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Das Haus war wieder leer.
Eine Woche war seit Bessys Unfall vergangen, und Freunde und Verwandte hatten sich zerstreut. Der Haushalt war zu seiner Routine zurück gekehrt, der Routine von Krankheit und Schweigen, und wieder arbeitete die perfekt eingestellte Maschinerie beständig, unerbittlich, wie ein Naturgesetz …
So erschien es wenigstens zeitweise Justines unerträglich strapazierten Nerven auf der Folterbank der Einsamkeit, der Ungewissheit, der Vorahnungen. Sie war dankbar gewesen, als die Gaines abreisten – doppelt dankbar, als ein Telegramm von den Bermudas verkündete, Mrs. Carbury sei so »verzweifelt«, dass sie unfähig sei, an Bessys Seite zu eilen – dankbar sogar, dass Mr. Tredegars berufliche Verpflichtungen es unmöglich machten, mehr als jeden zweiten oder dritten Tag für einige Stunden her zu kommen; obwohl es also auf manche Art eine Erleichterung darstellte, wieder allein das Kommando zu führen, gab es Zeiten, in denen das Gewicht der Verantwortung und die Unfähigkeit, ihre Ängste und Ungewissheiten heraus zu schreien, nahezu untragbar schienen.
Wyant war ihre Hauptstütze. Er hatte sich so tapfer über seine Schwäche erhoben, war wieder so vollständig zu dem unermüdlichen Arbeiter früherer Tage geworden, dass sie sich selbst der Ungerechtigkeit beschuldigte, dem unbestimmten Blick und der zitternden Hand physische Ursachen unterstellt zu haben, was bloß einen vorübergehenden Anfall nervöser Empfindlichkeit angezeigt haben mochte. Jetzt jedenfalls hatte er seine Nerven so gut unter Kontrolle, solch ein Verständnis bei dem Fall und eine so markante Leistung im Vollzug der Arbeit gezeigt, dass Dr. Garford am dritten Tag nach dem Unfall seinen eigenen Assistenten zurückgezogen und ihm die Leitung in Lynbrook überlassen hatte.
Zur selben Zeit hatte Justine ihren Dienst im Krankenzimmer aufgenommen, indem sie eine der subalternen Schwestern ersetzte, die plötzlich abberufen wurde. Sie hatte dies umso bereitwilliger getan, als Bessy, die nun größtenteils bei Bewusstsein war, ein paar Mal nach ihr gefragt hatte und unbeschwerter schien, wenn sie sich im Zimmer befand. Sie leistete jedoch nur gelegentlich Hilfe, entlastete zwar die anderen Schwestern, wenn sie aßen oder ruhten, behielt sich aber Freiräume vor, um ein Auge auf den Haushalt zu werfen und Cicely täglich einige Stunden zu widmen.
All dies war Teil einer Ordnung geworden, die bereits so alt schien, wie das Gedächtnis zurück reichte. Sie konnte sich kaum erinnern, wie das Leben vor dem Unfall gewesen war – die sieben schrecklichen Tage erschienen so lang wie die der Schöpfung. Jeden Morgen stand sie auf und erhielt denselben Bericht – »keine Veränderung« – und jeder Tag verging ohne ein Lebenszeichen von Amherst. Natürlich liefen unbedeutendere Neuigkeiten ein; der arme Mr. Langhope war endlich bei Wadi Halfa Wadi Halfa oder Halfa war jahrhundertelang ein wichtiger Handelsort und Nilhafen an der Nordgrenze des nubischen Kulturraumes. Der Ort stand zum Zeitpunkt der Romanhandlung unter britischer Kontrolle und hatte bei der Eroberung des Mahdi-Reichs die Rolle eines wichtigen Vorpostens gespielt. Wadi Halfa besaß 1907, im Veröffentlichungsjahr des Werkes, ca. 3000 Einwohner. Entlang dem Nilufer waren in der Umgebung des Verwaltungssitzes und des Railroad Hotels gepflegte Parks angelegt. Ein neues ziviles Wohnviertel (britisches Cantonment) befand sich in einiger Entfernung, und am gegenüberliegenden westlichen Nilufer waren die Ruinen des altägyptischen Buhen zu sehen. aufgespürt worden und eilte zurück, so schnell Schiff und Bahn ihn trugen; Mrs. Ansell hatte mit ihrer Invaliden in Algier Anker geworfen und telegraphierte ängstliche Nachfragen; doch immer noch kein Lebenszeichen von Amherst. Der Korrespondent in Buenos Ayres hatte nur telegraphiert: »Nicht da. Werde nachforschen« – und seitdem: Schweigen.
