Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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38

»Wenn ich geahnt hätte, wer dieser ›Padischah‹ ist«, raunte Mrs. Melendez dem Herrn mit dem Monokel völlig unvermittelt zu, als sie in dem kleinen Speisesaal der Jacht einen Augenblick allein waren, »so hätte ich es mich tausend Pfund kosten lassen, um dem Burschen das Handwerk für immer zu legen.«

»Sie wissen es also jetzt?« fragte Bayford weit mehr artig als interessiert, weil für ihn seit dem Augenblick, da er vor zwei Stunden mit Mrs. Lee an Bord gekommen war, alle diese Dinge der Vergangenheit angehörten.

Mrs. Melendez spuckte die Spitze der Zigarre, die sie abgebissen hatte, grimmig in eine Ecke.

»Ob ich es weiß! Aber davon zu sprechen ist jetzt nicht die Zeit. Ich will Ihnen nur sagen, daß dieser Schuft ein niederträchtiges Stückchen ausgeführt hat und daß wir deshalb schon heute nacht losfahren. Der Kapitän meint, so um drei Uhr sei die beste Zeit. Inzwischen können wir auch noch die Gesellschaft von Greenhithe aufnehmen. – Bis dahin werde ich kein Auge zumachen.« Sie paffte aufgeregt an ihrer Zigarre und wedelte mit der großen weißen Hand in dem Rauch herum. »Gott sei Dank, daß wenigstens unser Geschäft noch in Ordnung gekommen ist«, meinte sie dann erleichtert. »Vor einer Weile kam die letzte Depesche, und der geizige Ferguson kann jetzt seinen Scheck haben. Ich schicke –«

Bayford hob den Blick und sah die verdrießliche Frau ernst und bedeutsam an.

»Sie werden wohl mit mir abrechnen müssen«, fiel er vorsichtig ein. »Es ist nämlich leider so gekommen, wie ich es befürchtet habe. – Alle Abendblätter sind bereits voll davon. Allerdings sprechen sie von einem Raubmord, während ich glaube, daß . . .« Mrs. Melendez glich einer riesigen gelben Wachsfigur, und nur die dicken Lider zuckten leise. Endlich bewegten sich auch die wulstigen Lippen, aber die Worte, die sie formten, kamen aus einer zugeschnürten Kehle.

»Ein Raubmord . . . So . . .« Sie starrte mit entsetzten Augen vor sich hin und begann zusammenhangloses Zeug zu murmeln. »Der Agent – und Mrs. Smith – und jetzt Ferguson . . .« Plötzlich richtete sie sich auf und schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch. »Hol's der Teufel«, sagte sie gefaßt, »was werde ich mir mit diesen Geschichten den Kopf schwer machen? Wenn das gestern geschehen wäre, hätte mich vielleicht vor Angst der Schlag getroffen, aber jetzt können mich diese verdammten Banditen gern haben.«

In diesem Augenblick kehrte Mrs. Lee zurück, die rasch eine ärgerliche Unterlassung wieder gutgemacht hatte. Sie war zu dem ersten Dinner an Bord nur mit kleinem Schmuck erschienen und wäre am liebsten in den Boden versunken, als sie plötzlich der mit glitzernden Kostbarkeiten behangenen und besteckten Argentinierin gegenübergestanden hatte. Sie kam sich geradezu nackt vor und vermochte keinen Bissen hinunterzubringen. Was mußte Mrs. Melendez von ihr denken und vor allem, wie leicht konnte Bayford sich durch die Äußerlichkeit beeinflussen lassen. Sie waren leider noch nicht getraut, und solange man einen Mann nicht fest in der Hand hatte, konnte eine Kleinigkeit das größte Unheil anrichten.

Mrs. Lee huschte daher bei der ersten günstigen Gelegenheit davon, und als sie wieder erschien, konnte sie sich wirklich sehen lassen. Ihre Büste war zwar nicht ganz so umfangreich wie jene von Mrs. Melendez, aber immerhin bot sie genügend Platz, um die Juwelenauslage, die auf ihr prangte, zu voller Geltung zu bringen; außerdem repräsentierten die beiden runden Handgelenke und die kurzen, dicken Finger einen Wert von einigen tausend Pfund.

