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Am Abend, gegen acht Uhr, kam Poldi zu Alfred. Blaß war ihr Gesicht, dunkel, fast schwarz die Augenlider. Im Druck ihrer Hand, im leeren Lächeln ihrer weißen Lippen, im kalten Ton ihrer Worte lag Gleichgültigkeit, stumpfes, glanzloses Metall.
»Es geht dir nicht gut, Poldi? Was ist dir? Du bist heute noch blasser als gestern!«
Mit bösem Lächeln reichte sie ihm die Hand, leicht mit der Innenfläche nach oben gewendet, wie man einem Arzt die Hand reicht, wenn er den Puls fühlen will.
Er starrte sie an: was wollte sie von ihm? Dieser blasse Mensch mit den schwarzen Augenlidern? Was wollte er von ihm, jetzt in dem unendlich ersehnten Augenblick?
»Auf meinem Gesichtl wirst es nicht finden. Und auch mit deinen Fragen nicht! Weshalb sekierst du mich ewig mit deiner dalketen Fragerei? Du willst ja nichts wissen, mir zu Fleiß machst du die Augen zu ... Bist du so dumm oder bist du so schlecht? Ja oder nein? Schau, jetzt fang ich an, dich zu fragen.«
»Du bist ja ganz verstört, Poldi. Sei doch ruhig, denk doch, jetzt bist du bei mir ... Was hast du nur? Macht deine Freundin dir Sorgen? ... Du schweigst? Ich muß dir raten: laß sie doch ... endlich ... wie kannst du ihr denn helfen? Der ist doch nicht mehr zu helfen.«
»Glaubst?«
»Ja, das denk ich, Poldi. Es ist freilich schade ... Aber sie ... die Anny ... schau, schließlich ist es doch ihre Schuld.«
»Anny?«
»Ja, natürlich, die Anny! Hast du vergessen, daß du mir gestern alles erzählt hast?«
Poldi lachte. Sie lief im Zimmer umher mit verworrenen, irrenden, kleinen Füßen, die in weißen Leinwandschuhen auf dem dunklen Teppich umherzüngelten, ihr Lachen klang bald vom Fenster her, über dessen Geländer sie sich weit hinausbeugte, bald von der Tür, mit deren Klinke sie spielte.
»Ich weiß nicht, weshalb du lachst.«
»Ach, die Anny! Die Anny!« sagte Poldi und wiegte den blonden Kopf hin und her. »Jetzt hilf sie mir doch suchen, die Anny!« Sie rannte im Zimmer umher, warf die Stühle um, wie aus Ungeschicklichkeit, sah unter den Tisch, spürte in die Ecke hinter den Ofen ... unbeherrscht trieb sie umher, wie es kleine Kinder tun, die von ihrem Spiel, von ihrem Lachen, ihrem Weinen, ihrem Schreien bis zur Bewußtlosigkeit berauscht sind.
»Nein, die Anny ist nicht hier. Und hier? Und da? Schau mal her, such' sie unterm Bett.«
»Du hast also gestern gelogen?« fragte er drohend.
»Ach nein, Herr Doktor«, sagte sie mit wütendem Spott auf den noch vom Lachen zerrissenen Lippen: »Hältst du mich wirklich für so schlecht?«
»Keine Scherze«, sagte er. »Hast du von dir selbst erzählt? Bist du es, die der Leutnant...«
»Nur weiter, Alfred... Was hast du noch auf dem Herzen? Nichts? Nein? Dann dank ich schön, dank dir für alles Schöne und Gute...
Aber jetzt bist du so lieb und läßt mich wieder fort?«
»Wohin?«
»Nein, im Ernst, jetzt lach ich! Jetzt hat der Alfred noch immer nicht genug von seiner Fragerei! Stellt sich hin, der Judenbub und glotzt an mir herunter... und wohin? Und woher? Und was noch? Darf ich bei einem Herrn Juden in die Beicht' gehen? Und noch ein Wunsch?«
»Weshalb schreist du so?«
»Und darf ich nicht schreien? Wer darf dann schreien? Ja, wer bist du denn? Was hab' ich mit dir gehabt? Ja, da schau her, jetzt kommandierst du auch schon mit mir herum.«
»Ich kommandiere nicht, Poldi. Ich wollte der Anny helfen, oder... dir.«
»Danke schön. Aber du mußt dir keine Mühe geben. Aus is. Schluß.«
Und ihr Lachen rollte fort, neben ihren bösen Worten rollte es her, wie ein Eisenbahnzug, dessen Bremsen gebrochen sind, und der, der Lokomotive zum Trotz, Weichen und Signale überfährt.
