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XVI

Das menschliche Ungeziefer, menschliche Gezücht zu lieben, hatte Alfred erst begonnen: Noch erschreckten ihn die bekannten Menschen, unmenschlich fühlte er ihre Liebe, Fabrikarbeit, für Lohn und Brot geleistet. Aber zu anonymen Menschen, zu namenlosen Patienten, die vorzimmerfüllend, in der Nähe des Operationssaales, auf ihre »Tour« warteten, wurde er hingezogen. Noch war Freude in ihm. Mit Freude tastete er sich an den Messingknöpfen des Treppengeländers herab, mit Freude ging er über die Asphaltstraßen, einatmend den Geruch des vom Sprengwagen versprengten Wassers, das klar niederrieselte in den glimmenden Morgenstaub.

Die lange Liste der zu Operierenden, mit Kreide auf eine Tafel geschrieben, »Speisekarte«, auch »Fahrplan« genannt von den Studenten, stand im Vorraum. Der Professor war telegraphisch berufen, ein großes Kriegslazarett mit dreitausend Betten in Südungarn zu organisieren. Morgen wollte er fort, heute mußte alles »aufoperiert« werden, in einer Serie das ganze operative Material erledigt werden. Auch zwei Assistenten waren eben telegraphisch einberufen, sie verließen sofort die Klinik, begeistert, gerührt, einzig darauf bedacht, zurechtzukommen: denn jeder rechnete mit einem vierzehntägigen Krieg, »dem rächenden Blitz einer Strafexpedition«.

Glänzend begann die Serie. Militärmusik hörte man schmissig hereinschmettern, straßenher, in die Stille des Operationssaales.

Unter Alfreds Händen wanderte Gesicht um Gesicht, unter seinen Fingern fühlte er süß hinrollen beruhigt wellenschlagendes Leben, entgegenhauchte ihm aus gestilltem Mund Schlaf um Schlaf. Hier war humane Gegenwelt: infernalisches Dasein war gelindert durch Schmerzverminderung und ruhiges Atmen.

Es stieg der Tag, Hitze schwelte aus, Wasserdunst, Waschküchenatmosphäre schmierte sich schwer durch die Räume, zischend brannte das Zeißlicht, warf brennende Blendung in blutig geöffneten Mensch. Müdigkeit riß an Alfreds Knien. Teilnahmslos stand er da, wie in Schlamm eingebettet in der feuchten Glut des Vormittags. Erlösung: »Narkose, Schluß«, kommandierte der General. In Phantasien schwankte Alfred, gewaltsam hieb er nieder die entfesselte Phantasie, durch Müdigkeit entkettet, weiß strahlende Körper, Wunden, blutigrot, wie geheimer Schoß.

Schon wurde ein anderes Gesicht ihm unter die Hände geschoben, ein blaurotes Säufergesicht, weiß gewimpert, häßlich anzufassen, schweißüberströmt, Alkoholdunst ausatmend, schwarzen Kaffee mit Rum gemischt, als Vorbereitung zur Narkose heimlich im Branntweinladen zur »Couragierung« geschluckt.

Alle waren müde, der General nervös. Alfred begann die Narkose, riß sich zusammen, kühl funkte nieder Äther in weißen Tropfen, vereisend zu flaumigem Schnee die Maske. Der General wartete nicht, mit der stumpfen Seite des Messers zeichnete er den Hautschnitt vor. Gewaltig brüllte der Kranke, aufrüttelnd den Tisch, aufhämmernd mit dem schweren Schädel das harte Kopfgestell.

»Er schläft noch nicht«, sagte Alfred.

»Man merkt es«, sagte höhnisch der Oberarzt.

»Vorwärts, vorwärts, wir haben Eile«, der General. Alfred tropfte Äther. Der Kranke schlief nicht, tobte, hieb mit dem Kopf Alfred in das gebeugte Gesicht. Blut vergoß Alfred aus der Nase, alle lachten.

