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Alfred rettete sich.
Jetzt nur Sand erraffen unter seinen Füßen, sich müde keuchen, den Abhang herauf, fort vom heiser ziehenden Fluß; knorrige, kleingedornte Zweige von Akazien gerade noch mit der Hand an sich reißen, Stütze bei der Flucht bergauf; weiß erstrahlte jetzt das Laub, mit Blendung übergössen von der Sonne, herübergespiegelt übers Wasser, weit hinter ihm: kühl rauschte Gebüsch. Weinberge schimmerten matt, lagen weich olivenfarbig dahin, zeitenlos, durchhaucht von Frühsommerhitze: alles war nun endlich wiedererwacht, tatsächlich, vom bösen Gefühl entblößt, für ihn, den Geretteten, den Gesunden bestimmt.
Menschenleer weit die Gegend, an der guten, gesunden Menschenleere atmete er auf, endlich fortgerissen von Poldi: zufrieden, allein mit sich, den er gut kannte.
Poldi, Zähne knirschend in Wut, endlich hatte er sie nicht neben sich; niemand mehr drohte ihm. Die entmenschte Mutter, die ihm die Gangtür versperrte, ihm vorenthielt das Nachtlager auf zusammengeknüllten Kohlensäcken; der Detektiv, der ihn verfolgte, Gewinn und befriedigtes Leben ziehend aus der schmutzigen Spionage, polizeilich hinterherschnüffelnd nach »feinen Verehrern«, die ihre Liebste unter die Erde gebracht hatten, in sein Leben hatten sich gestern alle zudringlich hineingepreßt, selbst das ungeborene Kind, das lästige!
Östlich war der Himmel mit Staub angeraucht, die Landstraße war in Bewegung, Welle im Wandern, Menschen kamen! Soldaten, taktfest marschierend, klopften das harte Weiß der Straße zu Staub, sicherlich waren es Pioniere! Warum nicht Pioniere, schwimmgeübte Soldaten?
Zum Herausschreien, zum Jubeln lockte ihn der Augenblick. Alle waren zu retten! Auf Poldis Rettung hatte Gott es abgesehen, er duldete nicht ihren Tod gerade jetzt, gerade heute, am hellichten Tag, zweihundert Schritte hinter ihm.
Wie hätte er ruhig weiterleben können ohne diesen Augenblick? Laute Trompeten der anrückenden Soldaten, gesunde Menschen kamen in der Überzahl, ihm zur Unterstützung, sie alle zusammen heran gegen Poldi, um sie in die Wirklichkeit zurückzubringen, auch gegen ihren Willen sie zu retten mit guter Gewalt.
Er aber wagte sich noch nicht näher, schützte sich gegen einen zweiten Tag wie gestern, er machte sich klein, trocknete das feuchte Gewand, ordnete herum an sich. Nicht ihn, sondern Poldi mußten sie sehen, ihr weißes Kleid sollten sie sehen, es mußte jetzt, zwei Minuten nach dem »Unglücksfall«, doch noch deutlich sichtbar sein, wie Schnee weithin leuchten.
Soldaten kamen gerade in letzter Minute, hielten stramm die Richtung ein zum Wasser, leise verstummte ihr brutaler Schritt, lautlos liefen sie über den feuchten Sand, in aufgelöster Linie, aber die Fußspuren sahen sie doch, wenn schon nicht das weiße Kleid, Poldis Fußspuren führten doch nur ins Wasser und nicht wieder zurück, nun verteilten sich die Soldaten in weiten Abständen, nun mußten sie doch bei der Unglücksstelle sein, und Poldi unter ihnen. Sicherlich war auch ein Arzt da, künstliche Atmung konnten sie im schlimmsten Falle sofort vornehmen, er schrie innerlich um Rettung, er flehte Gott an, er hatte doch nur mit größter Mühe sich selbst retten können, zum Beweis kniete er schärfer in die Erde, um sich zu versichern, daß er noch da war, unverletzt, fern von Unglücksfall und Unglücksstelle, gerettet für immer.
Mitleid hatte er gefühlt mit ihr, nur durch Mitleid war er hierher gekommen, er hatte ihr ja die Wunde verbunden, er hatte ihr im letzten Augenblick noch Liebe versprochen, aber er liebte sie schon lange nicht, nur Mitleid hatte er mit ihr, die der Leutnant Rudi beschimpft und herausgeworfen hatte mit tödlichem Herauswurf! Nie hätte er ihr das angetan, er hätte sie geschont, aber wer schonte ihn? War nicht auch er schonungsbedürftig, sein Herz war überempfindlich, Exzessen nicht gewachsen und zu Exzessen, zu Ausschweifungen mit Poldi konnte ihn niemand zwingen. Einen unberührten Menschen wollte er an sich reißen, er liebte die Liebe zu einem holden weichen Mädchen, sie aber spie aus ihrer Seele aus: »Draufgehen um drei Uhr früh, bitte, wenn die Hähne krähen, wenn die Mädchen auf den Nachttopf gehen«. Um drei Uhr früh hatte er sie pünktlich geweckt, weil sie um drei Uhr geweckt sein wollte.