»Poldi!«
»Poldi! Wie du das sagst! Wo hast du das Singen gelernt?« Als er ihre Hand ergreifen wollte: »Auslassen! Hörst nicht? Ja, bitte, bitte schön! Du mußt mich nicht mehr anrühren.«
»Was wirst du tun, Poldi?«
»Was wird sie tun, die Poldi? Draufgehen wird sie. Wann bitte?« – sie ahmte Alfreds Stimme nach –, »heute, morgen, bitte um drei Uhr früh, wenn die Hähne krähen, bitte, und die Mädchen auf den Nachttopf gehen. Ja, schau mich nur an! Glaubst es nicht? Nein, er glaubt es nicht, er lacht, und mir ist, als wäre ich schon lang verfault!«
»Poldi!« Er ließ die Hand los.
»Ach, gib mir die Ruh' mit deiner Poldi. Ich hab' nicht gern, daß du mich so rufst.«
»Was soll ich tun? Was kann ich tun?«
»Ich möcht Ruhe haben«, sagte sie, »Ruhe, Ruhe!«
»Ihr Wunsch kann erfüllt werden«, sagte er und nahm Hut und Spazierstock, die in der Ecke auf ihn gewartet zu haben schienen.
Aber Poldi rührte sich nicht.
»Nun?« fragte er. Und als sie schwieg: »Ich gehe fort. Wenn Sie es wünschen, lasse ich Sie allein.«
»Sie? Weshalb sagst du auf einmal ›Sie‹ zu mir? Ich bin dir wohl zu schlecht zum ›Du‹? Und vorgestern hast noch so schön darum gebettelt!«
»Willst du hier bleiben oder nicht?«
»Ist das dein Ernst? Ja, ich möchte hier bleiben; hier bleiben möcht' ich gerne, ich werde nicht mehr schreien, jetzt sollst du sehen, wie still ich sein kann. Ein süßes Fratzerl ganz und gar. Hat mich vorhin jemand gehört?«
»Ach, was liegt denn daran?«
»Ja«, sagte Poldi, »und was liegt dir denn schließlich an mir? Aber diese Nacht hätt' ich gern bei dir verbracht... nein... diese Nacht hätt' ich gern geschlafen. Nur schlafen, bitte, sonst nichts.«
Sonst nichts? dachte Alfred in Wut. Sie weiß alles, ich nichts. Sie ist durch alle Pfützen durch, bevor sie zu mir gekommen ist. Zu mir? Ist sie bei mir?
»Schlafen?« fragte er. »Aber kannst du denn nicht besser zu Hause schlafen?«
»Nein, kann ich nicht. Schade, nicht wahr? Tut mir leid.«
»Und gestern? Wo warst du gestern?«
»Wo ich war? Ja, wo war ich nicht? Da schau her, das errät der Herr Doktor nicht... Wie kommt denn der in unser Kutscherbeisel in der Schlossergasse? Dort haben sie mir zwei Stamperln Rum um acht Kreuzer geben... Aber couragiert bin ich nicht worden... schlecht war mir davon und müde bin ich worden... das will auch gewohnt sein...«
»Deine Mutter hat dann am Geruch gemerkt, daß du dich..., daß du etwas getrunken hast?«
»Oh, keine Spur, so weit ist es zum Glück gar nicht gekommen. Weißt, wir haben einen Gang, dann kommt die Tür in die Küche. Die Gangtür war offen, aber die Küchentür war versperrt... Ja, einmal in der Zeit kann man auch auf den alten Kohlensäcken im Gang schlafen... aber so jeden Tag...«
»Jeden Tag? Das glaubst du doch selbst nicht. Sie muß ja mit dir reden. Und im schlimmsten Fall... was kann sie dir sagen?«
»Das weiß ich nicht. Aber nein, natürlich weiß ich es: ›Geh dorthin, woher du kommst, mein Herzensschatz‹, sagt sie zu mir.«
»So streng?« fragte Alfred.
