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XXXIX.

Als Amherst, spät nachmittags von Westmore zurückkehrend, von der Abreise seiner Frau erfuhr und die Notiz las, die sie hinterlassen hatte, sah er sich eine Zeit lang außer Stande, Ordnung in das in ihm hervorgerufene Chaos von Gefühlen zu bringen.

Sein Gemüt war schon vorher verwirrt genug gewesen. Den ganzen Tag hatte er sich während der Routine der Fabrikarbeit innerlich mit den ihm bevorstehenden Schwierigkeiten abgequält; und seine Unrast war durch die Einsicht gewachsen, dass seine Lage eine ironische Ähnlichkeit zu jener aufwies, in der er sich selbst, aus einem sehr unterschiedlichen Grund allerdings, in einer anderen Krise seines Lebens befunden hatte. Wieder drohte ihm, Westmore vielleicht aufgeben zu müssen, und dies zu einem Zeitpunkt, wo die Bündelung von Zweck und hartnäckigem Wollen endlich handfeste Ergebnisse zu zeitigen begann. Vorher hatte er nur Träume aufgegeben; nun waren es ihre Früchte, die er hergeben sollte. Denn er war fest entschlossen, sich gänzlich aus Westmore zurückzuziehen, wenn die Stellungnahme, die er Mr. Langhope abgeben musste, mit der geringsten Spur eines beleidigenden gedanklichen Vorbehalts aufgenommen wurde. Alle Formen moralischen Kompromisses waren für Amherst stets schwierig gewesen, und wie viele andere Männer, die von großen, komplizierten Problemen in Anspruch genommen wurden, sehnte er sich vor allem nach Klarheit und Frieden in seinen häuslichen Beziehungen. Die ersten Monate seiner zweiten Ehe hatten ihm, als Bestandteil reicherer und tieferer Freuden, dieses umschließende Gefühl eines klaren moralischen Fluidums verschafft, in dem keine List oder Mehrdeutigkeit Atem holen konnte. Er hatte gespürt, dass er fortan alle kämpferische Energie in seine Arbeit fließen lassen durfte, all die Kräfte des Durchhaltens, Widerstehens, Erneuerns, die einst ohne Ertrag beim vergeblichen Versuch verbraucht worden waren, etwas wie Einklang in das Leben mit Bessy zu bringen. Zwischen ihm und Justine existierte, abgesehen von ihrer Liebe zueinander, die umfassendere Leidenschaft von Menschen ihrer Art, die ihnen eine vergrößerte, vertiefte Widerspiegelung ihrer persönlichen Gefühle zurück gab. In solch einer Atmosphäre schien kein kleinlicher Egoismus ihr Emporblühen hemmen, keine Uneinsichtigkeit ihre Liebe verdunkeln zu können; trotzdem hatte sich dieses reine Glück die ganze Zeit über vor einem schäbigen Hintergrund von Betrug und Intrige entfaltet, von dem sich seine Seele mit Ekel abwandte.

Justine hatte Recht in ihrer Annahme, dass Amherst nie viel über Frauen nachgedacht hatte. Er hatte sie vage eingeordnet als dazu bestimmt, jene diffuse Domäne des Gefühls zu bevölkern, die dem beschäftigten Mann eine Zuflucht aus dem Nachdenken anbieten sollte. Seine zweite Ehe führte ihn zu der beseligenden Entdeckung, dass Frauen genauso gut zu denken wie zu fühlen vermögen, dass es Wesen des schönen Geschlechts gibt, bei denen Kopf und Herz sich gegenseitig so bereichert haben, dass ihre Empfindungen ebenso klar wie Gedanken, ihre Gedanken ebenso warmherzig wie Empfindungen sind – diese Entdeckung bewirkte, dass er sein früheres Konzept von der Frau als einem Bündel inkonsequenter Impulse verwarf und ihr auf einen Schlag volle geistige Gleichwertigkeit mit dem Herrn der Schöpfung zugestand. Als Ergebnis dieses Aktes von ›Freilassung‹ war er bei der Beurteilung von Justine nicht mehr im Stande, das rein Weibliche in ihrem Verhalten einzukalkulieren. Es war ihm unbegreiflich, dass sie, für die Wahrheit das Lebenselixier zu sein schien, fähig sein sollte, in einer Atmosphäre von Falschheit und Täuschung zu atmen und sogar Glück zu finden. Sein Verstand konnte zwar – zumindest abstrakt – der Vernünftigkeit ihrer Tat beipflichten; aber er war immer noch außer Stande zu begreifen, wie sie sie vor ihm hatte verbergen können. Er vermochte sich weit genug in ihre Gefühle hinein zu versetzen, um ihr Stillschweigen bei seiner ersten Rückkehr nach Lynbrook nachzuvollziehen, als sie noch unter dem Druck eines langwierigen, schrecklichen Verfahrens stand; aber dass sie ihr Schweigen fortsetzen würde, als er und sie ihre Liebe zueinander entdeckt und gestanden hatten, warf einen unerträglichen Zweifel auf ihre ganze Einstellung.

