Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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22

»Mir scheint, man will uns heute zerreißen«, flüsterte die Rote in einer Atempause der erhitzten Miss Harper zu, und diese lächelte mit ihrem Puppengesicht so geziert, wie es sich für eine angehende große Künstlerin schickte.

»Ja, man fliegt förmlich von einem Arm in den andern. So viele elegante Herren habe ich noch selten in einem Lokal getroffen. Auch hier war es gestern noch lange nicht so unterhaltend. Es muß etwas Besonderes los sein.«

Auch Mr. Tyler sagte sich das, seitdem er an diesem Abend das Parkett von ›Tausendundeiner Nacht‹ betreten hatte, und stürzte nun eilig herbei, um seine Damen wenigstens eine Weile für sich zu haben. Bisher hatte er mit ihnen kaum einige Worte wechseln können, da sie ihm immer wieder von einem der fremden Tänzer entführt wurden, die heute hier plötzlich aufgetaucht waren.

Und dieses Massenaufgebot von tadellosen Gentlemen bereitete ihm Sorge. Er hatte eine scharfe Witterung für seinesgleichen und war auch unterrichtet, daß er Assistenz bekommen sollte, aber der schlanke Mann mit dem schmachtenden Künstlergesicht und der mit der sehnigen Reiterfigur arbeiteten offenbar gegen ihn. Der erstere schien es auf Miss Harper, der andere auf die Rote abgesehen zu haben, und der ›verliebte Lord‹ war überhaupt noch nicht dazu gekommen, seine Eisen weiterzuschmieden. Dabei war nach seinem Besuch in Greenhithe eigentlich bereits alles in Ordnung, und es hing nur noch davon ab, wie weit er heute gelangen würde. Jedenfalls wollte er sich gehörig ins Zeug legen.

»Ich freue mich, daß Sie die letzten Abende in London noch so vergnügt verbringen«, sagte er mit einem unbefangenen, verständnisvollen Lächeln. »Es wird nämlich nun bald Ernst, wenn Sie wirklich entschlossen sind . . .«

Er sah fragend von einer zur anderen und begegnete zwei aufs höchste gespannten Mädchengesichtern.

»Natürlich! – Wo ich doch meine Siebensachen schon zusammengepackt habe!« stieß die Rote lebhaft hervor.

»Auch ich bin bereits reisefertig«, lispelte Miss Harper, und Mr. Tyler war sich der Verantwortung, die damit auf ihm ruhte, vollauf bewußt.

»Ich freue mich herzlich«, versicherte er schlicht. »Dann können wir also am besten gleich alles genauestens vereinbaren: Wir haben heute Dienstag, und wenn nicht etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommt, ist für nächsten Montag die Ausreise der Truppe vorgesehen. Aber schon Sonnabend sammelt sich das Ensemble, und ich würde die Damen ungefähr um acht Uhr abholen.« Der ›verliebte Lord‹ zog ein kleines Taschenbuch und machte sich zum Schreiben bereit. »Wo, bitte?«

Mr. Tylers Blick ruhte zwar zunächst auf der Roten, aber Miss Harper war die Flinkere. »Ich wohne Chelsea, Flood Street achtzehn«, erklärte sie eifrig und sah zu, ob er die Adresse auch richtig notierte.

»Mich können Sie auch dort abholen«, entschied die andere leichthin. »Das geht dann in einem hin.«

Der ›verliebte Lord‹ freute sich, daß er soweit war, denn in diesem Augenblick erschienen der ›Reiter‹ und der Mann mit dem Künstlerkopf fast gleichzeitig, um ihm die beiden Mädchen neuerlich zu entführen.

Aber diesmal hatte er für die beiden Rivalen nur einen Blick verächtlichen Bedauerns, und er fühlte sich seiner Beute so sicher, daß er sogar einen gemächlichen Rundgang durch die Bar antrat.

In einer versteckten Nische gewahrte er Bayford, der ihn durch eine leichte Kopfbewegung zu sich winkte.

»Hören Sie«, sagte der Herr mit dem Monokel ohne Umschweife, »die Rote in Ihrer Gesellschaft interessiert mich.«

Tyler machte ein sehr bestürztes Gesicht. »Das paßt mir aber gar nicht«, stotterte er. »Ich habe mir solche Mühe gegeben, und . . .«

Der andere verzog das Fuchsgesicht zu einem niederträchtigen Grinsen. »Ich will Ihr Geschäft absolut nicht stören. – Wie lange habe ich Zeit?«

»Höchstens bis Freitag«, gab der andere erleichtert und eindringlich zurück, und Bayford verschwand mit einem kurzen, befriedigten Nicken.

