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X.

Ah, Mrs. Dressel, wir hielten Ausschau nach Ihnen – wir haben mit dem Aufzug des Vorhangs noch gewartet. Ihre Freundin Miss Brent? Juliana, Mrs. Dressels Freundin, Miss Brent – –«

Neben dem prächtig gestreiften Festzelt, das den Drehangelpunkt von Gaines' Gartenpartys bildete, stand Mr. Halford Gaines, ein paar Schritte entfernt von Frau und Töchtern, und vermittelte dem Besucherstrom, der sich über den Rasen ergoss, das Gefühl eines königlichen Empfangs. Nur für Augen, die durch einen abweichenden gesellschaftlichen Standpunkt irregeleitet waren, konnte es einen Zweifel an der Wichtigkeit von Gaines' Veranstaltungen geben. Für Hanaford selbst besaßen sie epochale Bedeutung; und wenn ein rebellischer Geist einen Zweifel an dieser Tatsache gehegt hätte, so wäre dieser durch die geradezu amtliche Majestät von Mr. Gaines' Frack und die allumfassende Kordialität seines Auftretens bezwungen worden.

Es gab Momente, da hing New York wie eine beunruhigende Wolke am gesellschaftlichen Horizont von Mrs. Gaines und ihren Töchtern; aber für Halford Gaines war Hanaford sein Ein und Alles. Als Vertreter der populären patriotischen »Gut-genug-für-mich«-Theorie genoss er höchstes Ansehen im Hanaford Club, wo eine übermäßige Orientierung auf die Metropole durch simple Anspielungen im Wechsel mit gezielter Nichtbeachtung bekämpft und die unabgeklärten Phantastereien der Jugend geläutert und zur Ruhe gebracht wurden durch die Überlegung, dass Hanaford, wenn es denn für Halford Gaines gut genug war, Chancen zu bieten haben müsse, die den größten Lebensentwürfen angemessen waren.

Niemals legte Mr. Gaines' Auftreten ergiebigeres Zeugnis ab für das, was aus Hanaford heraus zu holen war, als wenn er gerade den mächtigen Druck seiner Gastfreundlichkeit hierfür verwendete. Die daraus resultierende Essenz trieb solche Blasen gesellschaftlichen Hochgefühls, dass – jedenfalls für dessen Produzenten – seine etwas gemischten Zutaten sich in einem äußerst aromatischen Luftstrom verloren. Unter gewöhnlichen Umständen unterschied niemand sorgfältiger als Mr. Gaines die unterschiedlichen Schattierungen gesellschaftlicher Bedeutung; aber jeder, der sich von ihm unterhalten ließ, wurde für den Augenblick durch diese Tatsache geadelt, und auch die ganze ängstliche Telegraphie seiner Frau und der Töchter war nicht im Stande, ihm zum Beispiel in Erinnerung zu rufen, dass die beeindruckende junge Frau in Mrs. Dressels Gefolge nur deren obskurer Schützling war, den mitzubringen ziemlich abwegig von Effie schien und dessen Anwesenheit man schon gar nicht zu unterstreichen brauchte.

»Juliana, Miss Brent erzählte mir, sie habe unsere Rosen noch nicht gesehen. Oh, es gibt natürlich andere Rosen in Hanaford, Miss Brent; ich will damit nicht unterstellen, dass niemand sonst sich an ihnen versucht; aber bevor man es sich nicht leisten kann, dem Mann seines Vertrauens carte blanche zu geben – und meiner ist zufällig so etwas wie ein Spezialist … also, wenn Sie mich begleiten wollen, lasse ich sie für sich selbst sprechen. Ich sage immer, wenn die Leute wissen wollen, zu was wir im Stande sind, müssen sie kommen und es sich anschauen – sie werden es aus mir nie herausbekommen!«

Ein eindringlicheres Zeichen seiner Frau hielt Mr. Gaines auf, als er gerade Miss Brent mitnehmen wollte.

»Äh? – Was? Die Amhersts und Mrs. Ansell? Dann müssen Sie mich entschuldigen, es tut mir leid – aber Westy wird sich Ihrer annehmen. Westy, mein Junge, es hat vielleicht auch 'was Gutes … zeig doch bitte dieser jungen Dame unsere Rosen!« Und mit einer Mischung aus Widerwillen und Befriedigung wandte sich Mr. Gaines ab, um die wichtigsten Gäste des Tages zu empfangen.