Er blieb lange in der Fabrik, fand eine Ausrede nach der anderen, um seine Rückkehr nach Hanaford zu verzögern und versuchte, während ein Teil seines Verstandes methodisch seine Arbeit erledigte, den anderen so auszurichten, dass er einen entschiedenen Blick auf die Zukunft werfen konnte. Aber alles wurde verdunkelt und verwirrt von dem Gefühl, dass zwischen ihm und Justine eine vollkommene gedankliche Gemeinschaft nicht mehr möglich war. Sie hatte eigentlich nie bestanden; es hatte in ihrer Seele immer eine verschlossene Kammer gegeben, und er wusste bis jetzt nicht, welche anderen Geheimnisse darin noch wohnen mochten.

Der Schock darüber, dass sie fort war, als er zu Hause ankam, gab seinen Gefühlen eine neue Wendung. Sie hatte kein Geheimnis aus ihrem Bestimmungsort gemacht, sondern den Bediensteten gesagt, sie fahre nach New York, um Mr. Langhope zu besuchen; und Amherst fand eine Notiz von ihr auf seinem Schreibtisch.

»Ich spüre,« schrieb sie, »dass ich Mr. Langhope selbst aufsuchen sollte, um ihm als erste mitzuteilen, was zu sagen ist. Es sah dir ähnlich, Liebster, mir das ersparen zu wollen, aber es hätte mich noch unglücklicher gemacht; und Mr. Langhope dürfte die Fakten von mir selbst hören wollen. Ich werde morgen zurück sein, und danach liegt es bei dir zu entscheiden, was zu tun ist.«

Die Kürze und Schlichtheit der Notiz war charakteristisch; in Augenblicken hoher Anspannung war Justine stets ruhig und direkt. Und es sah ihr ebenfalls ähnlich, nicht versteckt an sein Mitgefühl zu appellieren, keinen Versuch zu machen, sein Urteil durch zärtliche Worte und klagende Andeutungen zu beeinflussen. Der ruhige Ton, in dem sie ihr Ziel feststellte, passte zu der Bestimmtheit und dem Mut ihrer Handlung, und eine Weile wurde Amherst von einem Umschwung der Gefühle erschüttert. Ihr Herz befand sich trotzdem auf gleicher Höhe mit seinem – wenn sie einen Fehler gemacht hatte, dann wollte sie dessen volle Last allein tragen. Es war so genau das, was er selbst empfunden und getan haben würde in solch einer Situation, dass der Glaube an sie durch alle trockenen Kanäle seines Herzen zurück floss. Die elenden Jahre seiner ersten Ehe hatte in ihm einen Rest Misstrauen hinterlassen, eine Tendenz, jede Handlung von ihren scheinbaren Motiven zu trennen. Er war zu gründlich von seinem eigenen Enthusiasmus genasführt worden, als dass er nicht diesen Zug von Skepsis beibehalten hätte, und dieser veranlasste ihn nun zu der Frage, ob Justines plötzliche Abreise nicht durch einen anderen Grund veranlasst worden war als durch den von ihr erklärten. Hatte sie nur dies angetrieben, warum hatte sie es ihm dann nicht gesagt und um Zustimmung zu ihrem Vorhaben gebeten? Warum ließ sie ihn aus dem Haus gehen ohne den geringsten Hinweis auf ihre Absicht und entschwand mit dem ersten Zug, sobald er zuverlässig in Westmore war? Könnte es nicht sein, dass sie besondere Gründe für ihren Wunsch hatte, dass Mr. Langhope ihre eigene Version zuerst hören sollte – dass es Fragen gab, die nur sie selbst beantworten wollte, Erklärungen, die für sie zu geben sie niemandem vertrauen konnte? Der Gedanke stürzte Amherst erneut tiefer ins Elend. Er wusste nicht, wie er sich gegen diese zersetzenden Verdächtigungen wehren sollte – er spürte nur, wenn einmal der Einklang zwischen zwei Seelen zerstört war, konnte er nicht so leicht wieder hergestellt werden wie die Leidenschaft zwischen zwei Herzen. Er schleppte sich mühsam durch den einsamen Abend und wartete mit Furcht, aber auch voller Ungeduld auf eine Botschaft, die die Rückkehr seiner Frau ankündigte.