Justine hatte sich angewöhnt, in einem kleinen Zimmer gegenüber von Amhersts Schlafraum zu sitzen, nah genug in Bessys Rufweite und gleichzeitig für den Rest des Haushalts erreichbar. Die Wände waren mit alten Drucken und zwei oder drei Photographien früher italienischer Gemälde behangen; in ein niedriges Buchregal hatte Amherst die Bücher gestellt, die er von Hanaford mitgebracht hatte – die englischen Dichter, die griechischen Dramatiker, einige Sachbücher zur Biologie und verwandten Gebieten, und ein paar verstreute, zerlesene Bände: Leckys »European Morals«, Carlyles Übersetzung des »Wilhelm Meister«, Seneca, Epiktet, eine deutsche Grammatik, Bacon als Taschenbuch.
William Edward Hartpole Lecky (1838-1903), bedeutender irischer Kulturhistoriker; die
History of European morals from Augustus to Charlemagne erschien erstmals 1870 in zwei Bänden.
Goethes
Wilhelm Meister (
Wilhelm Meisters Lehrjahre 1795/96,
Wilhelm Meisters Wanderjahre ab 1807) ist der Inbegriff des deutschen Bildungsromans. Seine Wirkung ging weit über den deutschen Kulturraum hinaus. –
Thomas Carlyle (1795-1881), schottischer Historiker und Essayist, ist ganz wesentlich am Transfer deutscher Literatur in den englischen Sprachraum beteiligt. Sein ›
William Meister's Apprenticeship‹ erschien erstmals 1825.
Seneca war im ersten Jh. u.Z. ein römischer Schriftsteller und Philosoph (der Stoa); als Erzieher bzw. Berater des Kaisers Nero bemühte er sich erfolglos, dessen eigensüchtig ausschweifendes Temperament zu kontrollieren. Zuletzt beschuldigte ihn der Kaiser der Beteiligung an einer Verschwörung und befahl ihm die Selbsttötung. Diesem Befehl kam Seneca nach.
Epiktet, stoischer Philosoph des ersten und zweiten Jh. u.Z.
Francis Bacon, englischer Philosoph, Staatsmann und als Wissenschaftler bedeutender Wegbereiter des Empirismus.
Der Raum ähnelte keinem der anderen in Lynbrook – sogar in der Benommenheit ihres Elends spürte Justine dort die befreiende Fluchtmöglichkeit aus dem großen, seelenlosen Haus. Manchmal nahm sie eines der Bücher, las einige Seiten und ließ vom Rhythmus der Verse ihr pochendes Hirn beschwichtigen oder die starken Worte stoischer Weisheit in ihr Herz sinken. Und sogar wenn keine Zeit für diese kurzen Fluchten aus der Realität blieben, tröstete es sie, die Gegenwart großer Gedanken um sich zu spüren – zu wissen, dass in diesem Raum, unter diesen Büchern ein anderer rastloser, ratloser Geist nach Alternativen zur »dunklen Antwort« »Dusty Answer« war der Titel von Rosamond Lehmanns erstem Roman aus dem Jahre 1927; die im selben Jahr erschienene deutsche Übersetzung trug den Titel »Dunkle Antwort«; weil diese Formulierung einige Bekanntheit erzielte, ist sie hier für die Passage im Roman Edith Whartons, obwohl sie Lehmanns Werk damals noch nicht kennen konnte, übernommen worden. – Dusty answer bedeutet eigentlich »unbefriedigende Antwort«, unbefriedigend, weil sie nicht hilfreich ist oder aus Missstimmung gallig ausfällt. des Lebens gesucht hatte. Ihre Stunden dort führten dazu, dass sie an Amherst mit weniger Bitterkeit dachte – aber leider auch zu der klareren Erkenntnis des unvereinbaren Gegensatzes zwischen den beiden Naturen, die sie sich wieder zu vereinen bemüht hatte. Das, was für den einen den Kern des Lebens darstellte, war für den anderen ein bedeutungsloser Schatten; und die Kluft zwischen ihnen war zu breit für das Vorstellungsvermögen beider, um überbrückt werden zu können.