Es hätte seines Vaters Aufforderung nicht bedurft, um den erfahrenen Westy zu Miss Brent zu locken: er gravitierte bereits mit jener Lässigkeit auf sie zu, die aus weltstädtischen Erfolgen herrührt, zugleich mit einer zielsicheren Direktheit auch auf Grund seiner größeren Vergleichsmöglichkeiten.

»Die Rosen werden genügen,« erklärte er, als er sie durch den wachsenden Kreis von Gästen um seine Mutter führte; und Justines fragenden Blick beantwortend: »Sie dort weg zu bringen, meine ich. Für sich selbst bedeuten sie nicht viel, wissen Sie; aber alles, was vom Gouverneur kommt, beginnt mit Großbuchstaben.«

»Oh, aber diese Rosen verdienen es,« rief Justine aus, als sie unter dem immergrünen Bogengang am hinteren Ende des Rasens stehen blieben.

»Ich weiß nicht – nicht, wenn Sie schon in England gewesen sind,« murmelte Westy und wartete verstohlen auf die Wirkung, die in einem, bei dem dies voraussichtlich nicht der Fall gewesen war, durch die große rote Pracht vor dem dunklen Hintergrund gestutzten Immergrüns erzeugt wurde.

Justine lächelte. »Ich war dort – aber seither habe ich mich in den Elendsvierteln aufgehalten; an furchtbaren Orten – die geringste dieser Blumen hätte sie wie eine Lampe erhellt.«

Westys wacher Blick wurde unwillkürlich weich. »Es ist die allerschlimmste Schande, dass Sie je solche Arbeit tun mussten – –«

»Oh, musste?« entgegnete sie irritierender Weise. »Es war meine eigene Wahl, wissen Sie: es gab eine Zeit, wo ich nicht ohne dies leben konnte. Philanthropie ist eine der subtilsten Formen von Selbstgefälligkeit.«

Westy quittierte dies durch ein vages Lachen. Wenn ein Kerl, der so wissend war wie der Teufel, sich 'mal gewissermaßen tatsächlich selbst gefiel in dem Luxus, sich leichtsinnig mit einem Mädchen mit so außergewöhnlichen Augen zu unterhalten, dann war es ziemlich verwirrend, in diesen Augen kein Bewusstsein des Risikos zu entdecken, das er auf sich genommen hatte.

»Aber ich bin das nun ziemlich leid,« fuhr sie fort, und sein Auge wurde wieder wachsam. Bei alledem waren sie doch alle gleich – abgesehen vielleicht von diesen besonderen Augen. Bei diesem Gedanken riskierte er einen weiteren Blick, schwebte auf dem scharfen Grat der Preisgabe und wurde zurück gerissen, aber nicht durch den menschlichen Instinkt der Selbsterhaltung, sondern durch das Locken eines in den Tiefen lauernden Kobolds des Spottes.

Er gewann sein Gleichgewicht zurück und suchte Zuflucht in einem Ton weltmännischer Leichtigkeit. »Ich traf dieser Tage einen Kerl, der sagte, er kenne Sie aus Ihrer Zeit am St. Elisabeth's – hieß so nicht Ihr Krankenhaus?«

Justine stimmte zu. »Wohl einer der Ärzte. Wo trafen Sie ihn?«

Aha, jetzt sollte sie 'mal sehen! Er beschwor sein Äußerstes an sorglosem Ton herauf. »Unten in Long Island letzte Woche – ich verbrachte den Sonntag mit den Amhersts.« Er hielt ihr die funkelnde Tatsache entgegen und wartete zumindest auf ein kleines ehrfürchtiges Blinzeln; aber ihre Lider zitterten nicht. Es war ein Geständnis gesellschaftlicher Blindheit, das schmerzlich Mrs. Dressels Andeutung widerlegte, dass sie die Amhersts kenne; sogar wenn sie nur von ihnen gewusst hätte, könnte sie nicht in so fataler Weise seinen Hinweis übersehen haben.

