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In der chirurgischen Station des Hope Hospital von Hanaford beugte sich eine Krankenschwester über einen jungen Mann, dessen rechter Arm mitsamt der Hand in einem Verband ausgestreckt auf dem Bett lag.
Sein Kopf bewegte sich unruhig; sie schob ihren Arm hinter ihn und ordnete fachkundig die Kissen neu an. »Ist das besser so?«
Während sie sich vorneigte, erhob er seine ängstlich verwirrten Augen, die tief eingesunken unter leidvollen Stirnfalten lagen. »Ich nehm' mal an, das war's dann wohl für mich, oder?« fragte er und wies dabei mit seiner freien Hand – der schmutzigen, zerfurchten Hand eines Arbeiters – zu dem reglosen Bündel auf der Bettdecke.
Ihre unmittelbare Antwort bestand nur darin, ihm die feuchte Stirn abzuwischen; dann sagte sie: »Wir werden morgen darüber sprechen.«
»Warum nicht jetzt?«
»Weil Dr. Disbrow nichts sagen kann, bevor die Entzündung zurückgeht.«
»Wird sie bis morgen zurückgehn?«
»Das wird sie allmählich, wenn Sie sich nicht selbst aufregen und das Fieber hoch halten.«
»Mich selbst aufregen? Ich – ich hab' da vier zu Haus' – –«
»Na also: dann gibt es vier Gründe, sich ruhig zu verhalten,« erwiderte sie.
Sie sprach nicht in dem beschwichtigenden Tonfall ihres Berufs; anscheinend verachtete sie es, den Leidenden zu beschwatzen oder zu täuschen. Ihre volle junge Stimme behielt ihren kühlen Klang von Autorität, so dass sich ihr Mitgefühl nur in der kundigen Berührung ihrer Hände und der beständigen Wachsamkeit ihrer dunklen, ruhigen Augen offenbarte. Diese Wachsamkeit linderte sich zu Mitleid, als der Patient seinen Kopf mit einem Stöhnen abwandte. Seine freie linke Hand fuhr weiter über das Betttuch, umklammerte es und ließ es in Verrenkungen fieberhafter Unrast wieder los, so als ob all die Qual seiner Verstümmelung Ausdruck gewönne in dieser einsamen Hand, die nun ohne Arbeit in der Welt zurück blieb, da ihr Kamerad unbrauchbar geworden war.
Die Schwester spürte eine Berührung an der Schulter und erhob sich, um sich der Oberschwester zuzuwenden, einer Frau mit scharfen Gesichtszügen und sanftem Tonfall.
»Dies ist Mr. Amherst, Miss Brent, der stellvertretende Geschäftsführer der Textilfabrik. Er wünscht Dillon zu sehen.«
John Amhersts Schritt war bemerkenswert geräuschlos. Die von Natur aus empfindsame und für sämtliche körperlichen Merkmale geschulte Schwester war betroffen über den Gegensatz zwischen der Aufgewecktheit in seinem Gesicht und seiner Gestalt und der lautlosen Art seiner Bewegung. Sie bemerkte auch, dass sich derselbe Gegensatz in seinem Gesicht selbst wiederholte, seine knappen tatkräftigen Konturen, mit der vorgereckten Nase und den zusammengepressten Lippen eines Mannes, der Menschen zu bewegen weiß, und dies eigentümlich abgewandelt durch den verhangenen, innerlichen Blick aus grauen Augen, die er auf sie richtete. Eine der Vorlieben in Justine Brents ausgefülltem und doch einsamem Leben war, sich um eine rasche geistige Einordnung der Menschen zu bemühen, denen sie begegnete; aber die Widersprüche in Amhersts Gesicht ließen sie ratlos, und sie murmelte im Stillen: »Ich weiß nicht«, während sie sich zur Seite wandte, damit er ans Bett treten könne. Er stand schweigend neben ihr, seine Hände hinter sich verschränkt, die Augen auf den verletzten Mann gerichtet, der bewegungslos da lag wie in Lethargie versunken. Die Oberschwester war auf den Ruf einer anderen Schwester die Station hinunter gestöckelt, nachdem sie Amherst mit einem Blick Miss Brent anvertraut hatte; und die beiden blieben allein an dem Bett.
