Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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34

Mr. Rosary hatte an diesem Nachmittag dringende Geschäfte gehabt, und da es gerade so paßte, hatte er auf dem Rückweg auch noch mit einigen alten Freunden in Whitechapel einen kleinen Plausch abgehalten. Dabei war es später geworden als sonst, und als er die Station verließ, lagen die Straßen des Vorortes bereits in nächtlicher Verlassenheit. Ein heller Himmel und ein steifer Nordost deuteten auf den nahenden ersten Frost, und Rosary griff mit lautlosen Schritten eilig aus, um unter sein schützendes Dach zu kommen.

Einmal stockte sein Fuß, weil ein ebenso eiliger Mann, der ihm bekannt vorkam, seinen Weg kreuzte. Er sah ihm überrascht nach, wiegte verwundert mit dem Kopf und setzte sich dann wieder in Trab.

Um sein Heim zu erreichen, mußte er noch eine lange, enge Gasse passieren und dann unten um die Ecke biegen, um die eben eine andere Gestalt auftauchte. Diese hielt sich dicht an den Häusern, aber schon nach wenigen weiteren Schritten wußte Rosary, wen er vor sich hatte. Das war eine angenehme Begegnung, denn er hatte seiner Nachbarin heute nicht guten Abend wünschen können, und wenn es auch recht kalt war, ein paar Minuten konnte man immerhin stehenbleiben und ein bißchen plaudern. Vor allem wollte er ihr sagen, daß sie sich in acht nehmen sollte, weil er eben –

Mr. Rosarys Gedankengang riß jäh ab, denn vor seinen Augen spielten sich Dinge ab, die alle seine Sinne lähmten.

Hinter dem Mädchen war plötzlich ein unbeleuchtetes Auto erschienen, und gleichzeitig trat der Roten aus der Seitengasse ein Mann in den Weg. Bevor sie sich über dessen Absichten noch klarzuwerden vermochte, reckte er blitzschnell die Faust gegen ihr Gesicht, und im nächsten Augenblick glitt sie taumelnd in seine Arme.

Der Wagen war bereits längst verschwunden, als Rosary endlich aus seiner Erstarrung erwachte. Er fuhr mit den Händen in die Luft und machte krampfhaft den Mund auf und zu, aber der Schreck saß ihm noch immer so in den Gliedern, daß er nur ein unartikuliertes Gurgeln hervorzubringen vermochte. Aber dann rang sich schließlich doch der erste Hilfeschrei, von seinen Lippen, und die nächsten klangen noch deutlicher und verzweifelter. Er wußte zwar nicht, was das helfen sollte, aber jedenfalls war es das einzige, was er tun konnte, und er bemühte sich mit allen seinen Kräften.

»Mensch, was ist los?« fuhr ihn plötzlich eine ärgerliche Stimme an. »Warum brüllen Sie so?«

Der aufgeregte Mann fühlte sich kräftig am Arm gefaßt und gehörig durchgebeutelt, und das brachte ihn wieder völlig auf den Damm.

»Wer wird nicht brüllen, wenn so etwas geschieht?« sprudelte er hervor. »Vor meinen Augen haben sie sie gepackt und mit Gewalt in das Auto geschleppt, und Gott weiß, was sie mit ihr vorhaben. Aber die Herren werden mir helfen, einen Polizeibeamten suchen, und ich werde ihm alles sagen, was ich gesehen habe, und man wird die schrecklichen Räuber gewiß bald fangen, wenn man auf mich hört. Und außerdem werde ich sofort an die Themse fahren, und der Herr auf dem Schiff wird seine mächtige Hand ausstrecken . . .«

Mr. Rosary sprach teils zu den beiden vertrauenerweckenden Männern, die er vor sich hatte, um ihnen die Sache zu erklären, teils zu sich selbst, um sich in seiner Verzweiflung etwas aufzurichten, und war eigentlich noch nicht so recht im Schwung, als ihm der Faden abgeschnitten wurde. Einer seiner Zuhörer leuchtete ihm bei den letzten Worten blitzschnell ins Gesicht, entschuldigte sich aber sofort höflich.

»Oh, Mr. Rosary«, sagte er überrascht. »Ich habe Sie nicht gleich erkannt. – Was hat es also gegeben?«

Der schmächtige Mann ließ sich nicht zweimal auffordern, die Geschichte nochmals zu wiederholen, aber er faßte sich diesmal etwas kürzer und klarer, und die beiden hörten ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Dann traten sie einige Schritte beiseite und berieten hastig.