»Long Island?« Sie runzelte ihre Stirn in ratloser Rückschau. »Könnte es vielleicht Stephen Wyant gewesen sein? Ich hörte, er habe die Praxis seines Onkels in der Nähe von New York übernommen.«

»Wyant – so heißt er. Er ist Arzt in Clifton, der für die Amhersts nächstgelegenen Stadt. Die kleine Cicely hatte eine Erkältung – Cicely Westmore, wissen Sie – eine kleine Cousine von mir übrigens –« Er schob ihr einen Rosenzweig aus dem Weg und erklärte, während sie weiterging, dass Cicely die Tochter aus Mrs. Amhersts erster Ehe mit Richard Westmore sei. »So kam ich dazu, Dr. Wyant kennen zu lernen. Bessy – Mrs. Amherst – bat ihn zum Mittagessen zu bleiben, nachdem er sich das Kind angesehen hatte. Er scheint ein ziemlich unzufriedener Knabe zu sein – er schimpfte, dass er seine Praxis nicht in New York habe. Ich hätte gedacht, er besäße einen ziemlich gemütlichen Ankerplatz da unten in Lynbrook mit all den hohen Tieren, die da zu verarzten sind.«

Justine lächelte. »Dr. Wyant ist ehrgeizig, und ›hohe Tiere‹ haben nicht so interessante Krankheiten wie arme Leute. Man wird es leid, ihnen Brotpillen Aus Stärke und Brot wurden damals Placebos produziert. gegen imaginäre Leiden zu verabreichen. Aber Dr. Wyant ist selbst nicht stark, und ich glaube, eine Landpraxis ist besser für ihn als harte Arbeit in der Stadt.«

»Sie halten ihn aber trotzdem für tüchtig, oder?« fragte Westy abwesend. Er war bereits von dem Thema des Long-Island-Arztes gelangweilt und zudem gereizt wegen des Mangels an Wahrnehmung, der seine Begleiterin dazu gebracht hatte, am Geschick eines Landarztes mehr Anteil zu nehmen als an der Tatsache seines eigenen Besuchs bei den Amhersts; aber der Gegenstand war von sicherer Art, und es war angenehm zu sehen, wie ihr Gesicht aufleuchtete, wenn sie interessiert war.

Justine dachte über seine Frage nach. »Ich denke, er ist sehr vielversprechend – aber ziemlich gewiss wird er dieses Versprechen nicht erfüllen,« antwortete sie mit einem Seufzer, der in Westys bangen Ohren ein mehr als nur berufliches Interesse an der betreffenden Person verriet.

»Oh, kommen Sie! – Warum nicht? Wo die Amhersts ihn doch bei seinem Start unterstützen – ich hörte, wie meine Cousine ihn am nächsten Tag einem Haufen Leute empfahl – –«

»Oh, er mag ein Arzt werden, der in Mode kommt,« stimmte Justine gleichgültig zu, worauf ihr Begleiter mit einem verdutzten Blick erwiderte: »Das ist genau, was ich meine – mit Bessy hinter ihm!«

»Ist Mrs. Amherst denn so mächtig geworden?« fragte Justine, das begehrte Thema aufgreifend, gerade als er daran verzweifeln wollte, es an sie heran zu bringen.

»Meine Cousine?« Er streckte die drei Silben bis zum Knackpunkt. »Nun, sie ist schrecklich reich, wissen Sie; und niemand ist eleganter. Denken Sie nicht auch?«

»Keine Ahnung; es ist so lange her, dass ich sie sah.«

Er hellte sich auf. »Sie kannten sie also?« Aber diese Entdeckung machte ihre Begriffsstutzigkeit um so unerklärlicher!

»Oh, vor Jahrhunderten: in einer anderen Welt.«

» Jahrhunderte – das gefällt mir!« protestierte Westy galant und entfachte erneut seine Glut, da sie wieder innerhalb seines gesellschaftlichen Gesichtskreises auftauchte. »Und Amherst? Sie kennen ihn auch, nehme ich an? Um Himmels willen, da ist er schon – –«

Er wies auf eine große Gestalt, die langsam mit gebeugtem Kopf und grüblerischem Blick auf sie zu schlenderte. Justines Augen hatte von dem Mann, mit dem sie knapp drei Jahre zuvor einen Augenblick solch bewegender Vertrautheit durchlebt hatte, ein lebhaftes Bild zurück behalten, und sie erkannte sofort seine schlanke Figur und den kühnen Schwung seiner Züge, die immer noch verschleiert waren von denselben Blick innerer Versunkenheit. Als er seinen Hut lüftete zur Antwort auf Westys Begrüßung, stellte sie fest, dass die vertikale Linie zwischen seinen Brauen sich vertieft hatte; und einen Augenblick später wurde sie gewahr, dass dieser Wandel lediglich äußeres Zeichen für andere Veränderungen war, die tiefer gingen als seine gute Kleidung und sein allgemeiner Eindruck von Muße und Wohlstand – Veränderungen, die nur ihr wahrnehmbar waren in dem überraschten Gefühl, wie Reichtum ihn hatte altern lassen.