Die Gastgeberin war höflich und neidlos genug, dies zu bemerken.

»Es sind sehr schöne Sachen, die Sie da haben«, sagte sie mit ehrlicher Bewunderung. »Ich kenne mich darin aus, denn früher war ich auch wie versessen auf dieses Zeug, aber seitdem mir ein hundsgemeiner Schuft mit den schönsten Stücken durchgegangen ist . . .«

Da die Gefahr drohte, daß seine ›Verwandte‹ in ihrem Groll ihre vornehme Herkunft und gute Erziehung vergessen könnte, gestattete sich Bayford ein nachdrückliches Räuspern, und Mrs. Melendez steckte knurrend die Zigarre in den Mund. Glücklicherweise hatte Mrs. Joanna nichts anderes vernommen, als daß sie ihren Zweck erreicht hatte, und das gab ihr endlich ihre gute Laune wieder.

Gegen zehn Uhr hob Mrs. Melendez die Tafel auf.

»Ich hoffe, daß Sie gut schlafen werden, Mrs. Lee«, sagte sie höflich, »obwohl es heute vielleicht noch ein bißchen unruhig zugehen wird. Ich nehme nämlich noch eine kleine Gesellschaft auf, aber die wird uns weiter nicht stören.«

Soviel glaubte sie augenblicklich ihrem Gast mitteilen zu müssen, das Weitere war Bayfords Sache.

Sie nickte Mrs. Lee lächelnd zu, und die Hauptaktionärin der Pension ›Paris‹ und ähnlicher Häuser in Buenos Aires und die Präsidentin des Komitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels schüttelten einander freundschaftlichst die fleischigen Hände.

Als der aufmerksame Herr mit dem Monokel Mrs. Joanna zu ihrer Kajüte geleitete, hatte er noch einige peinliche Minuten zu überstehen. Die Witwe sah sich rasch in dem halberleuchteten Gang um, dann hängte sie sich schwer an Bayfords Hals, und nur das Bewußtsein, daß er Millionen in den Armen hielt, gab diesem die Kraft, die Last nicht abzuschütteln.

Im nächsten Augenblick trieb das Rollen einer nahen Tür Mrs. Lee eilig in ihre Kajüte. Die ›dicke Zigarre‹ kam in einem schweren Pelzmantel und mit dicht verhülltem Kopf durch den Gang, um an Deck zu gehen, und Bayford schloß sich ihr an.

»Es ist ein Bote von Greenhithe gekommen«, murmelte sie hinter dem Shawl hervor. »Hoffentlich kann es nun bald losgehen.« Als Mrs. Melendez schwerfällig die letzte Treppenstufe nahm, löste sich ein Mann aus dem Dunkel und überreichte ihr einen dicken Briefumschlag. Sie riß ihn auf und las unter der nächsten Lampe zunächst einen Zettel, worauf sie die übrigen Papiere zu sich steckte.

»In Ordnung«, brummte sie mit ihrer tiefen Stimme. »Sorgen Sie dafür, daß es keinen unnützen Aufenthalt gibt.«

Sie machte eine ungeduldige verabschiedende Handbewegung, und der Mann verschwand über Deck.

Gleich darauf ratterte ein Motorboot los, und einige Sekunden später schoß eine grüne Lichtkugel vom Wasser gegen den Himmel.

Als sie erlosch, wandte sich drüben am anderen Ufer bei Greenhithe ein großer Mann in einem schweren Wettermantel an einen der Leute, die ihn in respektvoller Entfernung abwartend umstanden.

»Es ist soweit«, sagte er kurz. »Sie sperren an der engsten Stelle bei Grays ab. Das Boot mit den Mannschaften von Scotland Yard nehmen Sie in die Mitte, ich selbst werde mich im Kielwasser der Jacht halten. Die Signale kennen Sie ja.«

Als nächster kam der vierschrötige Mann mit den Affenarmen daran.