»Ich fürchte, daß das eine brenzlige Sache für uns werden kann«, meinte der eine bedenklich. »Eigentlich hätten wir dichter hinter ihr her sein sollen, obwohl das schließlich auch nichts genützt hätte, da wir ja doch nicht dazwischenfahren durften. – Aber das kommt von diesen verdammt gescheiten Befehlen, bei denen man nie so recht weiß, woran man ist.«

Er schob den Hut aus dem Gesicht und kraute sich ratlos hinter dem Ohr, aber der andere hatte einen Vorschlag, der sich hören ließ.

»Das Beste wäre vielleicht, einer von uns bringt Rosary aufs Boot. Er will ja sowieso hin, und es kommt mir vor, als ob er von allem mehr wüßte als wir.«

Wenige Minuten später saß der noch immer höchst aufgeregte, blasse Mann in einem kleinen Wagen, den die beiden herbeigezaubert hatten, und mußte sich krampfhaft an seinem Sitz festhalten, um bei der wahnsinnigen Fahrt nicht umzufallen. Nur einmal hielt sein Begleiter bei einer Telefonzelle an, dann ging es womöglich noch halsbrecherischer durch die City.

Steve Flack stand, angetan mit seinem Ölzeug und dem Südwester, bereits am Steuer des silbergrauen Bootes und wartete auf den Befehl, klarzumachen, als er unten das dringliche Klingeln des geheimnisvollen kleinen Apparats und gleich darauf die Stimme seines Herrn vernahm. Dann knarrte die Treppe, und Oberst Passmore war auch schon an seiner Seite.

»Wir müssen noch warten«, erklärte er erregt. »Wenn Rosary kommt, sofort hinunter mit ihm.«

Der Steuermann war gewohnt, solche Befehle sehr genau zu nehmen, und der etwas zarte Mr. Rosary hatte daher in der nächsten Viertelstunde eine sehr unangenehme und beängstigende Prozedur zu bestehen. Zunächst wurde er von seinem Begleiter förmlich aus dem Auto gerissen, dann durch enge Winkel und über eine halsbrecherische Pier geschleift und schließlich auf ein schaukelndes Deck gestoßen, wo zwei andere Arme nach ihm griffen und ihn wie ein Gepäckstück nach unten beförderten.

Erst auf dem Stuhl vor dem Holzgitter fühlte er sich endlich geborgen, aber er hatte noch nicht ordentlich Atem schöpfen können, als ihn die Stimme hinter der Holzwand schon drängte.

»Was ist in Stratford geschehen?«

Der immer dienstbeflissene Mann begann zum drittenmal zu erzählen. Sehr genau und ausführlich, denn man konnte doch nicht wissen, was dabei von Wichtigkeit war und was nicht, und als er glaubte, daß seine Worte für das höchst dramatische Geschehen vielleicht nicht ausreichen könnten, sprang er auf und deutete äußerst lebendig an, wie sich alles zugetragen hatte. Der Bericht war so anstrengend, daß Rosary schließlich ganz erschöpft war, aber er sollte noch immer keine Ruhe finden.

»Und sonst wissen Sie nichts?« forschte die Stimme hinter der Holzwand eindringlich.

Rosary strich bedächtig durch seinen Bart und schüttelte den Kopf.

»Natürlich weiß ich auch sonst noch verschiedenes«, begann er mit großer Vorsicht. »Ich weiß, daß Mr. Bayford an dem schönen Mädchen großen Gefallen gefunden hat, aber sie ist eine anständige Dame und hat ihm eine Ohrfeige gegeben. Und ich weiß, daß Mr. Bayford heute abend in Stratford gewesen ist, denn ich habe ihn mit diesen meinen eigenen Augen gesehen – aber ich will damit nichts gesagt haben.«

Er hob abwehrend beide Hände, ließ aber die Rechte sofort wieder sinken, um nach dem Briefumschlag zu greifen, der durch das Gitter kam. Mr. Rosary hätte zwar sofort das ganze Geld, das darin war, und sogar noch mehr dafür gegeben, wenn er seine Nachbarin in Sicherheit gewußt hätte, aber der große Herr hinter der Wand würde die Sache gewiß auch so in die Hand nehmen.

 

Mr. Bayfords bescheidene Etagenwohnung lag in tiefstem Dunkel, und die vier Leute, die seit Stunden den Häuserblock so umkreisten, daß immer einer von ihnen auf jeder Seite war, hatten Mühe, ihre Aufmerksamkeit wachzuhalten.

Es war kurz nach zehn Uhr, als an der rückwärtigen Front eine lange, hagere Gestalt auftauchte, deren viereckiger Bart in die Luft starrte.