Als sie am Nachmittag des siebenten Tages dort saß, klopfte es an der Tür, und Wyant trat ein. Sie konnte gerade noch feststellen, dass er sehr blass war – einige Male hatte sie sein Anblick plötzlicher Erschöpfung, die ebenso schnell verging wie sie gekommen war, betroffen gemacht – dann sah sie, dass er ein Telegramm brachte, und ihr Geist eilte zurück zu seiner hauptsächlichen Sorge. Sie wurde selbst blass, als sie die Nachricht las.
»Er wurde gefunden – in Corrientes Stadt im Nordosten Argentiniens.. Er wird mindestens einen Monat brauchen, um her zu kommen.«
»Einen Monat – guter Gott!«
»Und Mr. Langhope wird vielleicht noch länger brauchen.«
Ihre Blicke begegneten sich.
»Wird es zu lange – –« fragte sie.
»Ich weiß es nicht – ich weiß es nicht.« Er zitterte etwas und wandte sich zum Fenster.
Justine setzte sich, um rasch Botschaften an Mr. Tredegar und die Gaines aufzusetzen: Amhersts Rückkehr musste sofort bekannt gegeben werden. Als sie aufschaute, stand Wyant in ihrer Nähe. Seine starke Abgespanntheit war verflogen, er wirkte ruhig und handlungsbereit.
»Soll ich die mit 'runter nehmen?«
»Nein. Läuten Sie bitte. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Der Bedienstete, der auf das Läuten kam, brachte ein Teebrett herein, und nachdem Justine die Telegramme fertig gemacht hatte, setzte sie sich und begann sich Tee einzuschenken. Essen war ihr während der ersten angstvollen, ungewissen Tage abscheulich vorgekommen, aber mit der Wiederaufnahme der systematischen Gewohnheiten einer Krankenschwester kehrte auch deren pünktlicher Appetit zurück. Mit jedem Tropfen Energie musste jetzt sparsam umgegangen werden, und nur Schlaf und Ernährung vermochten die leeren Zisternen zu füllen.
Sie hielt Wyant eine Tasse hin, aber er wies sie mit einer Gebärde des Widerwillens zurück.
»Danke, ich bin nicht hungrig.«
»Sie sollten mehr essen.«
»Nein, nein. Es geht mir gut.«
Neu belebt von dem warmen Getränk, hob sie den Kopf. Nachdem die mechanische Handlung der Ernährung verrichtet war, sprang ihr Verstand zurück zu der Aussicht auf Amhersts Rückkehr. Ein ganzer Monat, bevor er in Lynbrook ankam! Er hatte sie unterrichtet, wohin sie ihm unterwegs Neuigkeiten melden könne … aber einen ganzen Monat warten!
Sie sah Wyant an, und sie lasen jeder des anderen Gedanken.
»Das ist eine lange Zeit,« sagte er.