»Hallo, Amherst – versuchst du dich in Deckung zu bringen?« sprach Westy ihn fröhlich an mit einer vielsagenden Geste zum überfüllten Rasen hin, von dem der Neuankömmling augenscheinlich geflohen war. »Ich habe gerade Miss Brent erzählt, dass dies der sicherste Platz bei diesen qualvollen Gelegenheiten ist – Oh, verflixt, er ist nicht so sicher, wie ich dachte! Da kommt eine meiner Schwestern, um sich um mich zu ›kümmern‹!«

Es folgte ein kurzes Wortgefecht, bevor sein schwach flatternder Widerstand von einer resoluten Miss Gaines niedergerungen war, die, während sie ihn zurück zum Festzelt schleifte, Amherst noch zurief, dass seine Mutter auch nach ihm gefragt habe; und dann hatte Justine Zeit zu beobachten, dass ihr verbleibender Begleiter nicht die Absicht verfolgte, dem Appell seiner Gastgeberin zu entsprechen.

Westy hatte, indem er ihren Namen nannte, diesen gerade mit so viel Betonung versehen, dass er als Erinnerung oder als Vorstellung dienen konnte, wie es die Umstände entscheiden mochten, und sie sah, dass Amherst, aus seiner Zerstreutheit durch den angebotenen Anhaltspunkt wachgerufen, seine Hand unschlüssig ausstreckte.

»Ich glaube, wir haben uns einige Jahre nicht gesehen,« sagte er.

Justine lächelte. »Ich habe einen besseren Grund als Sie, mich an das exakte Datum zu erinnern;« und als Antwort auf seinen überraschten Blick fügte sie hinzu: »Sie brachten mich dazu, einen beruflichen Vertrauensbruch zu begehen, und ich wusste seitdem nie, ob ich darüber froh oder traurig sein sollte.«

Amherst schaute sie unverwandt an mit einem Blick, der in äußeren Einzelheiten eher ein Hindernis denn eine Hilfe zum Wiedererkennen zu finden schien; aber plötzlich klärte sich sein Gesicht: »Sie waren es, die mir die Wahrheit über den armen Dillon mitteilte! Ich konnte mir nicht vorstellen, warum ich Sie in einem so anderen Aufzug zu sehen glaubte …«

»Oh, ich bin heute nachmittag als Dame verkleidet,« sagte sie lächelnd. »Aber ich freue mich, dass Sie die Verkleidung durchschaut haben.«

Er lächelte zurück. »Sind Sie das? Warum?«

»Sie ist dann wohl – wenn sie so durchsichtig ist – weniger eine Vortäuschung oder Unehrlichkeit,« begann sie impulsiv, und hielt dann wieder inne, ein wenig verdrossen wegen der Überbetonung ihrer Worte. Weshalb erklärte und entschuldigte sie sich bei diesem Fremden? Beabsichtigte sie etwa, ihm als nächstes zu sagen, dass sie ihr Kleid von Effie Dressel geborgt hatte? Um ihre Verwirrung zu verbergen, fuhr sie ein wenig lachend fort: »Aber Sie haben's mir nicht gesagt.«

»Was hätte ich Ihnen denn sagen sollen?«

»Ob ich froh oder traurig sein soll, dass ich meine Schweigepflicht verletzte und die Wahrheit über Dillon sagte.«

Sie standen vor einander in der Einsamkeit des Gartenweges, achtlos gegenüber allem, bis auf das plötzliche, überraschende Gefühl von Vertrautheit, das für ihre frühere kurze Gemeinschaft kennzeichnend gewesen war. Justine hatte ihre Augen halb lachend zu Amherst erhoben, ließ sie aber vor der unerwarteten Ernsthaftigkeit seines Blicks sinken.

»Warum wollen Sie das wissen?« fragte er.

Sie strengte sich an, den scherzhaften Ton beizubehalten.