Es wäre leichter gewesen – weitaus leichter – als sie Mr. Langhopes Tür hinter sich ließ, einfach geradeaus in die Dunkelheit zu gehen und sich von ihr für immer einschließen zu lassen.

Justine spürte, wie sie den Lockungen dieser Vorstellung nachgab, als sie über das von Laternen beleuchtete Pflaster ging und kaum wusste, welche Richtung ihre Schritte nahmen. Die Tür des Gebäudes, das zuvor einige Wochen lang gewissermaßen ihr Zuhause gewesen war, hatte sich hinter ihr ohne eine Frage geschlossen. Sie hatte es erdulden müssen, hinaus in die Dunkelheit zu gehen, ohne gefragt zu werden, wohin sie gehe oder unter welchem Dach sie die Nacht verbringen werde. Der Gegensatz zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart ertönte durch den Tumult ihrer Gedanken wie das böse Gelächter der Versuchung. Das Haus in Hanaford, zu dem sie zurückkehrte, würde sie mit demselben fremden Gesicht anschauen – nirgendwo auf Erden gab es in diesem Augenblick eine Tür, die sich ihr wie die ihres Zuhauses öffnen würde.

In ihrer qualvollen Selbstversunkenheit folgte sie der Nebenstraße zur Madison Avenue und schlug in südlicher Richtung diese ruhige Durchgangsstraße ein. Schnelle Bewegung verschaffte physische Erleichterung, und sie ging weiter, immer noch kaum ihre Richtung gewahrend, auf die gehäuften Lichter des Madison Square zu. Wenn sie nach Hanaford zurückkehrte, hatte sie noch mehrere Stunden zur Verfügung bis zur Abfahrt des Mitternachtszuges; und wenn sie nicht zurückkehrte, gab es für sie keine Stunden und Tage mehr.

Es wäre leichter – unendlich leichter – nicht zurück zu gehen. Ihr Leben mit Amherst wieder aufzunehmen, würde unter allen Umständen quälend genug sein; dies unter der stummen Einschränkung ihres Versprechens gegenüber Mr. Langhope zu tun, schien mehr, als menschlicher Mut aushalten konnte. Als sie sich dem Platz näherte war sie fast zu dem Schluss gekommen, dass solch eine vorübergehende Wiederaufnahme über ihre Kräfte ging – über alles, was irgend eine Regel der Pflicht verlangte. Das Problem einer Alternative kümmerte sie kaum. Sie würde einfach weiterleben und eine Zuflucht in Arbeit und materieller Entbehrung finden. Es wäre für eine so unscheinbare Person nicht schwierig, in die dunkle Masse der Menschheit zurück zu gleiten.

Sie wartete eine Weile an der Ecke des Platzes und suchte unentschlossen nach einer Richtung für ihre Füße, damit die Arbeit ihrer Gedanken ununterbrochen weitergehen könne; und als sie da stand, fiel ihr Blick auf die Bank in der Nähe der Ecke der Sechsundzwanzigsten Straße, wo sie mit Amherst am Tag seiner Flucht von Lynbrook gesessen hatte. Auch er hatte von einem Entrinnen vor unlösbaren Problemen in die klare Luft harter Arbeit und einfacher Pflichten geträumt; und sie erinnerte sich der Worte, mit denen sie ihn zur Umkehr gebracht hatte. Die Fälle waren natürlich nicht identisch, weil er im Zorn und verwundeten Stolz aus einer Lage geflohen war, für die er in keiner Weise Schuld trug; aber wenn sie sogar in einem solchen Moment auf Mitleid und Nachsicht bestanden hatte, wie konnte sie nun weniger Selbstverleugnung an den Tag legen als sie ihm abverlangt hatte?

»Wenn Sie eine gewisse Zeit fort gehen – dann sollte es jedenfalls so geschehen, dass kein falsches Licht auf Bessy fällt …« So hatte sie einst zu ihm gesprochen, und das, bloß die Namen tauschend, musste sie aus ebenso stichhaltigen Gründen nun sich selbst sagen. Es war ebenso Teil des von ihr geplanten Ablaufs, jetzt zu ihrem Mann zurückzukehren und mit ihm zusammen ihr tägliches Leben wieder aufzunehmen, wie es später ihre Pflicht sein würde, aus diesem Leben auszuscheiden, wenn sie ihn nicht länger in die zu begleichende Buße einbeziehen durfte.