»Ja.«
»Aber Garford vermag Wunder zu vollbringen – und sie ist sehr stark.«
Justine erschauerte. Genauso mochte ein geschickter Scherge der Inquisition gesprochen haben, wenn er berechnete, wie lange noch die Leidensfähigkeit in einem auf das Rad geflochtenen Körper künstlich aufrecht erhalten werden konnte …
»Welchen Eindruck macht sie heute auf Sie?«
»Der allgemeine Zustand ist etwa derselbe. Das Herz hält sich wunderbar, aber es liegt etwas mehr Druck auf dem Zwerchfell.«
»Ja – sie atmet schwerer. Letzte Nacht litt sie zeitweise ganz furchtbar.«
»Oh – sie wird leiden,« murmelte Wyant. »Natürlich können größere Subkutanspritzen eingesetzt werden.«
»Genau das, was Dr. Garford heute morgen sagte?«
»Er ist erstaunt über ihre Stärke.«
»Aber gibt es keine Hoffnung? – Ich weiß nicht, warum ich danach frage!«
»Hoffnung?« Wyant schaute sie an. »Sie meinen, was man Genesung nennt – oder Hinauszögern des Todes auf unbestimmte Zeit?«
Sie nickte.
»Was kann Garford dazu sagen – oder irgend ein anderer? Wir alle wissen, es hat Fälle gegeben, wo eine solche Verletzung am Rückenmark nicht den Tod verursacht hat. Dies könnte einer dieser Fälle sein; aber der bedeutendste Fachmann wüsste jetzt nichts darüber zu sagen.«
Justine schloss ihre Augen. »Welch ein Schicksal!«
»Genesung? Ja. Leute in solchen Fällen am Leben zu halten, ist eine jener raffinierten Grausamkeiten, die zu erfinden der Christenheit überlassen blieb.«
»Und also –«
»Und also – muss es sein! Die Wissenschaft selbst sagt es – nicht um des Patienten willen natürlich; sondern um ihrer selbst willen – eigentlich um der ungeborenen Generationen willen. Seltsam, oder? Die beiden Konfessionen sind sich da einig.«
Justine murmelte durch ihre verschlungenen Händen: »Ich wünschte, sie wäre nicht so stark – –«
»Ja; es ist wundervoll, was solche gebrechlichen, verhätschelten Körper aushalten können. Der Kampf wird hart werden.«
Sie stand mit einem Schaudern auf. »Ich muss zu Cicely – –«
Der Pfarrer von St. Anna hatte wieder angerufen. Justine hatte ihn entsprechend Mrs. Gaines' Vorschlag am Tag nach dem Unfall von Clifton herbei holen lassen; unterstützt von den Chirurgen und Wyant hatte sie ihm jedoch den Zutritt zum Krankenzimmer verwehrt. Bessys religiöse Praxis war rein mechanischer Natur gewesen: ihr Glaube besaß keine Verbindung zu den ernsteren Momenten ihres Lebens, und das Auftreten eines Geistlichen an ihrem Bett würde ihr nicht Trost spenden, sondern auf Unheil hindeuten. Weil es von höchster Bedeutung war, dass ihre Nervenstärke erhalten blieb und deshalb der Ernst der Lage von ihr fern gehalten wurde, gab Mrs. Gaines den medizinischen Anweisungen nach, getröstet vom bereitwilligen Einverständnis des Pfarrers. Aber ehe sie abreiste, nahm sie ihm noch das Versprechen ab, häufig in Lynbrook anzurufen und auf die Gelegenheit zu warten, Mrs. Amherst ein erbauliches Wort zu sagen.
Hochwürden Ernest Lynde, ein junger Mann mit mehr Eifer als Erfahrung, hielt es für seine Pflicht, diese Aufforderung wörtlich zu befolgen; bislang indes musste er sich mit einem Gespräch mit dem Hausmeister oder einem kurzen Wortwechsel mit Wyant vor der Haustür bescheiden. Heute freilich hatte er etwas einigermaßen nach Miss Brent gefragt; und da Justine im Augenblick Zeit hatte, glaubte sie, dass sie nicht ablehnen könne, herunter zu kommen. Sie hatte ihn vorher nur auf der Kanzel erlebt, wenn sie in Bessys Abwesenheit Cicely einige Male zur Kirche begleitet hatte: er hinterließ den Eindruck eines würdigen jungen Mannes mit guter Stimme, aber holpriger Rede. Seine Predigten waren ernst, jedoch wirkungslos.