»Nehmen Sie Chloroform«, sagte der Oberarzt.

Der Kranke schlief nicht.

»Weiter, weiter, weiter! Schütten, schütten!« der General. Alfred, halb; gebrochen, passiv geworden durch den prasselnden Niedersturz Miladas ... des Vaters ... seiner Menschen ... seiner Welt, gab nach. Zu öligem Strahl rann das schwere Gift. Der Kranke schlief endlich.

»Weiter, weiter, der Patient preßt«, hetzte der Oberarzt.

Alfred goß Gift. Er blickte den Kranken nicht an, fühlte nicht hin nach den tödlich erschlafften Muskeln, blickte fort vom lividen, veilchenblauen Gesicht, absichtlich blind, ausweichend der Wirklichkeit.

»Nur mehr, Courage, Dawidowitsch, endlich gibt das alte ... Ruhe!«

»Das Blut ist dunkel«, sagte der Professor, der beinahe fertig war, »zählen Sie einmal den Puls.«

»Aber dem Patienten geht es ansonsten tadellos«, sagte der Oberarzt, »der reißt uns ja den Operationstisch um, der Mordskerl, wenn man ihn herausläßt aus der Narkose.«

»Nun, der Puls?« fragte der General.

Keinen Puls fühlte Alfred. Aber erbleichend, ganz Lehm, aufsteigende Verzweiflung, aufsteigende, schwere Sumpferde ... wollte er den Puls fühlen, das Zittern der eigenen Adern zählte er, rechnete falsch vor:

»Eins ... eins ... eins ...«

»So, dann habe ich mich geirrt«, sagte der General. Als der Professor mit der Hautnaht fertig war, setzte die Atmung aus. Die Maske, noch schwer triefend von Chloroform, lag weiß neben dem blau gedunkelten Kopf.

Eine Sekunde Schweigen. Fall von Tropfen, Rascheln von Kleidern, lichtzischende Bogenlampe; alles durchgrellend.

»Den Kiefer aufsperren! Zunge heraus!« sagte der General. Mit zweiblättriger Zange wurden die Zähne auseinander gezwängt, die dicke Säuferzunge wurde eingeklemmt in eine stramme Klemme. Man zog im Rhythmus an der Zunge, leises Röcheln raschelte, dann wieder nichts, Leere, tödliches Schweigen.

»Künstliche Atmung!« Alfred und der Oberarzt schnallten den Patienten eiligst los, schlaff fielen die Glieder und der Kopf, nun schon weiß wie Teig, herab, schlenkerten, wie bei dein gelähmten Hund, befreit aus dem Gestell der Vivisektoren.

An den Armen hob man ihn auf, weitete die Brust, schlug die Arme wieder an die Rippen, um künstlichen Atem zu erzeugen. Nichts rührte sich.

»Schade! Schluß!« sagte der General.

»Wahrscheinlich Herzverfettung, Herzlähmung, na, du mein lieber Gott, ein alter Potator«, sagte der Oberarzt.

»Ich will noch eine Stunde künstliche Atmung versuchen«, sagte Alfred, »ich will ...«

»Hätten Sie lieber nicht soviel Chloroform hingegossen ...!«

»Herr Professor!«

»Ja, selbstverständlich, nehmen Sie sich den Swoboda ... jetzt aber weiter, die Patienten warten, noch sechs Fälle sind für heute bestimmt! Schillerling, übernehmen Sie die Narkose, weg mit dem Chloroform, wir haben genug an dem einen Akzident.«