»Sie bleiben mit Ihren Leuten bei dem Heim, bis die ganze Gesellschaft ausgeflogen ist. Dann nehmen Sie sich der Vorsteherin und der Magd an. Und von der nächsten Viertelstunde an darf in dem Hause nichts geschehen, ohne daß Sie davon erführen. Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache.«

Oberst Passmore machte eine kleine Pause, bevor er mit einer Frage schloß. »Schon hier?«

»Erledigt, Sir, vor ungefähr einer Stunde.«

»Und?«

»Jawohl, Sir«, erwiderte der andere neuerlich, und diesmal bedeuteten die zwei so unverfänglichen Worte für den vom Mißgeschick verfolgten ›verliebten Lord‹ weitere fünf Jahre seines jungen Lebens.

 

Dabei hatte sich der Abend für Mr. Tyler ungemein glücklich angelassen. Die vereinbarte Zusammenkunft mit den beiden Mädchen in Chelsea war programmgemäß und ohne jede Verzögerung verlaufen. Die Rote hatte mit einem bescheidenen Handköfferchen bereits vor dem Hause gewartet, und auch Miss Harper war, kaum daß der Wagen gehalten hatte, reisefertig heruntergekommen.

Es wurde eine sehr angenehme Fahrt, und der unternehmende junge Mann war bei glänzender Laune. Auch wenn er den erhaltenen Vorschuß abrechnete, trug ihm dieses erste Geschäft einen Betrag ein, mit dem sich einige Zeit leben ließ.

»Es tut mir sehr leid, daß ich mich den Damen heute und morgen kaum werde widmen können«, sagte er, »aber Montag sehen wir uns dann auf dem Schiff bestimmt wieder – wenn nicht etwas ganz Besonderes dazwischenkommen sollte«, fügte er als vorsichtiger Mann hinzu. »Dann reise ich eben mit dem nächsten Dampfer nach. Im übrigen werden Sie ja gut aufgehoben sein und ganz nette Gesellschaft finden – aber ich möchte Ihnen doch einige Vorsicht empfehlen. Vor allem geben Sie auf Ihre Ersparnisse und Wertsachen acht. – Falls Sie es wünschen, bin ich auch gerne bereit, diese in Verwahrung zu nehmen«, erbot er sich zuvorkommend.

Die Rote ließ ein Gelächter hören, daß die Scheiben des Autos klirrten.

»Ersparnisse und Wertsachen!« quietschte sie vergnügt. »Mann, für wessen Tochter halten Sie mich? Mein ganzer Schmuck ist keine fünf Schilling wert, und an die drei Pfund, die ich besitze, soll sich einer herantrauen – er zahlt das Doppelte für Pflaster und Bandagen.«

Mr. Tyler lächelte etwas trübe, aber die blonde Puppe entschädigte ihn für seine Enttäuschung.

»Ich besitze achtzig Pfund«, gestand sie bescheiden, »und möchte sie wirklich nicht gerne verlieren. Wenn Sie also so gütig sein wollten . . .« Sie begann auch schon hastig in ihrem Täschchen zu kramen, und der ›verliebte Lord‹ hielt ihr lässig zwei Finger hin.

»Also achtzig Pfund«, sagte er, indem er die Scheine in die Tasche schob. »Natürlich werde ich Ihnen darüber eine Bestätigung geben.«

Die Leiterin des Heims hatte in diesen Stunden zuviel zu tun, um sich an die gewohnte Schablone zu halten. Anstatt Mr. Manchester, wie sie ihn nannte, und seinen Begleiterinnen den üblichen salbungsvollen und umständlichen Empfang zu bereiten und sofort an die notwendigen Formalitäten zu gehen, beschränkte sich Mrs. Owen diesmal auf eine sehr eilige Abfertigung.