War aber dieses »um drei Uhr morgens« auch nur Komödie, wer konnte ihn dann zwingen, immer das Richtige zu erraten, sein ganzes Leben nur auf diese Poldi zu beschränken? Er mußte nicht, auch hier knien mußte er nicht, er brauchte Abscheuliches, grauenhaft Triefendes auch aus der Ferne nicht mit anzusehen. Er konnte und sollte und mußte Schluß machen, Poldi lassen, wo sie war, das Kind lassen, wo es war, selbst sein: junger Mensch in den guten Jahren um zwanzig. Herrlicher Tag, sein Hochsommertag, seine Ferien, seine Belohnung!
Er stand auf, wischte mit dem Taschentuch die Weinbergerde von den Knien. Weg mit den fremden Sorgen in die schmutzige Wäsche, abbürsten die dreckige Schlossergasse, weg mit den betrunkenen Rumgläsern, endlich fort von der extravaganten Poldi, dem »überspannten Luder« und ihrem Herzensfreund, dem »Fallot«. Der gute Mann rauchte, ließ sich nichts abgehen, verlor die Ruhe nie. Aber zu ihm, Alfred, kam Poldi, um sich ein bißchen auszuweinen, um sich ein wenig auszuschlafen, nur schlafen wollte sie, vielleicht bis zum Vormittag; gut, er gab ihr das bißchen Schlaf, er gönnte ihr das bißchen Ruhe, er brachte auch Speisen für das einemal, aber doch nur für einmal und was dann? Elend über Elend, sie liebte ihn zwar nicht, aber nein konnte er deshalb doch nicht mehr sagen, er mußte auch das Kind als eigen anerkennen, er mußte das Kind als eigen lieben, aber trotzdem mit aller Liebe das Kind und die Mutter in Elend verdorren lassen und sich selbst. Denn wie sollte er drei Personen ernähren, er mit seinen neunzehn Jahren, ein absolvierter Gymnasiast? Absichtlich atmete er schwer, keuchte, eilig den Weg nach Hause verfolgend, und schlief lange daheim.
Hervor aus traumlosem Schlummer kreischte ihn die Glocke im Korridor.
Sie kehrte doch zurück? Wieder zu ihm? Von überallher, selbst vom Flußabhang und den Pionieren? Er mußte den Retter spielen? Und sie konnte es nicht erwarten? Riß wie wahnsinnig an der Glocke? Wahnsinnig? Kalt fühlte er jetzt die schwere, gute, dreimal gesteppte Decke. Verzweiflung hatte Poldi aus sich herausgekeucht. Sie war wahnsinnig, wahnsinnig hatte sie nach Rettung geschrien, er aber hatte sie allein gelassen, ohne die geringste Menschlichkeit! Alfred, nicht versorgt hast du sie, nicht betreut, die Unzurechnungsfähige hast du Rechnung machen lassen mit Tod und Vernichtung.
Die Glocke schrillte, viele Herzschläge lang. Tod und Vernichtung? Mit kerngesunder Energie, unverdrossen und geduldig läutete Poldi. Poldi kannte die Adresse, nun nützte sie die Adresse aus. Die arme Hand mit der Blutschramme vom zerbrochenen Ring war schnell geheilt, denn wie hätte sie sonst so unverschämt an der Glocke reißen können? Der lange verrostete Draht, durch enge Mauerritzen gespannt, erforderte eine Männerfaust. Poldi, die Unverwüstliche, hatte eine Männerfaust. Mit Recht, ganz logisch und vernünftig hatte der Leutnant sie auf kurzem Wege expediert! Das war besser als ewig zu leiden an den Folgen einer kleinen Verirrung. Der Leutnant war vielleicht gemein, rücksichtslos, teuflisch, aber er hatte dafür Ruhe bei der Jause, und zu ihm, Alfred, kam Poldi, einlaßfordernd mit Gewalt.
Zufällig fand Alfreds Blick auf der Erde Poldis Haarnadel, einen Draht grob und stark, verbogen von ungeduldigen Händen. Nun warf er die Nadel gegen das Fenster in Wut, denn das Läuten der Glocke, bellend wie Hundegeschrei, verbitterte ihn heiß. Aber die Nadel prallte ab von dem eisernen Gitter, schwirrte zurück, frech zielend nach Alfreds Augen!