Als er aufstand, um sie zu begrüßen, spürte sie, dass er ihr außerhalb der Kirche lieber war. Sein Blick wirkte klar und aufrichtig, und in seinem zögerlichen Lächeln lag Anmut.
»Es tut mir leid, aufdringlich zu erscheinen – aber ich vernahm, Sie hätten Neuigkeiten von Mr. Langhope, und ich wollte gerne die Einzelheiten erfahren,« erklärte er.
Justine erwiderte, dass ihre Nachricht Mr. Langhope in Wadi Halfa erreicht habe, und er hoffe, beizeiten in Alexandria einzutreffen, um Ende der Woche noch einen Dampfer nach Brindisi zu bekommen.
»Vorher also nicht? So wird es fast drei Wochen –«
»Soweit ich es einschätzen kann, einen Monat.«
Der Pfarrer zögerte. »Und Mr. Amherst?«
»Er kommt auch zurück.«
»Ah, das haben Sie erfahren? Darüber bin ich froh. Wird er bald hier sein?«
»Nein. Er befindet sich in Südamerika – in Buenos Ayres. Es wird erst in einigen Tagen ein Dampfer gehen, und er mag wohl erst nach Mr. Langhope hier sein.«
Mr. Lynde sah sie freundlich mit ernsten, Hilfe anbietenden Augen an. »Das ist furchtbar für Sie, Miss Brent.«
»Ja,« antwortete Justine nur.
»Und Mrs. Amhersts Zustand – –«
»Ist immer noch derselbe.«
»Die Ärzte haben Hoffnung?«
»Sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben.«
»Sie scheint ihre Stärke wunderbar zu bewahren.«
»Ja, wunderbar.«
Mr. Lynde hielt inne, schaute nach unten und drehte seinen weichen Pfarrershut unbehaglich in seinen nett aussehenden Händen. »Man könnte darin fast eine göttliche Fügung sehen – wir sollten es so sehen, Miss Brent.«
» Wir?« Sie schaute entschuldigend auf, weil sie nicht sicher war, ob ihr erschöpfter Geist die Bedeutung seiner Worte erfasst hatte.
»Wir, ich meine, wer daran glaubt … dass kein Spatz zu Boden fällt …« Er wurde rot und fuhr in einem weltlicheren Ton fort: »Ich bin froh, dass die Hoffnung auf Mr. Langhopes Ankunft Sie aufrecht halten wird. Moderne Wissenschaft – dem Himmel sei Dank! – vermag solche Wunder zu vollbringen beim Erhalten und Verlängern des Lebens, dass sogar, wenn es nur wenig Hoffnung auf Genesung gibt, der schwache Funke genährt werden mag, bis …«
Er hielt wiederum inne, da er sich bewusst geworden war, dass die junge Frau mit ihren dunklen Brauen, die sich dort schlank in ihrem dunkelblauen Leinen und ihrer Schwesternhaube aufrichtete, ihn mit einer Entschlossenheit prüfte, die in seltsamem Kontrast stand zu dem geistig abwesenden Blick, den sie beim Eintreten auf ihn geworfen hatte.
»In solchen Fällen,« sagte sie mit leiser Stimme, »besteht praktisch keine Chance auf Genesung.«
»So hörte ich.«
»Selbst wenn sie bestünde, wäre es wahrscheinlich ein lebendiger Tod: vollständige Lähmung des Unterkörpers.«
Er schauderte. »Ein schreckliches Schicksal. Sie war so fröhlich und aktiv – –«
»Ja – und der Kampf mit dem Tod wird in den nächsten paar Wochen unausgesetztes Leiden mit sich bringen … fürchterliches Leiden … vielleicht umsonst …«
»Ich fürchtete dies,« murmelte er; sein freundliches Gesicht war erbleicht.