»Sie kommen gerade vor Torschluß, meine Herrschaften«, stieß sie aufgeregt hervor. »Das Schiff geht bereits heute nacht ab. Es lohnt sich also gar nicht, daß Sie erst zu Bett gehen«, meinte sie zu den beiden Mädchen, »aber ich werde Ihnen ein Zimmer anweisen lassen, damit Sie sich wenigstens etwas ausruhen können.«

Wie an allen solchen aufgeregten Tagen hatte Mrs. Owen eine rote Nase und ein rotes Kinn und mußte ununterbrochen ihre Medizin nehmen. Sie goß auch jetzt davon ungefähr zwölf Teelöffel in ein Glas, schwenkte es herum und schüttete dann die gelbe Flüssigkeit mit verzerrtem Gesicht hinunter.

»Das Zeug schmeckt schrecklich«, erklärte sie dem ›verliebten Lord‹, der es für Whisky gehalten hatte, »aber ich muß es nehmen, um mich auf den Füßen halten zu können. Das kommt von diesen verdammten Überraschungen. Bedenken Sie – achtundvierzig Stunden früher! Und dabei habe ich es erst heute mittag erfahren. Was es da noch zu tun gibt!« Sie erinnerte sich, weshalb der Besuch noch hier war und suchte nach einem Briefumschlag, den sie bereits vorbereitet hatte. »Hier haben Sie Ihr Honorar. Zehn Prozent davon habe ich mir gleich abgezogen, denn das ist bei uns so üblich.«

Mr. Tyler wurde ebenso kurz zur Tür hinausgeschoben wie die Mädchen, und Mrs. Owen griff bereits wieder nach der Medizinflasche.

»Lassen Sie für alle Fälle die Hunde los, wenn der Herr weg ist«, rief sie einer knochigen Frau nach. »Es sind zwar nur noch ein paar Stunden, aber es kann nichts schaden.«

Nach fünf Minuten ging im Garten ein Riesenradau los. Ein wildes Rudel brach durch die Büsche und rannte mit wütendem, heiserem Bellen die Mauern ab.

»Was haben denn die verdammten Biester heute?« fragte Mrs. Owen ärgerlich.

»Weiß ich's?« gab die Frau zurück, bequemte sich aber doch, noch einmal vor die Tür zu treten und durch die Finger einen schrillen Pfiff loszulassen. Gleich darauf kam es von allen Seiten angeflogen, und vier riesige Wolfshunde legten sich aufgeregt knurrend vor die Schwelle.

Mittlerweile war Mr. Tyler gerade bei dem Taxi angelangt, das am Ortseingang auf ihn wartete. Er wollte sich noch eine Zigarette anzünden, aber im Schein des Hölzchens gewahrte er plötzlich dicht vor sich ein Gesicht, das ihn an den unangenehmsten Augenblick seines bisherigen Lebens erinnerte.

»Wir kennen uns bereits, Mr. Tyler«, sagte der Mann höflich, »und ich muß Ihnen daher wohl nicht erst viel erklären. – Steigen Sie gefälligst ein, aber vorher . . .«

Der Mann griff in die Tasche, und der ›verliebte Lord‹ blieb auch in diesem Augenblick der vollendete Gentleman und legte hübsch brav die Hände übereinander.

Die beiden Mädchen in Nummer acht saßen auf den harten Bettstellen und hingen ihren Gedanken nach. Miss Harper lächelte dabei zuweilen selig vor sich hin, aber in dem Gesicht der Roten lag ein nachdenklicher Zug. Sie hatte angenommen, zwei Tage Zeit zu haben, und nun sollte es schon in wenigen Stunden losgehen. So weit wollte sie die Geschichte doch nicht mitmachen, denn es war fraglich, ob es dann überhaupt noch eine Gelegenheit gab, herauszukommen.

Das Mädchen machte sich daran, die starke Tür zu untersuchen, die die Frau bei ihrem Weggang wohl aus Versehen abgesperrt hatte, aber der Riegel war so verkleidet, daß man nicht an ihn heran konnte. Außerdem war auf dem Gang noch ein hohes Holzgatter, das wahrscheinlich auch verschlossen war, und schließlich war noch mit dem Haupttor zu rechnen, neben dem sich das Kontor der rotnasigen Herbergsmutter befand.