In so sorgenvoller Stimmung er auch war, die Sache mit der Roten ließ ihm plötzlich keine Ruhe. Er hatte seinem Geschmack in der letzten Zeit mit Mrs. Lee und Mrs. Smith etwas zuviel zugemutet, und die Ohrfeige hatte noch das übrige dazu getan, um ihn plötzlich lichterloh brennen zu machen. Schließlich war es ganz gut, wenn er in seiner augenblicklichen Laune eine solche Ablenkung hatte. Der Besuch beim ›Mächtigen‹ lag ihm noch immer in den Gliedern, und wenn er daran dachte, daß bis zu dessen Entscheidung noch die ganze Nacht und ein Morgen verstreichen sollten, so graute ihm vor den unerfreulichen Gedanken, die eine so lange Zeit heraufbeschwören konnte.

Dabei war Mrs. Polly heute in einer Verfassung, die ihre Gesellschaft nicht angenehmer machte. Sie hatte plötzlich sehr scharfe Züge, grübelte mit verkniffenen Lippen unablässig vor sich hin und hatte für seine Anordnungen in der Bar, die er ihr durch vertrauliche Andeutungen erläutert hatte, kaum das flüchtigste Interesse. Daß sie sogar nicht einmal nach Zärtlichkeiten Verlangen trug, milderte zwar die Sache, aber als Bayford wieder zu ihrer Loge hinaufstieg, wurde er bei jedem Schritt langsamer und mißmutiger.

Mittlerweile war Polly Smith zu einem Entschluß gekommen.

Eine lächerliche Kleinigkeit hatte sie an diesem Abend in das Arbeitszimmer ihres Mannes geführt, das sie oft monatelang nicht betrat, und diese Kleinigkeit hatte sie eine Entdeckung machen lassen, für die sie keine Erklärung finden konnte, so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte. Mit der Aufklärung, die sie von dem völlig verstörten Mr. Smith hierüber erhalten hatte, konnte und wollte sie sich nicht zufrieden geben. Wenn es um Geld ging, war Mrs. Polly nicht mit Ausflüchten abzuspeisen. Und es ging um eine recht ansehnliche Summe.

»Siebenunddreißigtausend und einige hundert Pfund . . .«, tuschelte sie dem gespannt aufhorchenden Bayford mit großen Augen zu, indem sie ihr Gesicht dicht an das seine brachte.

»Ich glaubte meinen Augen nicht trauen zu dürfen, aber der Kontoauszug der Bank lautet klipp und klar auf seinen Namen, und ich habe ihn für alle Fälle an mich genommen. Ich muß darüber Klarheit haben. Entweder hat er mich bestohlen, obwohl ich das bei einem solchen Betrag doch unbedingt gemerkt haben müßte, oder . . .«

Die empörte Frau machte eine bezeichnende Geste.

»Lügen. Erst vermochte er überhaupt kein Wort hervorzubringen, dann sprach er von einem Freund, der ihm das Geld anvertraut hätte, und als ich ihn auslachte, behauptete er schließlich, in einer ausländischen Lotterie gewonnen zu haben. Die ganzen drei Jahre hat er mir auf der Tasche gelegen, und während ich mich aufrieb, hat dieser Schmarotzer heimlich ein kleines Vermögen angesammelt. Aber ich werde diese Gelegenheit benützen, um mit ihm eine gründliche Abrechnung zu halten. Er wird mir das, was er mich gekostet hat, ersetzen, und dann werfe ich ihn hinaus. Ich habe ihm das schon angekündigt . . .«

Mrs. Polly kochte vor Zorn und sah Bayford mit schillernden Augen an, aber dieser war taktvoll genug, sich in eine so intime Familienangelegenheit nicht einzumischen.

»Seltsam, wirklich sehr seltsam . . .«, murmelte er, und die gründliche Überlegung, die diese Sache erforderte, gab ihm die Möglichkeit, gedankenvoll in die Bar zu blinzeln und die Rote zu suchen.

Nach einigen Minuten gewahrte er sie auch in den Armen des schneidigen Gentleman, und dieser mochte ihm ebensowenig gefallen, wie er Tyler gefiel. Es war da offenbar etwas im Gange, das sein Geschäft und seine besonderen Pläne mit dem Mädchen stören konnte, und er mußte so rasch wie möglich eingreifen.

Der neue Tänzer der Roten benahm sich tadellos, ließ aber keinen Zweifel darüber aufkommen, welch tiefes Interesse er seiner Partnerin entgegenbrachte.

»Sie sind die entzückendste Frau, der ich je begegnet bin«, sagte er begeistert. »Leider aber . . .«

Sein rassiges Gesicht verzog sich in schmerzlicher Entsagung, seine Tänzerin war jedoch auf Gedankenlesen offenbar nicht eingestellt.