In eine dumpfe Kammer rollte man den Patienten. Swoboda, das alte Faktotum der Klinik, war nicht geneigt, sich abzuplagen an dem »versoffenen Kadaver«: »Entschuldigen's mich, bitt' Ihnen schön, nur a Zigarettel lang! Na, is das heut a Hitz, jaja, der Sommer!« – Alfred blieb allein mit dem Betäubten. Lange arbeitete er dumpf, ohne Gedanken, geblendet von dem Schlag der Wirklichkeit. Dann begann er tiefsten Kummer zu fühlen; vergebens schützte er sich selbst, sagte, es wäre ein Geschick, ein Zufall, ein drittel Prozent der Statistik ... ein schöner Tod, ganz anders als der Tod des Türken, die ausgestückelten Augen, die Zunge, zwischen die Augenlider gezwängt ... Miladas erinnerte er sich, des Vaters, Poldis, von Rudi, der Mutter und dem Detektiv verfolgt, aber alles rann ab von ihm, nichts schützte ihn vor sich selbst, nichts deckte ihn vor tiefster Verzweiflung. Tausende würden sterben, Österreicher und Serben am Schlachtfeld unrettbar verwundet liegen, was bedeutete ein einzelner, ein fetter Philister, eine alkoholvergiftete, alkoholverfettete Seele, potator strenuus? Aber Alfred fühlte nur den blassen, leblosen Körper vor ihm, die weißen Wimpern, Feuchtigkeit austriefend über den gewaltig großen, gewaltig schwarzen Pupillen, die harte Stricknadelader des Kiefers, nicht mehr rollend in Pulsschlägen, die arme Zunge, sprachlos längst, schlaff hängend an unbewegtem, starr blinkendem Haken.

Müde war Alfred zum Erbrechen. Verwirrt hinkte der eigene Herzschlag, Überanstrengung war das ewige Stehen in dumpfdunklem Raum, Verbrechen an sich selbst war die überlange künstliche Atmung des Betäubten. Kampfer stand da, gelbölig in breiter Flasche, eine Spritze stach er sich selbst in den Arm, wilde Ströme brannten hervor, seine wilde Energie riß die Hände des Betäubten nach hinten, oben, preßte die Ellenbogen in die Brust. Alfred keuchte heiß. Müdigkeit kam, die zweite Spritze schlug sie nieder. Überarbeit wirkte herrliche Stärke! Flimmernd zuckten Sekunden! Das Instrument, an dem die Zunge hing, züngelte Licht, wandte sich, wandte sich in weicher Drehung nach oben: Alfred schrie, zitterte vor Glück, Alfred schrie dem Kranken ins Ohr, rief ihn an mit »Herr ... Sie ... Sie ... potator!«, da er den eigentlichen Namen nicht kannte, wollte ihn ganz erwachen sehen, ganz umgewandelt in Leben, herrlichstes, wundervollstes! Er hielt sich zitternd fest am Rand des Operationstisches, der noch schlüpfrig war von frischem Blut: der Kranke atmete weiter; lebte!

Der Oberarzt staunte, der Professor wurde jetzt erst ernst: »Sie sind gewarnt,« sagte er, »aber wir andern auch. Übernehmen Sie die nächste Narkose, nur Äther. Und dann müssen wir ins Sanatorium, Herr Lessing wartet.«

Der Chirurg spät abends im Auto zu Alfred: »Eine scheußliche Sache haben wir noch vor uns. Schon die erste Operation war kein Vergnügen ... aber jetzt ... es bleibt nur eine hohe Darmfistel übrig und für die nächste Zeit das Wasserbett. Ludwig Lessing im Wasserbett ... sonderbare Einfälle hat der liebe Gott. Aber Sie werden sehen, wie leicht Lessing das alles nimmt. Ich habe ihm eingeredet, es käme jetzt die Krisis, die Heilung mit vermehrten Schmerzen. Der Mensch ist zum Idioten geworden und freut sich über seine Krämpfe.«

»Und wie lange kann der Zustand noch dauern?«

»Jahre. Er hat eine eiserne Natur. Sie werden staunen.«

Alfred staunte: Lessing ging im Steirerkostüm im Garten des Sanatoriums umher, hatte grüne Schatten unter dem grünen Hut, aber auch ohne Hut, im weißen Zimmer! Wie war er klein geworden, geschrumpft sein Gesicht! Einen fünfzigjährigen Mann hatte das Leiden verjüngt zu blasser, hautgespannter Larve eines zwanzigjährigen Grüngesichts.