Nun aber war er fest entschlossen, Ordnung zu machen mit ihr, jetzt fühlte er, er hatte so sein müssen, nachts die Zudringliche herausexpedieren müssen, jetzt freute er sich, daß er nichts von ihr genommen hatte als ein paar armselige Küsse, reichlich bezahlt durch das Nachher. Sie kam ja doch zurück, sie war schon wieder da. Kam sie zum zweitenmal her, stellte sie ihn zum zweitenmal auf die Probe, so gab er ihr zum zweitenmal den Laufpaß, stieß sie zum zweitenmal dahin, mit rücksichtslosem Abschied.
Breites Lachen um den starren Mund, riß er die Tür im öffnen an sich: erblassend wich er ab, kalt erschlaffend. Überall fühlte er Schwäche, Tod: Andulka stand massig da, nur Andulka, fremder Koloß, zwei große Körbe wiegend in den schweren Armen. Lachend trat Andulka ein, trampelte durch die Küche, mit breiten Nüstern witterte sie Zugluft, sie schloß das Küchenfenster, bald war der Raum wieder gefüllt mit gutem Dunst, der Zylinder der Lampe, geschwärzt vom unheimlichen Ruß der letzten Nacht, fiel ihr auf. Sogleich holte sie aus dem Ofenloch einen schmutzigen Lappen hervor, wand ihn um den Stiel eines Kochlöffels, stieß den Ruß flink vor sich her. Ein weißes Prachthuhn wurde in aller Eile ausgeweidet, Alfred, der arme Junge, wurde mit Mitleid besprengt: »O du mein armer Alfred, schaust ganz ausgezehrt aus, wie das böse Jahr.« Wie gut war es jetzt, sich die Schuhe und Strümpfe ausziehen zu lassen, die ganze Nacht war er wie in Stein gestanden, auch vormittags hatte er nicht gewagt, sich ganz auszuziehen, blaue Striemen hatte seine arme Haut, müde ließ er sich hinab in Schlaf, geschaukelt von den Rolläden, die wehten im braunen Nachmittagswind.
Noch lag schwer die Oberlippe schlafgetränkt über der Unterlippe: die Ahnung lau erwärmter Küsse, von oben her an ihm geküßt, umdämmerte ihn lange; lange saß er fremd beim Studentenkommers, fiebernd unter Gesunden, endlich war die solenne Kneiperei beendet, ein freches Lokal wurde aufgesucht.
Am Eingang rollte eine etwas ausgelebte Person, verkleidet als braunwulstiger Liftboy, die ganze Nacht hindurch die Drehtür. Violett im Bogenlampenlicht, aus eng verschnürtem Kragen grinste gemein ihr aufgepudertes Gesicht. Ihr Händchen, klirrend beringt, funkelte unermüdlich hin nach Zigaretten und kleinem Geld: »Gebt's was her, für die Armen, die Armen!«
Viele Damen, prall von harter Gesundheit, prächtige Glieder unter starren Kleidern fegten durch den Saal. Ordinäre, kerngesunde Witze warfen sie von den tiefroten Lippen: wie gut, wie herrlich war ihre bodenlose Gemeinheit, ihre starke Ausdünstung, ihr endloser Wirbel, ihre robuste Existenz, jetzt, um zwölf Uhr nachts, zwölf Stunden nach der letzten Probe, der letzten Tücke der tückischen Geliebten! War sie noch immer da? Wollte Poldi lebenslänglich sein, nachkommen und sich nachdrängen überallhin? Gut, komm her, setz dich neben mich, da hast du Sekt, da hast du Musik, noch nicht genug, was noch? Die ganze Welt ihr Schatten? Auch der Taschenspieler hier, der, Kellner und Zauberkünstler in einer Person, seinen weißlichen Arm entblößte und auf kränklicher Haut, in blauen und roten Tätowierungen wilde Schweinereien vorzeigte. Er schlug gelb brennendes Werg in seinen Mund, endlose Streifen dünnen Papieres entleerten sich zum Staunen der Gymnasiasten aus seinen Kiefern, feuchte Wolken bunter Konfetti sprühte er aus über die »allerwertesten Damen und Herren«, auseinander kreischten die Weiber, Alfred lachte, ein herrliches, grenzenlos gesundes Lachen, zwischen den Tischen tanzten die Damen dahin, Staub aufwirbelnd, weithin die Röcke werfend, mandarinengelb, saphirblau, schwarz und weiß, faltig gewellter Taft. Zigeuner zertrommelten die schwere Luft, Alfred ging, Alfred brauchte dies nicht mehr, jetzt glaubte er, die Geliebte Poldi sei endgültig abgefallen von ihm.