Alles das hatte sich die Rote genau eingeprägt, und es schien ihr daher geratener, es mit dem Weg durch das Fenster zu versuchen. Es lag zwar ein starkes Eisengitter davor, aber das hatte schließlich nichts zu bedeuten.

Endlich war die Rote mit ihrer Arbeit fertig geworden. Das Gitter, das wohl schon über hundert Jahre seinen Dienst getan hatte, hing nur noch auf einer Seite in den Bändern, und ein geschmeidiger Körper konnte sich ganz leicht durchzwängen. Die Entfernung bis zum Boden betrug nicht mehr als ungefähr drei Meter, und das war kein halsbrecherischer Sprung.

Die Rote tat noch einen Blick durch das Zimmer und stopfte ihre dicke Handtasche in den enganliegenden Mantel.

»Also, was ist's?« wandte sie sich nochmals an ihre Gefährtin. »Ich helfe Ihnen hier hinunter und draußen bei der Mauer wieder hinauf.«

Die Puppe rührte sich nicht, denn sie wäre um nichts auf der Welt aus einem Fenster gesprungen und über eine Mauer geklettert.

Die andere wartete eine Minute, dann zuckte sie wortlos die Achseln, schwang sich gewandt auf das Fensterbrett und zwängte sich vorsichtig durch die Lücke zwischen Mauer und Gitter. Sie sprang so leicht und sicher ab, daß sie nicht einmal schwankte, als sie sich unten aufrichtete und einen Augenblick anhielt, um über den einzuschlagenden Weg schlüssig zu werden. Nach links wollte sie nicht, denn dort war die Haustür, und auf die Seite, wo sie stand, mußten die Fenster der Vorsteherin hinausgehen. Sie machte also rechtsum und flog rasch über den Rasen.

Zwischendurch gab es überall Gebüsch und vereinzelte Bäume, und der Weg zur Mauer schien ihr sehr lang, aber endlich sah sie ihr Ziel hinter einigen Stämmen auftauchen.

Sie hatte kaum mehr als vierzig Schritte bis dorthin und verlangsamte daher bereits ihren Lauf, als sie plötzlich ein seltsames Geräusch in ihrem Rücken sekundenlang lauschend innehalten und dann in voller Flucht weiterstürmen ließ. Hinter ihr knackte es in den Büschen, als ob die Zweige niedergesichelt würden, und dazwischen vernahm sie ein fliegendes, heiseres Lechzen und gieriges Jaulen.

Auf eine derartige Gefahr war sie nicht vorbereitet gewesen, und während sie mit Riesensprüngen weiterstürmte, zerrte sie an der dicken Handtasche, die sie in den Mantel gestopft hatte, und die die einzige Rettung barg.

Wenn es überhaupt noch eine Rettung gab . . . Sie sah von rechts her bereits einen langgestreckten Schatten auftauchen – und die Tasche mit der Waffe hatte sich unverrückbar verklemmt . . .

Noch zehn, noch acht Schritte trennten sie von der Mauer, die ihre allerletzte Hoffnung war – da sah sie mit entsetzten Augen, wie auch dort sich plötzlich dunkle Schatten loslösten . . . In vollem Lauf machte sie eine jähe Wendung – und verspürte einen Schlag gegen die Stirn, der sie wie vom Blitz gefällt zusammenbrechen ließ . . .

Der offene Rachen des ersten Hundes zersplitterte zwei Spannen vor der Gestalt am Boden unter einem wohlgezielten, furchtbaren Hieb, der die Nase traf. Dann folgten blitzschnell noch drei, vier dumpfe Schläge, und durch das Gras ging ein eiliges Schleifen.

Zehn Minuten später kniete hinter einer dichten Hecke außerhalb der Mauer Oberst Passmore neben dem bewußtlosen Mädchen, das man auf seinen Mantel gebettet hatte. In seinem harten, unbeweglichen Gesicht lag ein so seltsamer Zug, daß der Mann mit den Affenarmen glaubte, sich rechtfertigen zu müssen.