Der erste Bummler, der ihr begegnete, bekam einen freundlichen Klaps auf die Schulter, daß er fast in die Knie knickte.

»Altes Sumpfhuhn, warum liegst du nicht schon längst in der Klappe?« grölte Steve Flack, um im Flüsterton hastig hinzuzufügen: »Ist er zu Hause?«

»Bin eben auf dem Wege«, gab der andere lachend zurück und schob seine Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen. »Nein«, kam es dabei zwischen seinen Zähnen hervor, »seit sechs Uhr fort und noch nicht zurück.«

Steve teilte zum Abschied noch einen kameradschaftlichen Puff in die Rippen aus, dann schob er sich breitbeinig weiter. Er traf noch zwei Bekannte, die er in seiner liebenswürdigen Art begrüßte, aber erst bei dem Dritten hielt er sich länger auf.

»Man wünschte, ein Affe zu sein, um wenigstens Flöhe knacken zu können«, beklagte sich der Mann trübselig. »Seitdem ich hier herumrenne, habe ich nichts anderes gesehen, als daß man in dem alten Laden auf der anderen Seite einen Ballen abgeladen hat . . .«

Der rote Bart klappte jäh herunter, und erst nach Sekunden wieder hinauf.

»Daß dich der . . .«, stieß Steve Flack zischend hervor und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Die Tür des Ladens in der kleinen Seitengasse war mit einem Vorhängeschloß gesichert und doppelt versperrt, dem Burschen, der sich in der folgenden Viertelstunde daran zu schaffen machte, bereitete dies jedoch keinerlei Schwierigkeiten. Aber dem großen Mann, der neben ihm stand, dauerte es trotzdem zu lange, und er hatte alles mögliche auszusetzen.

»Sputen Sie sich. Und wenn es soweit ist, bleiben Sie hier an der Tür. Flack steht drinnen im Hof.«

Als es soweit war und die Tür sich in den Angeln drehte, schob sich der große Mann vorsichtig durch den Spalt, und der andere pflanzte sich draußen auf die Schwelle.

In der nächsten Sekunde vernahm er drinnen ein heftiges Gepolter, danach traf ihn etwas unters Kinn, daß er direkt in den Himmel schauen mußte, und als er den Kopf endlich wieder herunterbrachte, konnte er nur noch erkennen, wie ein Schatten pfeilschnell um die Ecke verschwand . . .

Der Bursche schielte betroffen und schuldbewußt nach der Tür, aber der Anblick, der sich ihm dort bot, beruhigte ihn etwas: Oberst Passmore klopfte sehr sorgfältig den Staub ab, den er bei seiner jähen Beförderung in einen Haufen alten Gerumpels aufgelesen hatte, und um seinen Mund spielte ein so ungefährliches Lächeln, daß auch der andere glaubte, sich ein Grinsen gestatten zu dürfen.

Auch Steve Flack grinste und gluckste vor Vergnügen, als er kurz darauf den seltsamsten und sympathischsten Vorschlag anhörte, der ihm je gemacht worden war.

»Es geht aber alles auf Ihre Haut«, wurde er gewarnt. »Sie sind von dieser Minute an außer Dienst, und was Sie tun, haben Sie selbst zu verantworten. Es soll auch nur eine kleine Lektion sein, nicht mehr. Merken Sie sich das!«

Diese Nebensächlichkeiten interessierten den Steuermann nicht weiter, denn es ging vor allem um eine Kiste Zigarren und eine Flasche Whisky vom besten und außerdem um einen Spaß, wie er ihn schon lange nicht gehabt hatte.

 

Erst gegen elf Uhr hielt es Mr. Bayford für an der Zeit, zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Sein Mann hatte ihn wissen lassen, daß alles glatt abgegangen war und daß das Mittel, mit dem er das Mädchen bewußtlos gemacht hatte, mindestens drei Stunden wirken würde. Da ließen sich in aller Ruhe noch einige Vorbereitungen für das gemütliche Beisammensein treffen, und Bayford ordnete alles mit großem Sachverständnis und in zuversichtlichster Stimmung. Nun, da die Schöne sich in seiner Gewalt befand, würde sie wohl mit sich reden lassen. Wenn aber nicht . . . Sie lag drüben in dem notdürftig eingerichteten Kontor neben dem Lagerraum, und dort konnte sie sich schließlich sträuben, soviel sie wollte . . .

Nach einem letzten Blick auf sein stimmungsvolles Arrangement schlich Mr. Bayford über die Holztreppe in den Nebenhof, schloß geräuschlos die Hintertür zu dem Laden auf und verhielt einen Augenblick lauschend den Atem. Dann trat er vorsichtig ein und knipste seine Taschenlampe an . . .