»Streng? Wahrscheinlich war sie zur Anny zu gut.«
»Anny?« Sein Blick leuchtete auf. »Es hat also doch eine Anny gegeben! Ich wußte ja, Poldi, daß... daß du gestern die Wahrheit gesagt hast... du bist ganz verwirrt...«
»Was phantasierst du von der Anny? Weißt du nicht, wer das ist? Habe ich dir nicht die ganze Zeit von meiner Schwester, dem armen Narrn, erzählt? Ihr ist schon lange wohl. Hin is worden, gerad' zur rechten Zeit.«
»Das kann ich nicht verstehen. Ist sie dabei... im Wochenbett gestorben?«
»Ja, was willst du noch wissen? Wenn du mir alle Geheimnisse herauskitzeln willst, da denk ich, du bist ein Spitzel.«
»Seh ich aus wie ein Spitzel?«
»Ich kenn mich da nicht aus, ich hab' nur den einen gesehen. Kaum war der Hascher tot, da kriecht schon so ein Geheimer, ein kleines, schwarzes Schlieferl bei der Tür herein. ›Sagen Sie, Frau Linsbauer‹, sagt er zur Mutter, ›wissen Sie nicht, mit wem Ihr Fräulein Tochter in letzter Zeit gegangen ist?‹ Die Mutter sagt nichts und fängt zu weinen an. ›Man spricht so allerhand‹, sagt der Detektiv, ›und Sie, die Mutter, wissen von nichts. Komisch, nicht?‹ Jetzt ist es aber Zeit, daß Sie weiterkommen, sag ich und spring ihm an den Kragen, was wollen Sie hier, schämen Sie sich nicht? – ›Schämen soll sich der feine Verehrer Ihrer Schwester, der sie unter die Erde gebracht hat mit seinen Künsten‹, sagt der Spitzel. ›Ich habe mich nicht zu schämen, ich bin ein Herr von der Polizei.‹ – ›Nein‹, sagt die Mutter gestern zu mir, ›die Schand! Jetzt bist auch du so ein Schlampen? Soll ich wegen deiner ins Kriminal kommen? Das darfst von deiner Mutter nicht verlangen. Mach mir das Herz nicht schwer.‹ – Und damit ich ihr das Herz nicht schwer mach', sperrt sie abends um acht die Gangtür ab.«
»Aber du mußt doch jemanden haben, der sich um dich kümmert«, sagte Alfred.
»Weißt wen?«
»Ja, Poldi, ich denke, du solltest noch einmal zu dem Leutnant gehen. Gestern... vielleicht war er gestern nervös...«
»Nervös? Ach so...« und sie nickte, als begreife sie jetzt alles.
»Ja, Poldi, wenn du es noch einmal versuchen willst, begleite ich dich zur Kaserne.«
»Danke schön, Alfred, aber ich war schon so frei.«
»Du warst heute schon bei ihm? Und...«
»Und immer das gleiche. Die erste Viertelstunde ist er sehr nett, das Puppchen kann so reizend sein, nicht wahr, Fredy? Aber dann, wenn er sieht, daß er mich nicht fortschmeicheln kann, dann gibt er mir's ordentlich: ›Siehst du nicht, daß du nichts bei mir ausrichtest?‹ sagt er. Vielleicht schwindelst du mich an? Abwarten, sag ich. Schließlich, wenn es so weit ist, ich lauf dir nicht davon. Aber jetzt kommst du Tag für Tag in die Kaserne, gleich wie ein Stammgast ins Café.‹«
»Gemein!« sagte Alfred.
»Ach, das ist noch nicht alles. Er spricht und spricht, aber ich geh nicht. Was soll ich denn auch in dem Zustand anfangen, wenn mich die Mutter nicht in die Wohnung einläßt...? Jetzt droht er mir: ›Jetzt wirst sehen, in fünf Minuten ist die Ordonnanz mit dem Kaffee bei mir, und jedesmal, wenn sie kommt, bist du hier.‹ – ›Ich lieg da‹, sag ich, ›bin am Krepieren, und du denkst an deinen Jausenkaffee?‹ – ›Und was soll sein?‹ fragt er. ›Gleich wirst sehen, was sein soll‹, sag ich, nehm den Salonrevolver, der auf seinem Tischerl liegt. Aber da hättest du ihn sehen sollen! Jetzt war Leben in ihm! Und wie! ›Herstellt!‹ schreit er. ›Auslassen! Hörst nicht, überspanntes Luder?‹« –
»Ich weiß nicht, weshalb du dich unaufhörlich selbst beschimpfst«, sagte Alfred. »Hast du keine Achtung vor dir?«
»Wirst du jetzt auch noch rebellisch? Ja, vielleicht denkst auch du, daß das alles nur Spasseteln sind. Aber da schau her, wie er meine Hand zugerichtet hat.« Sie zeigte ihm ihre Hand, die am Goldfinger eine feine blutige Schramme hatte. Aber immer noch war es die schöne beseelte Hand einer schönen beseelten Statue: in ihren zarten Falten und Gliedern lag nichts von Verzweiflung, nichts von Gemeinheit, gar nichts von dem Menschen, der schrie. Aber ihr Gesicht! Das war ihr wahres Gesicht!