Sie stand noch eine Weile da und schaute auf die Bank, auf der sie gesessen hatten, und dankte in ihrem Herzen für die einstige Stärke, die ihr nun half, ihren verlorenen Mut wieder aufzubauen: solch ein Flickwerk sind unsere besten Bestrebungen, doch so vertrauensvoll reicht jeder schwache aufwärts gerichtete Impuls dem nächsten rückwärts eine Hand.


Justines Erläuterung ihres Besuches bei Mr. Langhope befriedigte ihren Mann nicht vollständig. Sie verbarg zwar nicht vor ihm, dass die Szene qualvoll gewesen war, aber sie gab ihm, so kurz wie möglich, zu verstehen, dass Mr. Langhope nach dieser ersten Regung unkontrollierbaren Kummers anscheinend fähig war, den Druck, unter dem sie gehandelt hatte, in Rechnung zu stellen, und dass er jedenfalls kein Zeichen einer Absicht erkennen ließ, auf Grund ihres Geständnisses eine Veränderung in der Beziehung zwischen den Familien vorzunehmen. Wenn sie dies alles nicht – wie Amherst sich hinterher entsann – ausdrücklich in Worte fasste, so verstand sie es auf ihre Art zu vermitteln, durch Andeutungen, vor allem durch ihre wiedergewonnene Gelassenheit. Sie trat auf wie jemand, der eine strenge Prüfung seiner Stärke durchlaufen hat, aus dieser jedoch in vollständiger Kontrolle der Lage hervorgegangen ist. Es lag etwas Unnatürliches in dieser schnellen Lösung eines so komplexen Problems, und das brachte Amherst dazu, sich zu fragen, was der Kern ihrer Verständigung mit Mr. Langhope gewesen sein konnte, wenn ein solches Ergebnis heraus kam. Wenn dieser irgend einen Ansatz von Grausamkeit oder gar Ungerechtigkeit bezeigt hätte, wären Amhersts Sympathien umgehend zur Verteidigung seiner Frau geeilt; da diese aber anscheinend nicht in Anspruch genommen wurden, konnte seine Vernunft nur vergleichen und unterscheiden – was am Ende zu dem Ergebnis führte, dass die Haltung seines Schwiegervaters ihm um so weniger einleuchtete, je mehr er über sie grübelte.

Einige Tage nach Justines Rückkehr musste er geschäftlich nach New York; und bevor er ging, teilte er ihr mit, dass er natürlich die Gelegenheit wahrnehmen werde, ein Gespräch mit Mr. Langhope zu führen.

Sie vernahm diese Aussage mit freundlicher Gefasstheit, die sie seit ihrer Rückkehr aus New York beibehalten hatte; und er fügte vorsichtig hinzu, als wolle er sie zu einem klareren Ausdruck ihrer Empfindungen provozieren: »Ich werde natürlich nicht zufrieden sein, bis ich selbst weiß, wie er genau fühlt – wie sehr ihn das im Grunde getroffen hat – da meine eigene zukünftige Beziehung zu ihm, wie ich dir schon gesagt habe, vollständig davon abhängt, wie er dich behandelt.«

Sie ging darauf ohne ein Zeichen von Verstörung ein. »Er behandelte mich sehr freundlich,« sagte sie. »Aber wäre es deinerseits,« fuhr sie zögernd fort, »nicht freundlicher, das Thema nicht so bald wieder zu berühren?«

Die Linie zwischen seinen Brauen vertiefte sich. »Es nicht berühren? Ich werde nicht ruhen, bis ich der Sache auf den Grund gegangen bin! Bis dahin, das musst du verstehen,« fasste er mit Entschiedenheit zusammen, »fühle ich mich hier in Westmore nur geduldet.«

»Ja – das verstehe ich,« stimmte sie zu; und als er sich herüber beugte, um ihr einen Abschiedskuss zu geben, schien eine gewisse undurchdringliche Barriere zwischen ihren Lippen zu liegen.


Es war nun an Justine, mit leidenschaftlicher Erregung ihres Mannes Heimkehr zu erwarten; und als er am dritten Tag zurück war, wich ihre teuer erworbene Selbstkontrolle einer furchtsamen Ungeduld. Dies war eigentlich der Wendepunkt in ihrem Leben: alles hing davon ab, wie Mr. Langhope bei seinem Einsatz ›aufgespielt‹, seinen Teil ihrer gegenseitigen Verpflichtung eingehalten hatte.