»Warum danken Sie dann dem Himmel, dass die moderne Wissenschaft solche wunderbaren Wege zur Verlängerung des Lebens gefunden hat?«
Er hob seinen Kopf mit einem Ruck, und ihre Augen begegneten sich. Er sah, dass das Gesicht der Schwester blass und ruhig war – fast richterlich in seiner Gefasstheit – und er fand zu seiner Selbstbeherrschung zurück.
»Als Christ,« erwiderte er mit seinem langsamen Lächeln, »kann ich kaum anders.«
Justine betrachtete ihn fortwährend gedankenvoll. »Die Männer der älteren Generation – die Geistlichen, meine ich,« fuhr sie mit leiser, kontrollierter Stimme fort, »würden natürlich diesen Standpunkt einnehmen – müssen ihn einnehmen. Aber die Bedingungen haben sich so sehr geändert – so viele nie erträumte Mittel, das Leben zu verlängern – das Leiden zu verlängern – sind in den letzten paar Jahren entdeckt und angewendet worden, dass ich mich wundere … bei meinem Beruf wundert man sich oft …«
»Ich verstehe,« versetzte er voller Mitgefühl und vergaß dabei seine Jugend und seine Unerfahrenheit, weil er einem bekümmerten Gemüt einfach Trost spenden wollte. »Ich verstehe Ihre Gefühle – aber Sie brauchen keine Bedenken zu haben. Das menschliche Leben ist heilig, und die Tatsache, dass sogar in diesem materialistischen Zeitalter Wissenschaft beständig darum kämpft, es zu erhalten und zu verlängern, beweist – sehr schön, finde ich – wie alle Dinge zusammen arbeiten, um den göttlichen Willen zu erfüllen.«
»Dann glauben Sie also, dass der göttliche Wille an bloßem Schmerz – bloßem bedeutungslosen, animalischen Leiden – um seiner selbst willen seine Freude hat?«
»Sicher nicht; aber um des seelischen Lebens willen, das geheimnisvoll jenem abgerungen werden könnte.«
Verblüfft zog sie ihre Brauen zusammen und schaute ihn an. »Ich könnte diesen Standpunkt bei moralischem Leiden verstehen – oder sogar bei physischem Schmerz, der so maßvoll ist, dass der Verstand klar bleibt und Eigenschaften wie Ausdauer und Entsagung angespornt werden. Aber wenn der Leib zu Brei zermalmt ist und der Geist nur noch als Maschine zur Registrierung von Sinneseindrücken physischer Ängste funktioniert, wie kann solches Leiden seinem Eigentümer nutzen – oder dem göttlichen Willen?«
Der junge Pfarrer schaute sie traurig an, beinahe streng. »An dieser Stelle, Miss Brent, berühren wir unergründliche Dinge, und die menschliche Vernunft muss die Antworten dem Glauben überlassen.«
Justine dachte nach. »So dass – könnte man sagen – das Christentum keine Ausnahmen anerkennt –«
»Keine – keine,« verkündete dessen autorisierter Vertreter emphatisch.
»Dann sind sich Christentum und Wissenschaft also einig.« Sie erhob sich, und der junge Pfarrer stand mit sichtlichem Widerstreben ebenfalls auf.
»Das wiederum ist einer der auffälligsten Beweise –« fing er an; und als sich ihm dann die Notwendigkeit, sich zu verabschieden, aufdrängte, fügte er bittend hinzu: »Ich habe Verständnis für Ihre Ungewissheiten, Ihre Fragestellungen, und ich wünschte, ich hätte meinen Standpunkt klarer machen können – –«
»Ich danke Ihnen; er ist völlig klar. Die Gründe sind natürlich unterschiedlich; aber das Ergebnis ist exakt dasselbe.«
Sie streckte ihre Hand aus und lächelte ihn traurig an; mit plötzlich wieder gewonnener Jugend und Selbstbewusstheit murmelte er schüchtern: »Ich fühle mit Ihnen« – den Mann in ihm ergriff bei Ihrer Einsamkeit Verlangen, während der Pfarrer nicht wagte, ihr seine Hilfe aufzudrängen …