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XII

Das Anschlußkolleg war große Chirurgie.

Der Professor schwelgte in chirurgischem Optimismus. Seine Dauererfolge wies er vor, Patienten, vor drei, vor fünf, vor acht Jahren an bösartigsten Krebsen operiert, nun geheilt, dauernd gesund, durch Expreßbrief unter Zusicherung der Reiseentschädigung in die Vorlesung beschieden; nun hockten sie im Korridor, zwei Männer, ein Weib. Ihre Hemden hoben sie ab vom verhärmten Leib und verglichen die Narben nach Länge und Lage, lachten graues Lachen, prahlten. Der Professor berichtete: »Alle analogen Fälle, die sich nicht so schnell zur Operation entschlossen hätten, seien längst abspue gegangen, wogegen ... ich bitte, meine Herren, hier ...« und er zog mit väterlicher Gebärde den ersten Dauererfolg in den Saal.

Die Methode der Operation, Lebens- und Todeschancen an der Hand der Statistik entfaltete er mit Kunst und Genuß in klinischem Vortrag, da stürzte Doktor Eggenberge, der Oberarzt, herein, flüsterte aufgeregt, aufgeregt wurde der General, lenkte die »Dauererfolge« vor sich wieder in den Korridor hinaus, ließ die Wasserleitung laufen, drehte die Sanduhr herum, brauner Sand rieselte unbeirrbare zehn Minuten, Dauer der Händedesinfektion nach Vorschrift.

Eine große grellgelbe Billrothbatistschürze, mit einer Messingkette um den nackten Hals, hohe Galoschen, schwarz, fast bis zu den Knien reichend: in einer Sekunde war der Professor ein anderer Mensch, anders seine Augen, anders sein Gang, anders seine Stimme. Mit harter Bürste rieb er Hände und Arme, heißes Wasser spritzte aus weißblinkenden Hähnen.

Des Professors Stimme übertönte die Nebengeräusche des fließenden Wassers, der hereingerollten Patientin, der vorbereiteten Operation.

»Ein glücklicher, leider seltener Zufall, meine Herren. Voraussichtlich eine Herznaht. Selbstmordversuch in der psychiatrischen Klinik. Die Methode, die Sie nun sehen werden, ist neu und bleibt größtes Verdienst des Frankfurter Chirurgen Rehn. –

Erste Assistenz Dr. Eggenberge, zweite Assistenz Salfner, Instrumente Schillerling, Narkose einer von Ihren Kollegen, der sehr schön narkotisiert, Herr Mediziner Dawidowitsch.

Seit drei Jahren sind wir nicht mehr wehrlos gegen Verletzungen des Herzens, wir können alles angehen, vorausgesetzt, daß der Patient lebend auf den Tisch gebracht wird. Von fünf operierten Fällen drei geheilt. Zweifellos wäre auch unser tiefbetrauerter Erzherzog-Thronfolger von den Folgen des infamen Meuchelmordes in Sarajevo operativ zu heilen gewesen.

Kochsalzapparat anheizen! Adrenalin eins pro mille vorbereiten! ... Es gibt Methoden gegen jede Art der Verletzung, nur gibt es keine gegen die Mörder ... Pulskontrolle der Narkotiseur.

Vergessen Sie nicht den Rippendilatator ...

Auch hier ist die erste Hilfe entscheidend, sie kann gar nicht schnell genug einsetzen, trotzdem müssen wir gerade hier exakt an die Regeln der Asepsis uns halten, denn wir stehen im Begriff, die Brusthöhle, ja sogar den Herzbeutel zu öffnen.«

Alfred sah Milada wieder.

Waschküchendunst durchwölkte den Raum, Heimatatmosphäre.

»Licht!« befahl der Professor.

Elektrische Zeißlampen, nahe der Decke, zischten; harte Wände, mit Ölfarbe emailliert, schleuderten Schneeblendung von allen Seiten; der Spiegel über dem Tisch schleuderte schräges Licht gegen die Studenten, als weiß brennende Blendung.

Im Spiegel zeigte sich Milada: ihr vergilbtes, plötzlich zerfaltetes Gesicht war eingealtert, schief gezerrt durch Schmerz, stumm gewaltig blickten ihre aufgerissenen Augen, ähnlich den Augen gemarterter Hunde.