»Was leider?« fragte sie naiv und blitzte ihn an.

»Leider scheinen Sie bereits liiert zu sein«, deutete der Herr mit einem Seufzer und einem verzehrenden Blick an, worauf die Rote noch verständnisloser dreinsah.

»Liiert? Was ist das für ein Wort?«

»Nun, ich meine« – der ›Reiter‹ neigte sein Gesicht dicht zu dem ihren und suchte in banger Frage ihre Augen –, »daß Sie mit jenem Herrn, in dessen Gesellschaft Sie sich befinden . . .«

Das Mädchen kapierte plötzlich und zeigte ihre wunderbaren Zähne, in einem strahlenden Lächeln.

»Ach so! Sie meinen, daß ich mit ihm ein Verhältnis habe? Warum reden Sie da erst so geschwollen herum? Das mag ich nicht. – Und das mit dem Verhältnis ist nicht so arg«, fügte sie sachlich hinzu. »Wenn es mir nicht mehr paßt, versetze ich ihn.«

»Das beruhigt mich«, gab er mit Wärme zurück.

»Offen gestanden, gefällt mir der Herr nämlich nicht . . .«

»Und ich?« fragte der ›Reiter‹ erwartungsvoll.

»Sie sind mir vorläufig zu zudringlich«, bekam er zu hören. »Was sonst noch an Ihnen ist, werde ich schon herauskriegen, wenn wir uns erst näher kennenlernen.«

»Geben Sie mir Gelegenheit dazu«, drängte er. »Wenn es Ihnen recht ist, machen wir einmal eine Autopartie.«

»Autofahren ist meine Leidenschaft«, gestand die Rote.

»Morgen«, schlug er ungeduldig vor, aber nach einigem Nachdenken schüttelte sie den Kopf.

»Nein, morgen geht es nicht, da haben wir zu Hause Waschtag. Aber vielleicht übermorgen. – Ich werde es Ihnen schon sagen.«

So gab sich der ›Reiter‹ mit einem dankbaren Händedruck zufrieden und verfiel in eine gefühlvolle Schweigsamkeit, die ihr von seinem beseligten Hoffen sprechen sollte.

Aber die Rote hatte für so empfindsame Dinge kein Verständnis. Sie schwieg zwar auch, ihre Gedanken waren jedoch ganz woanders.

Zum soundsovielten Male an diesem Abend suchten ihre Augen die Loge, um zu erfahren, ob der große Mann, mit dem sie den Pakt geschlossen hatte, anwesend wäre; und zum soundsovielten Male reizte es sie, einen der Pfeile anzustecken, die sie in ihrer umfangreichen silbernen Handtasche mit sich schleppte, aber schließlich fand sie immer wieder, daß die Zeit hierfür noch nicht gekommen war. Sie wollte ganze Arbeit leisten – für seine und ihre Zwecke.

Deshalb strengte Steve Flack vergeblich seine Augen an und war bereits beim sechsten Glas Whisky angelangt, als seine Schutzbefohlene endlich aufbrach. Das war heute schließlich keine so schreckliche Sache gewesen, denn der Whisky war prima.

Wie immer, entschlüpfte die Rote ihrer Begleitung nach einer flüchtigen Verabschiedung, um allein ihres Weges zu eilen, und der unternehmende ›Reiter‹, der kein Auge von ihr gelassen hatte, knüpfte daran besondere Hoffnungen.

Er schoß im Schatten mit lautlosen Sätzen hinter ihr her, und als sie flüchtend um eine Ecke bog, stürmte er blindlings nach, um sie zu fassen . . .

In der nächsten Sekunde prallte er mit dem Gesicht an ein langes, kantiges Hindernis, und vor seinen Augen tanzten flimmernde Sterne. Er glaubte, an einen Mauervorsprung gerannt zu sein, aber als er endlich etwas zu sehen vermochte, gewahrte er, daß dieser Vorsprung einen vorstehenden viereckigen Bart hatte, der eben anfing, sich zu bewegen.

Der ›Reiter‹ ließ einen grimmigen Fluch hören, aber Steve Flack, ein Fachmann in solchen Dingen, spuckte ihm mitleidig vor die Füße und sagte nichts als: »Waisenknabe.«

 

Polly Smith hielt den Kontoauszug in Händen und starrte mit verkniffenen Augen auf das Rätsel, das ihr seine Ziffern boten.

37 764 . . .

Trotz ihrer Müdigkeit kam sie von dieser Sache nicht los, und das verbissene Grübeln machte ihr Kopfschmerzen.

Erst nach einer Stunde dachte sie daran, zu Bett zu gehen, und das Beruhigungsmittel, für das immer etwas kalter Tee bereitstand, war ihr heute noch willkommener und notwendiger als sonst . . .


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