»Nun – es könnte zum Beispiel mein künftiges Verhalten bestimmen. Sie sehen: ich bin immer noch eine Krankenschwester, und solche Probleme stellen sich stets von selbst ein.«

»Ah, dann nicht!«

»Nicht?«

»Ich meine –« Er zögerte einen Moment, und langte hinauf, um eine Rose von dem Zweig zu brechen, der seine Schulter berührte. »Ich dachte nur darüber nach, welche Risiken man eingeht, wenn man sich in den Streitwagen der Götter hineindrängt und ihn zu fahren versucht. Bleiben Sie passiv – bleiben Sie passiv, und Sie werden glücklicher sein!«

»Oh, was das betrifft –« Sie fegte es hinweg mit einer ihrer luftigen Bewegungen. »Aber Dillon zum Beispiel – wäre er glücklicher gewesen, wenn ich passiv geblieben wäre?«

Amherst schien nachzudenken. »Andererseits – wie kann man es wissen?«

»Und die Risiken sind es nicht wert?«

»Nein!«

Sie hielt ein, und sie schauten einander wieder an. »Meinen Sie das wirklich ernst? Würden Sie – –«

»… selbst danach handeln? Gott bewahre! Die Götter fahren so schlecht. Da ist der arme Dillon … er war ihnen zufällig im Weg … wie wir alle manchmal.« Er richtete sich auf und fuhr in nüchternem Ton fort: »Auf Dillons Fall sind meine Axiome trotzdem nicht anwendbar. Als meine Frau die Wahrheit vernahm, war sie natürlich ungemein freundlich zu ihm; und wenn Sie nicht gewesen wären, hätte sie wohl nie davon erfahren.«

Justine lächelte. »Ich glaube, Sie hätten es selbst herausgefunden – ich war nur das bescheidene Werkzeug. Aber nun –« sie zögerte – »nun müssten Sie in der Lage sein, so viel zu tun –«

Amherst hob seinen Kopf, und sie sah, wie unter seiner hellen Haut die Farbe zunahm. »Draußen in Westmore? Sie waren seither nicht mehr dort? Ja – meine Frau hat einige Änderungen vorgenommen; aber es ist alles so problematisch – und man müsste hier leben …«

»Dann tun Sie das also nicht?«

Er antwortete mit einem unmerklichen Achselzucken. »Natürlich bin ich oft hier; und sie kommt dann und wann. Aber die Reise ist lästig; und es ist nicht immer leicht für sie loszukommen.« Er riss sich zusammen, und Justine erkannte, dass er nun seinerseits sich plötzlich der Unangemessenheit des Erklärens und Ausbreitens seiner persönlichen Situation gegenüber einer Fremden bewusst wurde. »Aber dann sind wir eben keine Fremden!« frohlockte in ihr eine Stimme, gerade als er in einem verlegenen Versuch, seine Anwandlung des Sichaussprechens auszulöschen und zugleich zu rechtfertigen, hinzufügte: »Das erinnert mich … ich glaube, Sie kennen meine Frau. Ich hörte, wie sie Mrs. Dressel über Sie befragte. Sie möchte Sie so gerne sehen.«

Der Übergang war bewerkstelligt, zwar auf Kosten der dramatischen Spannung, jedoch zum offensichtlichen Triumph gesellschaftlicher Konventionen; und für Justine, die schließlich an seiner Seite wieder zu der Gruppe am Festzelt zurückkehrte, war die Spannung nicht so sehr vermindert, sondern nur verschoben auf das nicht weniger beziehungsreiche Problem, die Jugendfreundin in der unerwarteten Rolle als John Amhersts Frau zu studieren.