»Ich hoffe, es ist ihr nichts Ernstliches geschehen«, meinte er mit aufrichtiger Sorge. »Wir waren rechtzeitig zur Stelle, aber plötzlich änderte das Mädchen die Richtung und prallte gegen einen Baum.«

»Die Dame!« berichtigte ihn der Oberst mit einer Schärfe, daß es dem Vierschrötigen durch alle Glieder fuhr. Dann tastete Passmore noch einmal mit zarten Fingern den garstigen blutunterlaufenen Fleck ab, der in dem schönen, bleichen Gesicht von der Stirn bis unter das Auge lief, und legte eine kalte Kompresse auf.

»Sie fahren mit der Dame nach ›Falcon Lair‹«, befahl er, indem er sich aufrichtete. »Hier werde ich alles selbst in Ordnung bringen. Nehmen Sie meinen Wagen, und lassen Sie ihn fahren, was er hergibt. Unterwegs halten Sie bei Sir Guy und bitten ihn in meinem Namen, Sie zu begleiten. Über die Dinge, die hier vorgefallen sind, haben Sie nicht ein Wort zu verlieren. – Verstanden?«

»Sehr wohl, Sir«, stieß der Mann dienstbeflissen hervor, aber es klang nicht überzeugend.

Tatsächlich kannte er sich in der Geschichte nicht mehr aus. Sir Guy war einer der Leibärzte des Königs und der Chefarzt der Polizei, und ›Falcon Lair‹ war ein großer Herrensitz – und dieses Mädchen aus Stratford . . .

 

Es war ein Uhr nachts, als Mrs. Owen beinahe das frische Glas Medizin aus der Hand gefallen wäre, weil das Telefon in die Stille ihres Zimmers schrillte. Sie stürzte aber das gelbe Tränklein doch noch rasch hinunter, bevor sie den Hörer aufnahm.

Es war nur das eine Wort »Fertig«, das sie zu hören bekam, aber sie wußte, was es zu bedeuten hatte.

»Die Hunde herein«, fuhr sie die Frau an, die in dem Nebenraum schnarchte.

Gleich darauf gellte ihr Pfiff durch den Garten, nach einer Weile ein zweiter und dann ein dritter und vierter.

Endlich erschien die knochige Person wieder, und auf ihrem breiten Gesicht lag ein hämisches Grinsen.

»Die Biester sind nicht da«, berichtete sie. »Wahrscheinlich sind sie wieder einmal ausgebrochen, und wir werden wieder blechen können. – Das letzte Mal haben sie drei Schafe gerissen.«

Das war für Mrs. Owen eine schreckliche Aussicht, aber jetzt hatte sie an andere Dinge zu denken. Sie griff nach dem mächtigen Schlüsselbund und eilte mit der Frau in den Flur. Überall wurden die Holzgatter aufgerissen, die die Gänge abschlossen, und dann kamen die einzelnen Zimmer an die Reihe. Zehn Minuten später war unten im Gang ein seltsamer Zug formiert.

Es ging durch den Garten zur Mauer, die an den Fluß stieß, und dann einige Stufen hinunter, wo die Gesellschaft eilig und nicht gerade sanft in schmierige Boote verstaut wurde.

In kleinen Abständen zogen diese über den Strom und hielten auf das blaue Licht zu, das von Thurrock herüberleuchtete.

Mrs. Melendez saß völlig angekleidet in ihrer Kajüte und verfolgte mit ungeduldiger Spannung die Zeiger der kleinen Standuhr. Wenn alles glatt ablief, wofür sie ja vor dem Bild ihres Schutzheiligen zwei dicke, duftende Wachskerzen angezündet hatte, mußte es jede Minute soweit sein, und dann hatte mit dem grauenden Morgen all das furchtbare Bangen der letzten Tage ein Ende. – Und dann würde sich vielleicht auch eine Gelegenheit finden, mit dem niederträchtigen Lumpen abzurechnen, der unten in einer Kabine steckte.