Spitz wurde der Krankenflaus abgehoben, mit scharfen Scheren schnitt man ihn herunter, hohe Brüste, rot übersprenkelt, standen still im siedenden Licht (Abendstunde schien, tiefe Nacht, Stille, sausend in den Lampen); unter den Brüsten vibrierte Alfreds Federhalter, wippte mit jedem Herzschlag, erschütternd alle mit seinem Schlag, lautlos.

Umgestürzt war die Welt im Spiegel; verschleiert die Welt im Wasserdunst, von der Hitze betäubt.

»Das Bewußtsein ist, wie Sie sehen, erhalten. Die Blutung nach außen hat aufgehört«, sagte der General, er winkte Alfred hart heran an Milada mit seinem Arm, der im Kalklicht glänzte wie vernickeltes Metall: »Vorwärts, Narkose!«

Tief seufzte die Kranke, allein, inmitten zahlloser Menschen, übergrellt von Spiegeln und Lampen, niedergeschrien von der Gewalt aller.

Silbern klirrten Instrumente, brodelnd über elektrischem Ofen. Weiße Röcke, weiße Hauben, weiße Tücher, an den Fingerspitzen gehalten, weithin ausgebreitet, senkten sich, als weißes Feld, glatter Boden der Operation.

Langsam vibrierte Alfreds Federstiel. Neun Minuten waren abgelaufen an der Sanduhr, brauner Sand war hoch gehäuft am Grunde. Abgeklungen war allmählich Lärm, Bewegung, erster Aufruhr der Seele, unsagbarer.

Aus siedendem Wasser knisterten hervor ungeheuere Siebe, Dampf dunstete auf und nieder, auf kleinen Tischchen sonderte man schnell weißes Gerät in weißen Reihen, Scheren, tückisch gekrümmt, Haken, vierfingrige, mit eingebogenen Klauen, Nadeln, Knochenzangen mit zwei Spitz-Zinken.

Die Sanduhr lief ab. Das Wasserplätschern verstummte jäh.

»Jod!« sagte der General.

Jetzt erst, in letzter Minute, rollte heran der große Narkoseapparat für die Operationen der Brust, die stumpfeiserne Sauerstoffbombe, das blitzende Manometer, Hähne, blau und rot markiert.

Alfred hielt dem Mädchen die Maske vor das Gesicht. Leise sauste Sauerstoff aus der Bombe; jetzt erst, im letzten Augenblick (der Professor und der Oberarzt standen weiß, brutal starke Menschen, messerentschlossen, rechts und links von der Kranken), jetzt erst begriff Milada. Das Messer schaute sie an, wild stieß sie die Maske fort, hackte hoch empor das Kinn, dem Hunde ähnlich, der gegen das Nickelgebiß sich wehrt, abgebändigt auf der Bank der Vivisektoren. Schreien wollte sie, reden flüsternd, aber nur in schlaffem Kampf ballten sich die Lippen, ermüdet vom Leben, ermüdet von allem: lautloses Grinsen wurde das ersehnte Wort.

»Herr Professor«, sagte Alfred, Zeit erbittend, Aufschub, Linderung, plötzliches Abwälzen der Verantwortung, neue Pioniere, schwimmgeübte Soldaten, zur Errettung! Grauenwelt dröhnte überall, nirgends schimmerte heitere Gegenwelt!

»Jod, bitte!« sagte der Professor. Jod, metallisches Braun, schlug nieder das Bogenlampenweiß der hohen Brüste, immer noch wippte, aber schlaffer schon, der Federstiel, gejagt vom träge wankenden Herz!

Weich ballte sich um den Menschen Alfred Verzweiflung.

Stumm war Milada, aber böses, aus dem letzten Grund zusammengerissenes Nein! sammelte sich in ihrem Gesicht. Ekel, Entsetzen, hilflose Wut: aber die Hände waren längst sicher versorgt, in praktische Handfesseln gesperrt, die Beine angeschnallt mit unzerreißbarem Riemen.