Was weiter geschehen war, blieb für Bayford bis zu seiner unangenehmen letzten Stunde ein ungelöstes Rätsel.

Er fühlte sich plötzlich von einer eisernen Klammer am Kragen gefaßt, dann klatschte ihm links und rechts etwas schmerzhaft ins Gesicht, und schließlich kam er sich vor, wie ein Papierball an der Gummischnur. Er bekam einen mächtigen Puff in den Rücken, flog nach vorne, wurde von der Gummischnur wieder zurückgerissen und flog neuerlich, bis er schließlich sogar zum Fußball avancierte und unter einem kräftigen Tritt krachend in einem Winkel landete . . .

Als Mr. Bayford spät nach Mitternacht zu seiner Wohnung hinaufschlich, fiel sein erster Blick auf einen etwas unbeholfenen, aber dafür riesengroßen Drudenfuß an der Hintertür, und zu den heftigen Schmerzen, die er in allen Gliedern verspürte, gesellte sich nun auch noch ein würgendes Gefühl im Hals, das ihm Tränen in die verschlagenen Augen trieb.

 

Der dicke Fred Slater war an diesem Abend endlich so weit, daß die Welt für ihn jeden Schrecken verloren hatte. Sogar der ›Padischah‹ konnte ihm den Buckel hinunterrutschen und die ganze Polizei dazu. Er hatte einen Rausch, der ihn zwar etwas unbeholfen machte, seinem inneren Menschen aber eine solche Courage verlieh, daß er es ohne weiteres mit der ganzen Hölle aufgenommen hätte. Nicht einmal die zwei Gestalten, die fortwährend um ihn herumtanzten und ihn angrinsten, konnten ihm mehr bange machen. Zuerst hatte es ihm allerdings nicht recht geheuer geschienen, daß der Rotbart und der andere sich auf ihren eigenen Füßen davongemacht hatten, denn er hatte die beiden doch mit seinem Fläschchen glatt erledigt, aber wenn man das Gehirn ordentlich ausspült, sieht man alles viel klarer und gar nicht so schrecklich. Fred unterhielt sich nun sogar zuweilen halblaut mit den beiden Gestalten und nannte die eine einen ›alten roten Ziegenbock‹ und der anderen drohte er eine Ohrfeige an, wenn sie nicht ruhig sitzen bleiben würde.

Er war mit dieser anregenden Gesellschaft so beschäftigt, daß er das erste Schnarren des Telefons völlig überhörte, und erst als die Klingel anhaltend ratterte, schob er die beiden unsichtbaren Gestalten mit einer energischen Handbewegung beiseite und nahm einen geraden Anlauf gegen den Kamin. Er hätte zwar dabei fast den Apparat heruntergerissen, aber schließlich fand er doch den Hörer und lallte mit schwerer Zunge, aber mutig wie noch nie, seine Meldung in die Muschel. Und weil er so guter Laune war, fügte er gemütlich hinzu: »Quassel dich aus, alter Junge . . .«

Es dauerte diesmal lange, bevor der Lautsprecher sich schmetternd hören ließ.

»Du bist ja völlig besoffen, du Schwein!«

»Jawohl . . . sozusagen . . .«, glaubte der kleine Dicke vergnügt bestätigen zu müssen, worauf er eine Flut von überstürzten Flüchen und Verwünschungen zu hören bekam, die ihn aber so langweilten, daß er die Augen schloß und zu dösen begann.

Ganz von ferne hörte er dann noch so etwas von »abrechnen« und »morgen« und »Oxford«, worauf er ganz automatisch »Jawohl« ins Telefon murmelte.

Erst als ihm der stützende Arm abglitt und er mit dem Kinn in die Gabel des Apparates fuhr, wurde es in Slaters Schädel wieder etwas klarer, und gerade in diesem Augenblick ließ sich der Lautsprecher neuerlich vernehmen.

»Vergessen Sie nicht«, brüllte der Unsichtbare, »morgen Oxford! – Oxford, verstanden? Und pünktlich um Mitternacht will ich die ganze Bande hier haben. Es darf nicht einer fehlen. Und wenn Sie mir wieder betrunken kommen, drehe ich Ihnen den Kragen um . . .«

»Jawohl, Oxford«, stammelte der kleine, dicke Mann plötzlich ernüchtert und sehr kleinlaut. »Und alle morgen um Mitternacht . . .«

»Schluß!« rief Oberst Passmore in den kleinen Apparat, dessen Drähte von dem silbergrauen Boot über die Ufermauer zu dem verlassenen Haus führten.


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