Amhersts Gesicht wies Zeichen seelischer Verwüstung auf: wenn das Gefühl einmal aus ihm hervor brach, dann wurde ihm freier Lauf gelassen, und sie konnte erkennen, dass diese Stunde mit Mr. Langhope bis an die Wurzeln des Lebens gegangen war. Aber der davon herrührende Ausdruck verwies auf Kräftigung, nicht auf Niederlage; und sie wusste auf einen Blick, dass ihr Partner sie nicht verraten hatte. Es war ein tragischer Trost, den sie aus dem Erfolg ihrer Leistung zog; trotzdem warf er sie in die Arme ihres Mannes mit einer sehnsüchtigen Leidenschaft, die er, wie sie sofort merkte, nicht vollständig erwiderte.

Es stand denn also noch immer etwas ›zwischen‹ ihnen: irgendwo hatte der Mechanismus ihres Plans versagt, oder sein Wirken hatte nicht das Resultat erzielt, auf das sie gerechnet hatte.

Sobald sie allein im Studierzimmer waren, sagte sie, so ruhig sie konnte: »Hast du deinen Schwiegervater besucht? Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ja – ich habe den Nachmittag mit ihm verbracht. Cicely lässt dich lieb grüßen.«

Sie verfärbte sich bei der Erwähnung ihres Namens und murmelte: »Und Mr. Langhope?«

»Er ist vollkommen ruhig jetzt – vollkommen unparteiisch. – Diese Angelegenheit hat mir das Gefühl gegeben,« fügte Amherst übergangslos hinzu, »dass ich ihm niemals ganz gerecht geworden bin. Ich habe ihn nie für einen großzügigen Menschen gehalten.«

»Als der hat er sich erwiesen,« murmelte Justine und beugte ihren Kopf tief über eine Nadelarbeit; und Amherst bekräftigte energisch: »Er war mehr als das – edelmütig!«

Sie schaute ihn lächelnd an. »Ich bin so froh, Lieber; so froh, dass nicht der geringste Schatten zwischen dir …«

»Nein,« sagte Amherst mit etwas nachlassender Stimme. Es entstand eine Pause, dann fuhr er mit erneutem Nachdruck fort: »Natürlich habe ich ihm meinen Standpunkt klar gemacht.«

»Deinen Standpunkt?«

»Dass ich mit seinem Urteil über dich stehe oder falle.«

Oh, wenn er es nur zärtlicher gesagt hätte! Aber er verkündete es mit der ganzen Entschlossenheit eines Mannes, der für ein abstraktes Rechtsprinzip kämpft und nicht für eine Leidenschaft, die in die Fibern seines Herzens gewachsen ist!

»Auch du bist edelmütig,« sagte sie zögernd mit etwas bebender Stimme.

Amherst runzelte die Stirn; und sie sah ein, dass jeder Hinweis von ihrer Seite auf die Wahrnehmung der geringsten Veränderung in ihrer Beziehung immer noch wie ein Druck auf eine schmerzhafte Prellung wirkte.

»Solche Worte sind zwischen uns nicht nötig,« sagte er ungeduldig; »und Mr. Langhopes Haltung,« fügte er, um einen leichteren Ton bemüht, hinzu, »hat es überflüssig gemacht, dem Himmel sei Dank, je auf dieses Thema zurück zu kommen.«

Er wandte sich, während er sprach, seinem Schreibtisch zu und versenkte sich in die Durchsicht der Briefe, die sich in seiner Abwesenheit aufgehäuft hatten.


Es gab in Westmore vorübergehend ein Übermaß an Arbeit, und während der folgenden Tage warf er sich auf sie mit einer Hingabe, die Justine bewies, wie eifrig er irgend einen Vorwand suchte, um vertrauliche Momente zu vermeiden. Diese Einsicht war schmerzlich genug, aber nicht so schmerzlich wie eine andere Entdeckung, die auf sie wartete. Auch sie hatte ihre Aufgaben in Westmore: die Aufsicht über das Hospital, die Kindertagesstätte, den Mütter-Club und verschiedene andere Organisationen, durch die sie und Amherst versuchten, eine Art gesellschaftliche Geschlossenheit in das Leben der Fabrikarbeiter zu bringen; und als sie sich am Tag nach seiner Rückkehr von New York wie gewöhnlich im Westmore-Büro einstellte, wo sie üblicher Weise eine kurze Beratung mit ihm hielt, bevor sie zu ihren Runden aufbrach, wurde sie auf einmal einer neuen Spur Befangenheit in seinem Benehmen gewahr. Es verletzte ihn also, sie hier in Westmore zu sehen – verletzte ihn mehr, als mit ihr in Hanaford unter Bessys Dach zu leben! Denn dort, in der Fabrik, führte er sein wirkliches Leben, das Leben, mit dem Justine sich am meisten identifiziert hatte, das Leben, das für sie beide möglich geworden war durch die Großzügigkeit jener anderen Frau, deren Gegenwart nun für immer zwischen ihnen stand.