Schlafen wollte sie nicht. Weg spie sie das betäubende Gift, hart schlugen die Augenlider gegeneinander, niederzwinkernd die zuckende Erregung, losheulen mußte Schmerz, losheulen Schmerz in ihm, in Alfred selbst schreiend, alles Grauenhafte, immer, von jeher geahnt: nun konnte er es nicht fortstoßen, niemanden prompt erwecken, sich nicht losreißen von der Wirklichkeit!

»Na? Der Puls?« fragte der Chirurg. Es war das erstemal, seit die Studenten ihn kannten, daß er nach seinem berühmten »Jod« noch etwas sagte.

Alfred tastete hin, mit weicher Berührung an Miladas Hals.

»Ich fühle den Puls an der Carotis noch nicht, ich kann die Carotis nicht finden.«

Sie fühlte seine Berührung!

Entgegen hob sie ihm das Haupt, auseinander breitend die Lippen, geweißt vom Schmerz.

Tropfen auf Tropfen funkte nieder Äther.

»Immer noch nicht?« fragte der Professor.

»Nein!«

»Den Kopf tiefer lagern«, sagte der Professor, »das Blut drückt das Herz von außen zusammen; Herztamponade nannte das Ernst Bergmann.«

Der Tisch senkte sich, getrieben durch hydraulische Maschinen; süß fühlte Alfred niederzusinken in seinen Schoß ein menschliches Haupt, betäubt, schwer, willenlos, gewärmt durch einströmendes Blut, überschwebt vom ersten Schlaf!

 

Das Gesicht Miladas erstarrte wie Zement im Regenguß des Äthers.

»Skalpell!« Aus dem harten Kristall einer alkoholgefüllten Schale schnellte ein weichgebauchtes Messer wie ein spitzer Fisch.

Ein breiter Schnitt zerklaffte das Fleisch.

»Es blutet nicht. Leider blutet es nicht. Der Blutdruck ist minimal. Vorsicht bei der Narkose. Luft dringt hervor. Dreckige Geschichte. Hier: das Instrument des Selbstmordes. Vorwärts: Rippenschere!« Leise zerkrachte die Rippe im blitzenden Gebiß der Rippenschere.

Alfred hielt seine Hand auf die Lippen Miladas, die erhärtet waren im Regenguß des Äthers.

» Sie schläft, du schläfst!«

»Der Herzbeutel ... hier. Vorwärts, Péan! Kropfsonde!« Ein Finger aus Nickel bohrte sich leicht in die enge Öffnung, eine Schere klappte auf in dunkelrotem Gerinsel, ein abgefangenes Tier, aufzuckend im Takt, lag frei das Herz.

»Der Puls?«

»Nichts!«

»Vorwärts, Kochsalz!« Aus elektrisch geheiztem Bassin stürzte Kochsalz, auf 37 Grad erwärmt, nieder auf die Wunde, Blut versprühend in einer Sekunde. »Los! Fixation des Herzens!« Ein silberglänzender Seidenfaden schlängelte sich ab von rosaroter Porzellanspule, eine krumme Nadel biß scharf hinein in die Spitze des Herzens, am Fadenzügel zog man das Herz heraus aus seiner Höhle.

»Schneller! Vorwärts! Höher! Noch etwas ... gut! Hier blutet es. Finger in die Wunde! ... Erste Naht! Troikartnadel! Seide, nicht Catgut! Einser-Seide! Gut. Weg mit der Hand! Die zweite Naht! Schere! Gut. Gaze! Die dritte Naht! Gut. Puls?«

»Nichts!«

»Den Herzzügel fort!« Nieder senkte sich das Herz in seine Höhle.

»Nun?«

»Nichts!«

»Vorwärts! Adrenalin! Einserspitze, dünnste Kanüle!«

Farbloses Gift zischte ein in das Herz.

»Der Puls!« sagte Alfred. »Der Puls: eins ... eins ... zwei ... drei ...«

»Schluß der Wunde! Ein Glasdrain, Hautnaht, Schere, Gaze! Narkose: Schluß! Jede Stunde eine Spritze Kampfer! Verband. Jemand bleibt dauernd bei ihr. Adieu, meine Herren!«


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