Zur Probe ging er den Weg von gestern, die abschüssigen Straßen, den übelriechenden Fluß entlang, der seit kurzem halb versiegt schien, zu »ihrem« Haus, wo man jetzt Katzen laut schreien hörte, auch eine Mundharmonika spielte ohne Takt endlosen Atems, die Nachthitze brütete schwer, und eine Frauensperson in langem Hemd, die der Hitze wegen auf der eisenvergitterten Holzgalerie geschlafen hatte, stand nun auf und beugte sich herüber, dunkle Blumen bäumten sich an ihrem weißen Hemd... Nun blieb noch der Fluß, draußen unter dem Steinbruch rauschend, war er geheimnisvoll, auch jetzt. Vorsichtig tastete sich Alfred herab, vorsichtig wich er den Scherben der zersplitterten Flasche aus, langsam watete er gegen die Flußmitte vor. Von Menschen war keine Spur. Niedriges Wasser rauschte hohl an seine Knie, jenseitige Bäume zischten im Winde.
Nun hatte er Poldi auf die Probe gestellt, herausgefordert war die Unglücksstelle, alles war geordnet, er kehrte zurück.
Mut, Glück, Gesundheit erfüllten ihn, er sang, feuchte Füße trockneten im raschen Gang, bald war er daheim, gekühlt zum kühlen Schlafe.
Am nächsten Tage kehrte der Vater zurück; er hatte »glänzend abgeschnitten« und direkt »Berge von Aufträgen gesammelt«, allerdings hatte er sich dabei die Kehle bei den obstinaten Kunden heiser gesprochen, zischend rangen sich die Worte vor, und nachts störte er Alfred durch stöhnendes Husten und endloses Räuspern, aber das waren nur Kleinigkeiten, da das Geschäft nicht mehr darunter litt, seine schöne Hand verdeckte den vertrockneten Mund, »dieses ewige Reisen steigt mir schon herauf bis hierher«, die Hand zeigte an die Kehle, die mühselig würgte, »siehst du, mein Herzenssohn, für einen Kommis-Voyageur bin ich doch nicht mehr jung genug, dazu fehlen mir die Nerven, dazu muß man ordinär sein, zudringlich, bis die Konkurrenz zerspringt. Wozu habe ich das nötig, wir werden uns selbständig machen, man muß es auf der Börse versuchen, glaub mir, man riskiert nichts dabei, tausend andere, die nie Geld auf Schuhe gehabt haben, Schnorrer, Hausarme, direkt Hausierer, wie ein gewisser Baumöhl, die sind groß geworden auf der Börse, ein Bauernklachel, der mit einer einzigen Ernte, was er damit verdient hat, spekuliert hat mit Montanaktien, durch ein einziges Telephongespräch im Kaffeehaus hat der Mann soviel verdient wie ich in meinem ganzen Leben, was heißt soviel? Soviel und noch viel mehr!«
Aus den ersten Gewinsten kaufte der Alte dem Sohn eine goldene Repetieruhr: »Das ist für dich, an dich hab' ich gedacht. Trag sie bei dir und immer gute Stunden soll sie dir schlagen. Wenn du einmal deinen Patienten den Puls zählst, dann denk an deinen alten Papa, und im Guten!« Er sah ihn schon als berühmten Arzt, als verständnisvollen Menschenfreund, als großen Tröster in aller Not. »Geld spielt keine Rolle. Genug, ich habe mich gerackert. Du sollst leben und wirken für die arme leidende Menschheit.«
Wenn Alfred den Alten ins Kaffeehaus begleitete, sah er im Spielzimmer die Agenten krummen Rückens um den grünen Spieltisch sitzen und die Karten vor sich niederklatschen mit dumpfem Geschrei. Einer von ihnen, der bekannte Wucherer Benedikt Baumöhl, erhob sich und sagte: »Nu, Dawidowitsch, was is, man sitzt, man wartet, schwarz kann man werden und Sie kommen nicht? Ah, das ist der Herr Sohn? Aiblhuber rennt herum und fragt nach Ihnen. Der Kellner da, was hat er herumzustehen, marsch, deck auf das Billard, und zwar gleich!«
Noch vor der ersten Partie nahm der Alte seine Freunde beiseite und erzählte ihnen, vom Rauch der eigenen Zigarre oft zum Husten gereizt, von Alfreds glänzender Prüfung. Und das Schlußwort, heiser erstickt im schweren Dunst des Kaffeehauses, Alfred allein hörbar: »Nur seine selige Mutter hätte das noch erleben sollen.«
Am nächsten Tage forderte Alfred den Vater auf, mit ihm zum Grabe der Mutter zu gehen. Blumen in zwei schweren, goldfadenumschnürten Sträußen nahm er mit, Poldi zum Trotz. Lebte sie? War sie unter der Erde? Sie knieten beide lange an dem Gitter des Grabes, sie beteten zu Gott, an den keiner von ihnen glaubte.