Nach einer Weile bewegte sich Amherst zu dem Fenster jenseits des leeren Krankenbetts, das neben Dillons stand. Eine der weißen Abschirmungen, die zur Absonderung sterbender Patienten dienen, war vor dieses Bett gestellt worden, das letzte am Ende der Station, und der Raum jenseits davon bildete eine abgeschlossene Ecke, wo ein paar Worte außer Reichweite der Augen in den anderen Betten gewechselt werden konnten.
»Schläft er?« fragte Amherst, als Miss Brent sich zu ihm gesellte.
Miss Brent schaute ihn wieder an. Seine Stimme bekundete nicht allein Bildung, sondern etwas anderes, Tieferes – die vertraute Gewohnheit einfühlsamen Sprechens; seine abgetragene Kleidung – sorgsam gebürstet, aber schlecht geschnitten und ausgeleiert – saß bei ihm gut und zeigte denselben Unterschied.
»Das Morphium hat ihn schläfrig gemacht,« antwortete sie. »Die Wunden wurden vor etwa einer Stunde verbunden, und der Doktor hat ihm eine Spritze gegeben.«
»Die Wunden – wieviele sind es?«
»Außer der Hand ist sein Arm bis zum Ellbogen schlimm zerfetzt.«
Amherst lauschte mit gebeugtem Kopf und gerunzelter Stirn.
»Was halten Sie von dem Fall?«
Sie zögerte. »Dr. Disbrow hat nichts gesagt – –«
»Und es ist nicht Ihre Aufgabe?« Er lächelte schwach. »Ich kenne die Krankenhausregeln. Aber ich habe einen besonderen Grund zu meiner Frage.« Er brach ab und schaute sie wieder an, sein verhangenes Starren schärfte sich zu einem Blick konzentrierter Aufmerksamkeit. »Sie sind keine der regulären Krankenschwestern, nicht wahr? Ihr Kleid scheint von anderer Farbe zu sein.«
Sie lächelte über das »scheint zu sein«, das eine langsame und unvollkommene Wahrnehmung des Unterschiedes zwischen dunkelblauem und weißem Leinen anzeigte.
»Nein: ich war zufällig in Hanaford, und als ich hörte, dass man Operationsschwestern brauche, bot ich meine Hilfe an.«
Amherst nickte. »Um so besser. Gibt es irgend wo einen Ort, wo ich zwei Worte mit Ihnen sprechen kann?«
»Ich kann die Station jetzt kaum verlassen, bevor Mrs. Ogan zurück kommt.«
»Es liegt mir nichts daran, dass Sie Mrs. Ogan rufen,« warf er rasch ein. »Wann haben Sie Dienstschluss?«
Sie sah ihn überrascht an. »Wenn Ihre Frage etwas mit der Behandlung der Angelegenheiten hier zu tun hat – Sie wissen, wir dürfen über unsere Patienten nicht außerhalb des Krankenhauses sprechen.«
»Ich weiß. Aber ich werde Sie bitten, gegen diese Regel zu verstoßen – um dieses armen Burschen willen.«
Ein Protest schwebte auf ihren Lippen, aber er hielt ihre Augen in festem Beschlag, mit einem Funkeln guter Laune hinter seiner Entschlossenheit. »Wann haben Sie Dienstschluss?«
»Um sechs.«
»Ich werde an der Ecke South Street warten und ein paar Schritte mit Ihnen gehen. Lassen Sie mich meine Angelegenheit vorbringen, und wenn Sie nicht überzeugt sind, können Sie die Antwort verweigern.«
»Na gut,« sagte sie ohne weiteres Zögern; und Amherst schritt mit einem leichten Abschiedsnicken durch die Tür, in deren Nähe sie gestanden hatten.