»Mit der Faust hat er mir die Hand vom Revolver fortgeschlagen und mein armes Ringerl hat er mir auseinander gebrochen. Massiv war es ja nie ... willst es sehen?«
Sie zog ein Goldringlein hervor, an dem an ganz dünnem Faden ein winziges Herz hing.
Alfred nahm den zerbrochenen Ring in die Hand und führte ihn an die Augen.
»Man kann den Ring noch löten lassen«, sagte er.
»Kann man das? Ja, was solch ein Gescheiterl nicht alles weiß ...«
»Ich begreife nicht, daß du jetzt noch lachen kannst, Poldi. Erzähl doch weiter, ich muß alles wissen, wenn ich dir ... wenn ich dich unterstützen soll.«
»Ach, es kommt nichts mehr ... Wenn er anders zu mir gewesen wäre, wär ich denn dann hier bei dir? Er ist noch eine Weile hin und her gegangen und immer springt etwas um sein hübsches Goscherl ... und dabei dreht er ein Zigaretterl nach dem anderen ... legt eins über das andere hin, bis es ein ganzer Scheiterhaufen war. Aber geraucht hat er nicht ... Und kein Wort ... Warum spricht er denn jetzt nicht mehr auf mich? Was hab' ich ihm getan? – ›Ich geh jetzt‹, sag ich ihm und denk mir was aus. ›Morgen fahr ich fort ... ich geh in Dienst, die letzten drei Monate ins Findelhaus ... dort darf ich bleiben, muß nur fleißig die Fußböden reiben ...‹ – Er rührt sich nicht. – ›Rudi‹, sag ich, ›nicht einmal die Hand?‹ – Und wie er so dasteht, mit den Händen die blöden Zigaretten zusammenwirft ... und lacht so höhnisch ... da hätt' ich ihn erwürgen mögen! ›Hast du mich nicht gehört?‹ frag ich. ›Stell dich doch nicht so störrisch! Ich brauch ein Geld von dir. Ich kann doch nicht zu Fuß fort von hier!‹ – ›Aha‹, sagt er, ›wozu brauchst denn du jetzt auf einmal Geld? Wozu herumkutschieren in der Welt mit meinem Geld ... Geld, das hör ich schon gern ... natürlich, Geld, das will ein jeder ... heut oder morgen wieder? Nein, sonst nichts? ... Mach dir nichts draus, es wird dir's schon ein anderer geben.› – ›Ein anderer?‹ frag ich. ›Nein, ich bitt dich zum letztenmal.‹ – ›Druck di!‹ sagt er. Mir war, als spuckte er mich an. – ›Rudi‹, sag ich noch einmal. ›Jetzt schaust, daß du weiterkommst ... Polderl!‹ – Die Ordonnanz ist schon an der Tür gestanden. Kaffee und Semmel hat sie gebracht in einem kleinen Körberl ... der Rudi muß ja seine Ordnung haben. – ›Du gemeiner Fallot!‹ sag ich und werf ihm alle seine Zigaretteln auf einmal mitten ins Gesicht, damit er zu seiner Jause etwas zu rauchen hat ...« Schweigend bebte Alfred vor Poldi zurück.
Wortlos, mit weit aufgerissenen Augen lag sie zwischen den Kissen des Sofas. Ihre in die Finsternis des Zimmers ausgestreckten Hände aber suchten nach ihm. »Du läßt mich doch hier?«
Er nahm ihre Hand, besah die kleine Schramme am Ringfinger... ganz nahe vor seinen Augen zitterten die kühlen, nackten Glieder dieser Hand, als breite sich ihr Körper ganz nackt vor ihm aus, strahlend auf dunklem Grunde... aber in der Tiefe seiner Seele graute ihm vor ihr.
»Da, die kleine Wunde«, sagte er, »muß deshalb doch vor Infektion geschützt werden.«
Still schlüpfte er in die Küche, holte aus dem Ausgußbecken der Wasserleitung ein feuchtes Tuch hervor, drückte es aus, ließ immer wieder frisches Wasser hindurchströmen und brachte es Poldi hin.
»Wo warst denn so lange?« fragte sie. Sie lag im Bett, ihre weißen Leinwandschuhe kauerten auf dem Teppich. Das leichte Musselinkleid knisterte fein, als er es streifte.