Inzwischen waren trotzdem während der kurzen Überquerung des Gaines'schen Rasens ihre Gedanken immer noch mit Amherst beschäftigt. Sie hatte mit einem Mal erkannt, dass jenes besondere, bei ihrem Zusammentreffen wieder erwachte Gefühl der Vertrautheit durch ihre erste Andeutung auf jenes Thema, das sie damals zusammen gebracht hatte, erkaltet und abgelenkt worden war: Amherst hatte sich zurückgezogen, sobald sie die Fabrik erwähnt hatte. Was konnte die Ursache seines Rückzugs sein? Als sie damals zusammengetroffen waren, hatte er für das Thema in Flammen gestanden: dass sie im Grunde eine Fremde gewesen war, hatte damals kein Hindernis für sein Vertrauen dargestellt. Nun, wo er Herr in Westmore war, wurde deutlich, dass sich für ihn ein anderer Ton schickte – dass seine Position eine größere Reserviertheit notwendig machte; aber ihre Anfrage enthielt nicht den geringsten Wunsch, diese Rückzugslinie zu überschreiten: sie bewies nur ihre Erinnerung an sein freimütig eingestandenes Interesse an den Arbeitern. Justine machte es betroffen, dass eine so unbefangene Andeutung ihn anscheinend in die Defensive gedrängt hatte. Sie glaubte keine Sekunde, dass er sein Interesse an der Fabrik verloren hatte; und dass sein Standpunkt sich mit der Eigentümerschaft verschoben haben sollte, verwarf sie als ebenso oberflächliche Deutung seines Charakters. Der Mann, mit dem sie an Dillons Bett gesprochen hatte, war jemand, in dem die bestimmenden Ziele bereits ausgeprägt waren und für den Leben, in welcher Form es auch auftrat, fortan deren Gestalt anzunehmen hatte. Als sie diesen Punkt in ihrer Analyse erreichte, kam ihr der Gedanke, dass sein Zurückschrecken vor dem Thema wohl kaum auf Gleichgültigkeit schließen ließ, sondern eher auf eine tiefere Beschäftigung damit: eine Beschäftigung, die aus irgend einem Grund unterdrückt und fast geleugnet wurde, dennoch umso intensiver ihr peinlich verborgenes Leben behielt. Von dieser Schlussfolgerung war es nur ein Gedankensprung zur nächsten – dass die Ursache der Veränderung außerhalb seiner selbst zu suchen war, in einem externen Einfluss, der stark genug war, die angeborenen Züge seines Charakters zu verändern. Und wo konnte ein solcher Einfluss offensichtlicher zu suchen sein als in der Heirat, die den stellvertretenden Geschäftsführer von Westmore Mills zwar tatsächlich nicht zu dessen Besitzer gemacht hatte – das hätte vielmehr zur Vereinfachung des Problems geführt – sondern zu dem Ehemann von Mrs. Westmore? Schließlich gehörte die Fabrik Bessy – und für ein weitergehendes Verständnis des Falls blieb herauszufinden, welche Art von Persönlichkeit Bessy geworden war.

Justines erster Eindruck, als die bezaubernden Arme ihrer Freundin sie umfingen – mit einem Eifer der Begrüßung, der im aufgeschobenen Urteil des weiblichen Hanaford keineswegs unterging – der unmittelbare Eindruck war der eines Gewinns von Akzentuierung, von Individualität, als ob das fließende Geschöpf, an das sie sich erinnerte, ihre Vorhersage Lügen strafe und am Ende doch zu einer festen Form gefunden hätte. Ja – Bessy hatte Profil gewonnen: ein elegantes, wie es ihren frühen Verheißungen entsprach, jedoch vielleicht mit etwas mehr Schärfe an den Kanten, als ihre jugendliche Gestalt hätte vermuten lassen. Aber die Seite, die sie ihrer Freundin zuwandte, war immer noch reine Sanftheit – sie trug in sich einen Hauch jener alten Biegsamkeit, den Impuls, sich anzulehnen und einzukuscheln, so dass in Justine sofort der entsprechende Instinkt, zu führen und zu schützen, wachgerufen wurde und ihr erster Kuss die beiden, bevor ein Wort gesprochen war, zurück zu genau der Beziehung beförderte, die sie in ihrer Schulzeit gehabt hatten. Ein so leichtes Zurückschalten in die Vergangenheit ließ keinen Raum für das Gefühl anschließender Veränderungen, durch die solche Wiedervereinigungen manchmal in Verlegenheit geraten. Justines Sympathien hatten sich unwillkürlich und fast geradewegs auf Bessys Seite übertragen – wobei die peinliche Erkenntnis, dass es jetzt schon ›Seiten‹ gab, einfach übersprungen wurde – und Bessy hatte Justine hineingezogen in den Kreis sanfter Selbstbefangenheit, weshalb ihr nur ein undeutliches Bewusstsein irgend eines unverkennbaren Charakterzugs in ihren Freunden blieb, abgesehen von deren Zuneigung zu ihr – denn sie bat nur, wie sie es reizvoll ausdrückte, dass sie alle sie »schrecklich liebhaben« sollten.

