Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die weißlackierte, eisenbeschlagene Tür, die vom Hörsaal in die Klinik für Nerven- und Geisteskranke führte, wurde geöffnet. Viele Kranke standen still, zerrenkten Marionetten ähnlich, andere tobten durch sie hindurch, wehend in weitem Krankenflaus, lange Haare schüttelnd, schlotternd mit entnervten Gliedern.
Zwei Wärter schoben ein schlankes Mädchen vor sich her, das sich wehrte: wie auf Schlittschuhen glitt es über den glatten Boden; unerkennbar war das Gesicht, tief auf die Brust gebeugt: der Nacken, eine zarte Perlenkette, blinkte im Licht, weich gesenkt.
Wie rührte der fremde Mensch den Studenten! An sich fühlte Alfred die altersharte Hand des Professors, der ihm das Gesicht in die Höhe bohrte, sachlich einen Menschen anpackend an der Handhabe, am Kinn. In Alfreds Gesicht hineingeblendet war eine elektrische Taschenlaterne: im dämmerigen Saal leuchteten große Augen, schön, goldig im Glanz der Laterne.
Offen wehte der Augenblick an Alfreds offenes Herz, schwer fühlte er seine Glieder. Was er nie gefühlt hatte, nun fühlte er es: Dieses unbekannte Mädchen, geliebt beim ersten Blick, anerkannt als wirklich, nicht abgeleugnet: er tauschte mit ihr, ließ sich treiben mit ihr, verdoppelt war die Natur, sein Menschlichstes wurde angerührt von der namenlosen Person!
Dieses Mädchen auf der Bank für Geisteskranke war geisteskrank, ausgeschlossen von jeder menschlichen Möglichkeit, entmündigt, stumm gemacht, gedemütigt bis ins letzte, passiv bis ins letzte, sich selber herumhauend in zischendem Zorn – die zarte, blonde, glanzäugige Geliebte – schäumend, ein tobender Krampf – ein gutes Du, »Du-Sprache« verstehend –, und doch aufschlagend mit harten Fäusten an weißlackierte Eisenwände, eingezellt wie ein wildes Tier in hermetisch geschlossenen Kotter: demütig nach dem Anfall wieder hockend in seinem Schmutz wie die gefangenen Hunde beim Tierhändler, nicht Mensch mehr, nur ein lebender Dauerkadaver. Doch wählte er sie: er nahm auf sich ihre Galgenfrist, trug mit ihr den schrecklichen Termin. Sie in seine besten Augenblicke, in stilles Grün im Walde, unter weißgeballte Wolken hinzuführen, zu singenden Hummeln, beruhigte Nachtträume zu teilen mit ihr, gesichert im bürgerlichen Winkel, sie wieder aufzufüttern mit guten und vielen Speisen, wie sie Andulka kochte, das war sein Wunsch: aber noch hockte sie unten, gespreizt im Widerwillen gegen objektive Betrachtung. Ihn kannte sie ja noch nicht, Alfred, in dem es liebte, hin zu ihr!
Der Professor schien erregt: »Ich verstehe Sie nicht! Benehmen Sie sich, wie es sich gehört! Glauben Sie, daß uns dieses Auftreten imponiert? Sie befinden sich auf akademischem Boden!« Der »lebende Dauerkadaver, Objekt von Prüfung und Untersuchung« blickte mit großen Augen (entgoldet waren sie im Schatten) im Saale umher: Alfreds Augen wurden eins mit ihrem Blick.
»Also, nun vorwärts. Erzählen Sie uns, wie und warum Sie hergekommen sind!«
Sie schwieg.
»Selbst Ihre Vorgängerin, eine einfache Köchin, hat uns ihre Angaben selbst machen können, Sie aber, eine sogenannte gebildete Person ... Meine Herren, ich will angesichts des renitenten Benehmens der Patientin auf ihre Krankengeschichte nur kurz eingehen: es handelt sich da um eine vorübergehende Psychose, einen durch Morphium hervorgerufenen manischen Aufregungszustand, der viele Ähnlichkeiten mit einem Alkoholdelirium hat. Inwieweit tiefere Störungen des Geisteslebens vorliegen, ließ sich bisher nicht feststellen, da die Patientin sowohl jede Auskunft als auch die Nahrung verweigert. Sie muß also mit dem Magenschlauch ernährt werden... Sie hat eine größere Menge Morphium genommen, die Folge war, wie so häufig, nicht Beruhigung oder Tod, sondern Aufregung und Tobsucht. Die Polizei fand sie, halb entkleidet, in der leeren Remise der elektrischen Straßenbahn, gegen drei Uhr morgens, wo sie zusammenhangloses Zeug deklamierte. Wir sehen noch jetzt in der Pupille hochgradige Verengerung. Fräulein Milada, wollen Sie sich zu den Studenten begeben; meine Herren, ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf die länglichen, stark verengerten Pupillen. Eine Wirkung des Alkoloids!«
Das Mädchen stieg ohne Widerstreben die Bankreihen empor. Zu Alfred strebte sie hin, vor Alfred blieb sie stehen, lange blickten sich die zwei Menschen an. Sie fühlte vor mit ihrer Hand, einer kleinen, armselig mageren Hand, schmutzig vom widerstrebenden Streifen Krankenhauswände, Zellwände entlang, sie nahm Alfreds Federhalter, der vor ihm lag. Verwehren konnte das Alfred nicht, er wollte sie nicht bändigen mit ärztlicher Fürsorge. Ihre Vergiftung war im Schwinden, Besserung war auf dem Weg: bloß für Hoffnung hatte Alfred Gedanken.
Schon rief der Professor die Kranke wieder herab; nun mußte man sie nicht mehr auf dem Boden dahinschleifen: Mensch! Nicht mehr Patient! Sie ging edle Schritte, die weiche Rundung ihrer Hüften, zart unter dem groben Krankenflaus, weckte in Alfred den Mann zum Schmerz. Immer noch wehte sie in ihrer Schönheit weich hin gegen sein Herz, das menschlich gewordene.
»Nicht ohne Absicht, meine Herren«, sagte nachher der Professor, »habe ich die Kranke etwas energisch angepackt. Ungeduld oder Zorn kennt der Psychiater nicht. Aber wir haben sie im Verdacht des chronischen Morphinismus, und dieses Laster nimmt leider sehr überhand. Die Menschen sind degeneriert, wollen Schmerz und Kummer nicht mehr ertragen. Alkohol bei den Männern, Morphium bei den Damen, schmerzstillende Tropfen. Es handelt sich hier um eine Schauspielerin. Vielleicht wirkt dieses ihr Erlebnis erzieherisch, wenigstens hoffen wir, daß die Furcht vor der Vorführung in die Vorlesung, die begreiflicherweise bei einer gebildeten und intelligenten Person sehr heftig ist, die Patientin vor weiteren Selbstmordideen abhalten wird, so daß wir für unsere Heilungstendenzen einen günstigen Boden finden.«
Noch war Alfred nicht zum Menschen verwandelt: er ließ das Hündchen im Käfig des Händlers ersticken im eignen Kot, bloß hoffnungsloses Mitleid, kostenloses, warf er Poldi über den schmerzzerfetzten Kopf, mit guter, ärztlicher Fürsorge, mit ärztlichem, gutbezahltem Gewissen versagte er Ludwig Lessing den anständigen Tod, das »Mindestmaß an Leiden«: Mensch wurde er, erschütterbar! Aber er war es noch nicht.
Hineingeweht war Milada wie durch ein offenes Fenster ganz nahe an ihn, er trug sie in sich, und doch hoffte er, sie nie wieder zu sehen.