Als sie das Surren der Motorboote vernahm und das gepeitschte Wasser immer lauter an die Schiffswand klatschte, schlug sie dankbar ein großes Kreuz und setzte dann mit Behagen eine Zigarre in Brand. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sie sich nie an Deck, denn das war kein Anblick für ihr weiches Gemüt . . .

Die dicke gelbe Frau fuhr plötzlich hoch, denn sie hörte den Schiffstelegrafen erregt ticken, und draußen klang ein lauter, langgezogener Ton über das Wasser . . .

Einen Augenblick war sie wie gelähmt – dann warf sie den Pelzmantel um und keuchte davon. Vor sich sah sie bereits eine elastische Männergestalt die Treppe hinauffliegen, aber in ihren Füßen lag es wie Blei, und ihr ohnehin kurzer Atem versagte ihr den Dienst.

Als sie endlich oben ankam, war sie in Schweiß gebadet, und ihre flimmernden Augen vermochten das Bild, das sich ihnen bot, nicht gleich aufzunehmen.

Das Schiff lief noch immer, aber die Maschinen arbeiteten langsamer, und ein grüner Lichterhalbkreis, der vor dem Bug auf dem Wasser tanzte, kam immer näher.

In diesem Augenblick scholl von dorther auch wieder hohl und blechern der langgezogene Laut durch die Nacht:

»Wasserpolizei. – Im Namen des Königs! – Stop!«

Bayford starrte wie ein Verzweifelter um sich, um einen Weg zur Flucht zu finden, denn in dieser Gesellschaft wollte er nicht angetroffen werden. Das gab Scherereien, die ihm aus gewissen Gründen nicht passen konnten.

Mr. Bayford zischte einen fürchterlichen Fluch hervor und fuhr in blinder Wut nach der Hüfte – aber er brachte die Hand nicht mehr nach vorne.

Das Deck wimmelte von schweigsamen Männern, die eilig und geschickt ihre Arbeit taten.

Der fremde Mann unten in der Kajüte hatte, als der Spektakel begann, lauschend den Kopf erhoben und einen raschen Blick durch das runde Fenster geworfen. Dann hatte er sich mit einem Riemen seine Aktentasche umgegürtet und war behende ins Wasser geglitten. Er schwamm lautlos wie ein Fisch, aber plötzlich fühlte er im Nacken einen harten Griff, den er schon einmal verspürt hatte. Er konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn der Griff hielt ihn zunächst eine ziemliche Weile unter Wasser, aber schließlich zog Steve Flack doch an und brachte diesmal seinen Fang sofort ins Trockene.

»Sie sind ein komischer Kauz, Mr. Smith«, sagte er verwundert, indem er die triefende Gestalt einfach auf die Planken fallen ließ, »daß Sie ausgerechnet im Dezember und ausgerechnet in der Nacht immer in der Themse spazierengehen. Nun werden wir Sie aber ein paar Wochen hübsch trocken halten.« Mr. Smith neigte den Kopf zur Seite und spitzte die bläulichen Lippen, brachte aber keinen Ton hervor.

Mrs. Joanna Lee fand man erst, als man die Tür ihrer Kajüte aufgebrochen hatte. Sie lag mit krampfhaft geschlossenen Augen und verstopften Ohren unter der Daunendecke. Ihr romantisches Gemüt hatte dem ersten romantischen Erlebnis nicht standzuhalten vermocht. Sie bot jammernd ihr ganzes Vermögen für das nackte Leben, und als dies abgelehnt wurde, begann sie verzweifelt um Hilfe zu schreien. Es kostete Mühe, sie zu beruhigen, als dies aber endlich doch einigermaßen gelungen war, verstand sie wiederum nicht, was man eigentlich von ihr wollte.

Ein Beamter brachte es ihr mit der ihm ausdrücklich eingeschärften Schonung bei, und Mrs. Lee tat prompt das, was eine bestimmte Sorte von Frauen in solchen Fällen zu tun pflegen – sie fiel in Ohnmacht.


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