»Und ich hab' dich so oft gebraucht, Justine: du bist der einzige kluge Mensch, vor dem ich keine Angst habe, weil du deine Klugheit immer verwendet hast, etwas klar zu machen anstatt es zu verwirren. Ich habe so viele nach dir gefragt – aber ich hörte nie etwas, bis neulich – war das nicht seltsam? – als unser neuer Arzt in Rushton An allen übrigen Stellen wird Clifton als Ort von Wyants Arztpraxis genannt. zufällig sagte, dass er dich kannte. Mir ging's in letzter Zeit nicht besonders – ich war nervös, erschöpft und schlief schlecht – und er meinte, ich solle absolute Ruhe bewahren und mich in die Pflege einer Krankenschwester begeben, die mich dazu bringen würde, das zu tun, was sie für richtig hielte: genau so eine Schwester wie die wundervolle Miss Brent, die er am St. Elisabeth's gekannt hatte, deren Patienten ihr gehorchten, als wäre sie der Oberst eines Regiments gewesen. Seine Beschreibung brachte mich zum Lachen, sie erinnerte mich so sehr daran, wie du mich früher im Kloster dazu brachtest zu tun, was du wolltest – und dann fiel mir plötzlich ein, dass ich gehört hatte, dass du dich auf Krankenpflege verlegt habest, und wir verglichen unsere Bemerkungen, und ich entdeckte, dass wirklich du es warst! Ist es nicht seltsam, dass wir einander auf diese Art wiederfinden sollten?«

So sprach Bessy in der halben Abgeschiedenheit, welche, unter einem überwölbenden Buchendach, die Diskretion ihres Gastgebers den beiden Freundinnen zugestanden hatte, um sich für den freieren Austausch von Vertraulichkeiten zurückzuziehen. Auf den ersten Blick bestätigte Mrs. Amhersts Aussehen nicht ihre angedeutete Klage wegen ihrer Gesundheit, aber Justine, die wusste, dass sie vor einigen Monaten ein Baby verloren hatte, nahm an, dass die Wirkung dieses Schocks noch anhielt, wenn auch offenbar gelindert durch ein wieder auflebendes Interesse für hübsche Kleidung und anderen schmückenden des Lebens. Freilich war Bessy Amherst zu vollständiger Lieblichkeit erblüht, wie ihre Kindheit sie verheißen hatte. Sie besaß jene Art fertiger Schönheit, die sich selbst früh ankündigt, sich bei den heiklen Übergängen der Mädchenjahre erhält und den Strapazen aller späteren Schicksalslaunen widersteht, als sei sie in wunderbarer Weise mit einem durchsichtigen Mittel imprägniert, das sie undurchdringlich macht für den Verschleiß des Lebens.

»Du albernes Kind! Du hast dich kein bisschen verändert, außer dass du dich so weiter entwickelt hast!« lachte Justine und leistete amüsiert ihren Tribut für das ›Fischen nach einem Kompliment‹, das Bessys Augen noch immer verrieten.

»Nun, aber du hast dich verändert, Justine – du bist außerordentlich hübsch geworden!«

»Das ist für mich bestimmt ›außerordentlich‹,« räumte die andere unbekümmert ein. »Aber bedenke, wie viel Raum zur Verbesserung vorhanden war – und wie viel Zeit ich hatte, sie vorzunehmen!«

»Eine lange Zeit, nicht wahr?« stimmte Bessy zu. »Ich fühle mich immer noch so vertraut mit der alten Justine im Kloster, und ich kenne die neue kein bisschen. Denk 'mal – ich hab' nun selbst ein großes Mädchen, fast so alt wie wir, als wir damals zum Herz Jesu gingen: Aber vielleicht hast du auch keine Ahnung von mir. Weißt du, ich habe vor zwei Jahren wieder geheiratet, und mein armes Baby starb letzten März … so hab' ich nur Cicely. Es war so eine Enttäuschung – ich wollte so furchtbar gern einen Jungen, und ich verstehe kleine Babys soviel besser als ein großes Mädchen wie Cicely … Oh, Liebste, da kommt Juliana Gaines und bringt uns noch mehr lästige Leute! Es ist so langweilig, aber John sagt, ich muss sie alle kennen. Nun, gottseidank haben wir nur noch einen Tag an diesem entsetzlichen Ort – und natürlich werde ich dich besuchen, bevor wir gehen …«


 


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