Der Professor: »Geben Sie Herrn Lessing die übliche Injektion, dann können wir die Operation angehen. Vorher natürlich die erste Desinfektion.«

»Nicht zu viel«, bat Lessing, »Sie wissen, ich schlafe leicht. Und dann: Ihre Narkose! Ich habe oft daran gedacht. Vor drei Monaten, erinnern Sie sich? konnte ich nicht genug davon bekommen. Nachts, um zwei Uhr morgens, habe ich Sie aus dem Schlaf geklingelt, direkt den Revolver auf die Brust: Geben Sie mir den Tod, oder ... Natürlich, das Theater verleugnet sich nicht.«

Alfred öffnete den Verband. Rein von Kot war die Haut, aber breit klaffte die Wunde auf dem edlen Leib.

»Sie sehen«, sagte Lessing, »ich bin zimmerrein. Mit einer gewissen Selbstzucht und Charakterstärke gewöhnt man sich selbst das an. Alles wird erträglich. Sie haben mir das Leben gerettet. Wo wäre ich, wenn Sie mir damals auf meinen Wunsch die lebenslängliche Narkose verabreicht hätten? Bei den Würmern. So aber habe ich drei schöne Monate hinter mir, ich habe mit Freuden gearbeitet, gesungen, nicht auf der Bühne natürlich, sondern fürs Grammophon. Zahlen übrigens wahrhaft fürstlich, diese Leute, ganz abgesehen von der Reklame für mich.«

Die Umgebung der Wunde benetzte Alfred behutsam mit weicher Watte, mit lauem Wasser, rosarotem Sublimat. Das war ein schmerzhaftes, zerrissenes, von Furchen durchschnittenes Stück Mensch, in Sehweite ausgebreitet vor ihm, dem gesunden Mediziner, dem blühenden Menschen von dreiundzwanzig Jahren.

»Schön ist es schließlich nicht, aber praktisch. Ich sehe die Notwendigkeit ein. Nun wird mir Ihr Chef das richtige Türl wieder aufmachen, hoffe ich. Ich freue mich, offen gesagt, darauf. Der Weg zur Heilung geht über das Wasserbett, das kann nicht so schlimm sein?«

»Nein, es läßt sich ertragen.«

»Alles egal, wenn ich nur wieder gesund werde!« Jahrelang hatte dieser Mensch zu leben, zu wechseln zwischen Dauerwanne, Wasserbett, feuchtem, grauen Dasein und kotgefüllten Verbänden. Hilflos blieb er, verpestete die Welt und sich mit dem grauenhaftesten Jammer, nackt vor Hoffnungslosigkeit.

»Nun, die Injektion? In den letzten Tagen war ich etwas unruhig. Nun, bei Ihnen fühle ich mich daheim. Ich habe in den diversen Hotels nicht besonders geschlafen. Hier werde ich schlafen. Wo wollen Sie die Injektion machen, am Arm? Am ...«

Schauerlich war alles Mensch.

Erwirklicht wurde Lessing in Alfred, wurde Mensch von seinen Menschen.

Mit konzentrierter Güte schüttete Alfred Schmerzvernichtung in seinen Bruder Lessing.

Er hatte die Injektionsspritze mit Sublimat gefüllt, stach sie schmerzlos schnell zwischen die sparren Rippen durch, entgegen dem hochzuckenden Herz.

»Nicht hier!« sagte Lessing, »o Gott!«

In einem Zuckkrampf endete sekundenschnell ein Mensch.

Am nächsten Tage ging Alfred, erlöst von dem Schmerze eines Menschen, in die Kaserne, um sich beim Landwehrregiment als Mediziner zu melden.

Im Balkankriege hatte man viel Ärzte und Mediziner gebraucht. Es war der 29. Juli, hochsommerlicher Tag und Krieg.


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