Justine gab keinen Laut von sich. Sie vollzog ihre Arbeit, als ob sie sich keiner Veränderung bewusst sei; aber während sie in der Vergangenheit immer einen Vorwand gefunden hatten, einander zu suchen, die Reihenfolge der Tagesarbeit zu besprechen oder bloß ihre Herzen zu wärmen durch ein paar rasche Worte, so gingen sie jetzt getrennte Wege und trafen sich manchmal erst, wenn sie bei Einbruch der Nacht wieder nach Hause kamen.

Und während die Wochen vergingen, begann sie zu begreifen, dass, auf Grund einer seltsamen Umkehrung der Wahrscheinlichkeit, die Beziehung zwischen Amherst und ihr nur noch ein Mittel war, sie an ihre Abmachung mit Mr. Langhope zu binden – falls es der Wahrheit nicht näher kam zu sagen, dass sie eine solche Abmachung überflüssig gemacht hatte. Amherst hatte alles getan, um ihr gemeinsames Leben wieder so aufzunehmen, als hätte es in ihm nie eine Unterbrechung gegeben; aber langsam drängte sich ihr die Überzeugung auf, dass sie, wenn sie bei ihm blieb, ihn unerträglichem Leiden unterwarf und zur Verkörperung all jener Gedanken und Assoziationen wurde, denen er zu entrinnen trachtete. Zum Glück hatte ihr rasches Handeln ihm Westmore bewahrt, und in Westmore, glaubte sie, würde er mit der Zeit eine Zuflucht finden, sogar vor der Erinnerung an das, was er gerade durchmachte. Doch inzwischen hielt ihre Gegenwart den Gedanken lebendig; und hätte auch jeder andere Anreiz seine Macht verloren, dieser hätte genug besessen, sie durchhalten zu lassen. Das Schicksal hatte sie ironischer Weise mit einem unwiderleglichen Grund versorgt, Amherst zu verlassen; ihrer beider Unvermögen, solch eine Beziehung, wie sie nun zwischen ihnen existierte, aufrecht zu erhalten, würde bald zu offensichtlich werden, um geleugnet werden zu können.

Als inzwischen der Sommer nahte, war ihr klar, dass auch äußere Bedingungen sie zum Handeln veranlassen würden. Das sichtbare Zeichen für ihren Rückzug würde Cicelys nächster Besuch in Westmore sein. Der Geburtstag des Kindes fiel in den frühen Juni; und Amherst hatte einige Monate zuvor darum gebeten, dass sie ihn in Hanaford verbringen und dies als Datum gewählt werden sollte für die Eröffnung der ersten Musterlandhäuser in Hopewood.

Es war Justine gewesen, von der die Idee stammte, Cicelys Geburtstage mit gewissen bedeutsamen Aktionen in den Annalen der Fabriksiedlung zu verknüpfen; und angetan von dem glücklichen Vorschlag hatte Amherst sich sofort selbst eingesetzt, um die Arbeit in Hopewood zu beschleunigen. Beider Bestreben, dass Cicely sich mit der Entwicklung des Lebens von Westmore identifizieren sollte, war einer der Haupteinflüsse gewesen, Mr. Langhope mit der zweiten Heirat seines Schwiegersohnes zu versöhnen. Die Eheleute hatten stets klargestellt, dass sie sich selbst bloß als Treuhänder der Westmore-Einkünfte betrachteten und dass Cicelys Name so früh wie möglich mit jeder Maßnahme für die Wohlfahrt der Leute verknüpft werden sollte. Nun aber hatte sich die Situation verändert, wie Justine wusste; und Cicely würde nicht erlaubt werden, nach Hanaford zu kommen, solange sie es nicht verlassen hatte. Die vielfältigen Fäden des Hellsehens Siehe auch Anm. 16., die sie ununterbrochen in Amhersts Gegenwart auswarf, sagten ihr, ohne ein Wort oder Zeichen von seiner Seite, dass auch er Cicelys Geburtstag als entscheidendes Datum in ihrem Leben erwartete. Er sprach zuversichtlich und mit Selbstverständlichkeit davon, dass Mr. Langhope seine Enkelin zur versprochenen Zeit herbringen werde; aber Justine konnte einen Ton der Herausforderung in seiner Stimme wahrnehmen, als ob er fühle, dass Mr. Langhopes Aufrichtigkeit noch nicht auf die Probe gestellt worden sei.