»Du bist doch nicht bös, daß ich mich schon jetzt niedergelegt habe?... Morgen muß ich bald aufstehen... was bringst du denn da? Was hast du denn mit deinem Leinwandstreiferl vor? Laß nur sein, morgen ist alles wieder gut.«
»Morgen?«
»Morgen tut mir keine Wunde mehr weh.«
»Du mußt nicht mit dem Sterben kokettieren, Poldi! Schlaf jetzt! Du kannst sicher sein, daß... ja, morgen sieht dann alles viel tröstlicher aus.«
Er hatte noch viele Trostesworte vor, aber sie schlief schon: schon war ihr ganzer Körper regungslos, tief und seufzend ihre Atemzüge, wie die Atemzüge eines Menschen, der zu viel geschrien und geweint hat. Alfred ging zum Fenster, zog die Rolläden in die Höhe. An der Fensterbrüstung war noch das eiserne Gitter angebracht, das früher in Kinderzeiten die Mutter hatte einbauen lassen, ewig von der Furcht gedrückt, das Kind könne aus dem Fenster stürzen oder aus Übermut schwere Gegenstände aus dem Fenster werfen und Vorübergehende verletzen.
Mit beiden Händen hielt sich Alfred an den verrosteten Stäben des Gitters fest; wie sehnte er sich aus diesem Zimmer heraus! Er wollte fort, leise fort, leise das Zimmer verlassen, mit einem weiten Umweg um Poldis Bett... Er sah sich um: sah die weißen Kissen, das blasse Gesicht, die dunklen Augen, die ihn vielleicht anstarrten, ohne daß er es wußte...
Draußen regnete es sanft. Die Akazienbäume standen schimmernd da, einzelne Blätter glitten mit den schweren Regentropfen zu Boden und blickten nun aus kleinen, schwarzglänzenden Lachen nach oben. Kühle wehte herüber, von fern, von einem anderen Ufer her... hinter ihm aber in dunkler Schwüle, fremd aus fremden Kissen, wie auf einem Katafalk, atmete ein Mensch im Schlaf. Sie war allein. Er selbst, hart am Fenster, glaubte draußen, schon weit draußen, im Duft der Akazien, im Streicheln des sanften Regens dahinzugehen, gesund, frei, umhüllt vom weiten Mantel einer Sommernacht.
Sie aber lag in ihrem Bett, allein, eingemauert von vier Wänden. Und doch schien jemand bei ihr zu stehen...
Matt leuchtete ihr Arm, aber er war nicht mehr weiß, nicht mehr mädchenhaft unberührt. Plötzlich sah ihn Alfred bedeckt mit einer Art grauen Aussatzes, angefressen vom Schimmel der Leichen, angefressen von der kleinen blutigen Wunde her, angesteckt mit dem grauenhaften Unbekannten, das man den Tod nannte.
Nun begriff er sie: alle Erinnerungen lebten auf. Aber er stieß die Erinnerungen von sich, nur eins war da, nur eines sprach, schrie mit Soldatenstimme: daß diese Kreatur morgen sterben sollte.
Sie war ihm entgegengekommen, auf ihn zugeflogen, ihm zuliebe von der Höhe ihrer Schönheit zu ihm herabgeglitten, so hatte er es gefühlt, so hatte er sie geliebt. Aber es war gar nicht Liebe, ihr Flug war nicht die beschwingte Leichtigkeit eines ganz Glücklichen, Verachtung saß ihr fest im Genick, der Haß aller stieß sie ihm von rückwärts entgegen, warf sie schwer wie ein Stück altes Eisen an seine Brust. Er stand wehrlos vor ihr im dunklen Park, unter süß duftenden Bäumen, über die eine Drossel herüberflötete, fern von der bedrückten Welt, an einem Tag jenseits aller Tage.
Sie saß zusammengekauert in der kleinen Kutscherkneipe, ein Kellner in Hemdsärmeln stellte dröhnend ein Glas Rum auf die bloße Tischplatte. Dann wartete er, mit kleinen Äuglein spähend, einen Augenblick und nahm das kopfüber geleerte Glas fort, brachte ein neues und lachte.
Der Schluß war Tod. Auch ihm mußte sie sich zudringlich anbieten, selbst der Tod stieß sie, die Verachtete, von sich.
Sie selbst hatte sich zum Tode verurteilt. Keiner der Beteiligten hatte Grund, die Unterschrift zu versagen. Alle Instanzen waren abgelaufen, jene Küsse unter den dunklen Bäumen waren die letzte Zärtlichkeit, die drei Gläser Rum waren der letzte Rausch, die Hand voll Zigaretten, dem fremden Offizier ins Gesicht geschleudert, war die letzte Rache. Aber all das hatte noch einen Morgen vor sich, immer war noch Zeit für eine Galgenfrist, dies aber war die allerletzte Nacht.