig seine Anstrengung gewesen war, ward er erst jetzt ganz inne, da es ihn eine Ewigkeit dünkte, bis er dem Strande sich näherte.
Und als er nun, den Rücken dem Lande zugewandt, eifrig rudernd endlich den kleinen Hafen des Landgutes erreicht hatte und eben über die Schulter zurücksah, um nicht irgendwo mit dem Fahrzeuge anzustoßen, da vernahm er die Stimme Dougaldinens, die, wie ihm vorkam, mit etwas Schadenfreude im Ton ihm zurief: »Schön, Herr Doktor, daß Sie uns die Schaluppe zurückbringen. Meine Freundinnen und ich wollen Herrn von Heinzenstorff noch ein wenig in unserm Schiffe das Geleit geben auf der Heimfahrt.«
Das war zum toll werden! Also jetzt, da er ans Land zurückkehrte, ging sie aufs Wasser mit diesem Menschen! Doch was war dagegen einzuwenden? Er sprang aus dem leichten Fahrzeug, verbeugte sich vor den jungen Damen, die, wie ihm vorkam, ihn mit halb neugierigen, halb spöttischen Blicken musterten; dann, sich zusammennehmend, fragte er, ob er ihnen beim Einsteigen helfen dürfe. Das wurde mit gnädigem Kopfnicken angenommen und er half einer nach der andern in die Schaluppe. Nur Dougaldine, die zuletzt einstieg, verschmähte die dargebotene Hand und schwang sich leicht, da sie dessen gewohnt war, in das Schifflein, das nur unmerklich schwankte, da es mit dem Kiel nicht auf dem Uferkies aufsaß, sondern schon in genügender Wassertiefe schwamm. Dann stieß sie mit dem einen der Ruder ab, um für das Einlegen des andern Raum zu gewinnen. Inzwischen hatte auch Herr von Heinzenstorff sein Schiff bestiegen und es zur Abfahrt bereit gemacht. Amadeus hatte ihm dabei geholfen und nahm darin Platz. Einen Augenblick nachher flogen beide Fahrzeuge mit anmutiger Bewegung über die klare Flut dahin, und die neckenden Scherzreden, die zwischen dem Mädchenschiffe und dem Kahn des fremden Kavaliers gewechselt wurden, tönten eine Weile noch herüber zu dem am Ufer Zurückbleibenden, der im eigentlichsten Sinne des Wortes das Nachsehen hatte.