Als die Zeit näher rückte, wurde es schwieriger für sie, eine Entscheidung zu treffen, wie sie den Schritt tun solle, zu dem sie entschlossen war. Sie hatte keine materiellen Ängste vor der Zukunft, denn obwohl sie nicht beabsichtigte, von ihrem Mann auch nur einen Penny zu nehmen, nachdem sie ihn verlassen hatte, wusste sie, dass es leicht für sie sein würde, wieder in ihrem Beruf als Krankenschwester zu arbeiten; und sie wusste auch, dass ihre Krankenhausverbindungen es ihr ermöglichen würden, in einem Teil des Landes Arbeit zu finden, der entfernt genug lag, um sie gänzlich aus seinem Leben zu entfernen. Aber sie war noch nicht in der Lage gewesen, einen Grund für ihr Weggehen zu erfinden, der genügend Überzeugungskraft besaß, um ihn zufrieden zu stellen, ohne seinen Verdacht auf die Wahrheit zu lenken. Als ihr dieses Problem im Kopf umlief, erinnerte sie sich plötzlich an einen Ausrufs Amhersts – ein Wort, das er gesagt hatte, als sie Mr. Langhopes Tür erreichten, an jenem verhängnisvollen Nachmittag, als sie Wyants Brief gefunden hatte.

»Es gibt nichts, das du die Leute nicht glauben machen könntest, du kleine Jesuitin!«

Sie hatte in purer Freude über sein Lob gelacht; denn jeder neckende Satz war damals eine Liebkosung gewesen. Aber nun kehrten diese Worte mit unheilvoller Bedeutung zurück. Sie wusste, dass sie stimmten, so weit es Amherst betraf: in den Künsten der Kasuistik Ein besonders vom Orden der Jesuiten in der katholischen Moraltheologie kultiviertes Verfahren, bei der Urteilsfindung vom Einzelfall auszugehen, wobei es nicht ohne Spitzfindigkeiten abging. und Mehrdeutigkeit konnte ein Kind ihn ausstechen, und sie musste nur ihren Willen aufbieten, um ihn so dreist zu übertölpeln, wie es ihr gefiel. Gut! diese Aufgabe war abstoßend, aber notwendig: es war der bitterste Teil ihrer Sühne, dass sie ihn noch einmal täuschen musste, um ihn vor den Ergebnissen ihrer früheren Täuschung zu retten. War diese Entscheidung einmal gefallen, so wartete jeder Nerv in ihr gespannt auf eine Gelegenheit, diese Sache zu erledigen und sie hinter sich zu bringen, so dass sie sich, wenn sie allein zusammen waren, in einer Haltung beständiger Anspannung befand – ihr Verstand war aufgezogen für seinen letzten Sprung.

Das entscheidende Wort tauchte eines Abends Ende Mai auf in Form einer Andeutung von Amhersts Seite auf Cicelys nahen Besuch. Die Eheleute saßen im Salon nach dem Dinner, er mit einem Buch in der Hand, sie beugte sich wie gewöhnlich über eine Nadelarbeit, die zum einen als Vorwand, ihre Augen niederzuschlagen, diente, zum andern als Mittel, die Ausübung ihrer Hauptbeschäftigung zu verschleiern.

»Hast du einen Plan erstellt?« fragte er und legte sein Buch hin. »Mir kam die Idee, dass wir am besten mit einer Art Kinderfest in der Kindertagesstätte anfangen sollten. Du könntest Cicely morgens mitnehmen, und ich würde Mr. Langhope nach dem Lunch herbringen. Die gesamte Feier wäre wahrscheinlich für ihn zu ermüdend.«

Justine lauschte mit aufgenommenem Faden. »Ja – das scheint ein guter Plan zu sein.«

»Kümmerst du dich dann um die Einzelheiten? Du weißt, es ist nur noch eine Woche bis dahin.«

»Ja, ich weiß.« Sie zögerte und setzte dann zum Sprung an. »Ich sollte dir sagen, John – dass ich – ich denke, ich werde wohl nicht hier sein …«

Er hob abrupt seinen Kopf, und sie sah unter seiner hellen Haut das Blut steigen. »Nicht hier?« rief er.

Sie begegnete seinem Blick so fest sie konnte. »Ich denke daran, für eine Weile fort zu gehen.«

»Fort gehen? Wohin? Was ist los – geht's dir nicht gut?«

Das war der Vorwand – er hatte ihn für sie gefunden! Warum sollte sie nicht einfach auf schwache Gesundheit plädieren? Danach würde sie einen Weg finden, um die Einzelheiten auszuarbeiten und sie plausibel zu machen. Aber plötzlich, als sie anfangen wollte zu sprechen, überkam sie das Gefühl, das bis zu dem verhängnisvollen Augenblick in ihrer beider Leben immer ihren Umgang bestimmt hatte – das Gefühl, dass es Wahrheit, und zwar absolute Wahrheit, geben müsse zwischen ihnen. Absolut könnte sie allerdings nie wieder sein, da er nie etwas von der Bedingung erfahren durfte, die von Mr. Langhope abverlangt worden war; aber das schien im Augenblick ein zweitrangiger Beweggrund, verglichen mit den tiefer gehenden Einflüssen, die sie erbarmungslos auseinander zwangen. Auf keinen Fall würde sie eine banale Entschuldigung für den Schritt erfinden, zu dem sie sich entschlossen hatte; es sollte zwischen ihnen in dieser letzten entscheidenden Stunde Wahrheit herrschen, wenn auch nicht die ganze Wahrheit.

»Ja; es geht mir ganz gut – wenigstens meinem Körper,« sagte sie ruhig. »Aber ich bin wohl abgespannt; mein Verstand ist zu lange in demselben Kreis gelaufen.« Sie hielt kurz inne, und dann sah sie ihm, ihren Kopf hebend, unmittelbar in die Augen: »Ist es dir nicht so gegangen?« fragte sie.

Diese Frage schien Amherst aufzurütteln. Er stand von seinem Stuhl auf und ging ein paar Schritte auf den Kamin zu, in dem ein kleines Feuer zu Asche zerfiel. Er wandte ihm seinen Rücken zu, legte einen Arm auf den Sims und sagte dann mit etwas unsicherer Stimme: »Ich dachte, wir wären überein gekommen, von all dem nicht wieder zu sprechen.«

Justine schüttelte flüchtig lächelnd ihren Kopf. »Ich habe so einer Vereinbarung nicht zugestimmt. Und außerdem: was nützt sie, wenn wir immer die Gedanken des anderen hören können und sie von nichts anderem sprechen?«

Amhersts Brauen verdunkelten sich. »Bei meinen ist das nicht so,« begann er; aber sie hob die Hand mit einer Schweigen gebietenden Geste.

»Ich weiß, du hast alles versucht, dass es nicht dahin kommen sollte; und vielleicht hattest du mehr Erfolg als ich. Aber ich bin erschöpft, furchtbar erschöpft – ich will weg von allem!«

Sie erkannte einen Ausdruck der Qual in seinen Augen. Er lehnte weiter am Kaminsims, neigte leicht den Kopf und fixierte ohne hinzuschauen einen entfernten Schnörkel im Tapetenmuster; dann sagte er leise: »Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe – dass ich verstehe, warum du es getan hast.«

»Danke,« antwortete sie ebenso leise.

Es gab eine weitere Pause, denn sie traute sich nicht weiter zu sprechen; und bald fragte er mit einem Hauch von Bitterkeit in seiner Stimme: »Das stellt dich nicht zufrieden?«

Sie zögerte. »Es stellt mich insoweit zufrieden, wie es dich befriedigt – mehr nicht,« erwiderte sie schließlich.

Er schaute hastig auf. »Was meinst du?«

»Genau was ich sage. Wir können beide zur Zeit nicht so weiter leben auf dieser Grundlage.« Sie erhob sich, während sie sprach, und kam hinüber zum Kamin. »Ich will wieder in meinen Krankenschwester-Beruf zurückkehren – in Michigan, in einer Stadt, wo ich in dem Jahr, bevor ich nach Hanaford kam, einige Monate verbracht habe. Ich habe Freunde dort und kann leicht Arbeit bekommen. Und du kannst den Leuten sagen, ich sei krank und brauche eine Abwechselung.«

Es war leichter auszusprechen, als sie sie gedacht hatte, und ihre Stimme hielt ihren klaren Ton bis zum Schluss; aber als sie fertig war, fing der ganze Raum an, von ihren Worten widerzuhallen, und durch das Klirren, das sie in ihrem Kopf verursachten, spürte sie ein plötzliches unkontrollierbares Verlangen, sie möchten ihn zu einem Aufschrei des Protests, des Widerstands provozieren. Oh, wenn er es ablehnte, sie gehen zu lassen – wenn er sie an sich zog und der Welt trotzte, die sie trennen wollte – was wurde dann aus ihrem Versprechen gegenüber Mr. Langhope, und was wurde aus ihrem Entschluss, das Bußgeld alleine zu bezahlen?

Aber einen Herzschlag später wusste sie, die Gefahr – die langersehnte Gefahr! – war vorbei. Ihr Mann war stumm geblieben – er bewegte sich weder auf sie zu noch schaute er sie an; und sie spürte in jedem sich entspannenden Nerv, dass er sie am Ende gehen lassen würde.


 


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