Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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12

»Nun«, fragte Bayford, als er sich an diesem Abend gegen zehn Uhr bei seinem Teilhaber einstellte, »wie steht die Sache mit der Karte?«

Ferguson war, wie zumeist, brummiger Laune, und daß der andere schon wieder mit dieser Geschichte begann, stimmte ihn nicht freundlicher.

»Ich habe dir doch schon gesagt«, knurrte er mit einem hastigen, mißtrauischen Blick, »daß wir ihr weiter nachlaufen müssen, aber augenblicklich habe ich wichtigere Dinge zu tun.«

»Ich wüßte nicht, welche anderen Dinge wichtiger sein könnten«, gab der Herr mit dem Monokel gelassen, aber hartnäckig zurück. »Den Betrag, um den es dabei geht, trägt unser armseliges Geschäft selbst in zwanzig Jahren nicht. Es war gerade ein Tag, wie wir ihn uns nicht besser wünschen konnten, da die Kassen frisch gefüllt waren. Wenn wir die Kleinigkeit in der Tasche haben, haben wir für immer ausgesorgt.«

»Wenn . . . wenn . . .«, äffte ihn der gereizte Ferguson nach. »Das weiß ich auch. Aber das kann noch eine gute Weile dauern, und bis dahin muß ich zunächst ans Geschäft denken. Gerade jetzt, wo wir soviel Geld darin stecken haben und es sozusagen um alles geht.«

Bayford schien sich durch diese vorwurfsvolle Eindringlichkeit überzeugen zu lassen.

»Ich war heute bei der ›dicken Zigarre‹«, sagte er. »Sie drängt, daß die Ware baldigst geliefert wird. Wie steht es eigentlich damit?«

»Wie ich dir schon sagte – ausgezeichnet.« Ferguson begann plötzlich sehr lebhaft und mitteilsam zu werden. »Ich erwarte nur noch einige Ergänzungen, die bereits unterwegs sind, dann kann die Sache losgehen. Die Schiffe, die Papiere und was sonst noch notwendig ist, sind besorgt, und sogar die Depesche habe ich bereits abgefaßt.« Er klopfte stolz und befriedigt auf seinen Schreibtisch.

Mr. Bayford hatte für die Tüchtigkeit seines Teilhabers nur ein flüchtiges Nicken, weil seine Gedanken schon wieder eine andere Richtung gingen.

»Du hast wohl auch noch nie von dem ›Padischah‹ gehört? Der Mann soll hier in unserer Branche arbeiten und sehr hübsch verdienen.«

»Soll er«, meinte Ferguson mit einem verdrießlichen Achselzucken. »Du weißt, wie ich über das hiesige Geschäft denke.«

»Trotzdem werden wir es schon heute aufnehmen«, erklärte der Herr mit dem Monokel bestimmt, »und du wirst einiges Kapital investieren müssen. Alles andere übernehme ich selbst. – Wegen des Anteils, der auf jeden von uns entfallen soll, haben wir ja bereits gesprochen.«

Der andere machte eine ärgerliche Kopfbewegung, aber in diesem Augenblick schrillte das Telefon, und er griff rasch nach dem Hörer.

Plötzlich malten sich in Fergusons Gesicht Überraschung und Unruhe, und sein scheuer Blick glitt blitzschnell nach seinem Teilhaber.

»Ja – Ferguson«, murmelte er hastig ins Telefon. »Ja, natürlich . . .« Er wurde immer erregter und rückte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Selbstverständlich können Sie kommen. Ja, ich werde Sie erwarten. – Ja. – Sofort . . .«

Er legte rasch auf, atmete tief und fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Dann begann er mit den dicken Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.

»Du gehst in die Bar?« fragte er nach längerem Räuspern unbefangen.

»Natürlich. Ich muß dort die Dinge in das richtige Geleise bringen. Vorläufig arbeitet der ›verliebte Lord‹ für uns, aber ich habe ihn selbstverständlich darüber im unklaren gelassen, wer sein Auftraggeber ist.« Bayford zerdrückte umständlich seine Zigarette und erhob sich. »Du scheinst noch Besuch zu erwarten«, meinte er harmlos.

»Ja«, gab Ferguson mit griesgrämigem Gesicht zu und wurde plötzlich wieder sehr gesprächig. »Eine alte Börsenbekanntschaft, die furchtbar zudringlich ist. Der Mann hat mir einmal etwas zu verdienen gegeben und ist nun nicht loszubekommen. Wahrscheinlich wird er mir wieder eine faule Sache vorschlagen.«

Er hatte es sehr eilig, seinen Teilhaber an die Tür zu bringen, aber dort hielt er Bayford doch noch einen Augenblick zurück. »Nichts Neues vom Drudenfuß?« fragte er hastig und besorgt.

»Nein«, log Bayford mit gelassenem Gesicht. »Heute bin ich völlig ungeschoren geblieben. – Vielleicht war das Ganze wirklich nur ein alberner Schreckschuß.«

»Hoffentlich«, stieß Ferguson erleichtert hervor, und seine strahlende Miene gab dem anderen ebensoviel zu denken wie das eigenartige Telefongespräch, das er vor wenigen Minuten mit angehört hatte.

Der Herr mit dem Monokel stieg sehr langsam die Treppe hinab, blieb unter dem Portal eine Weile überlegend stehen und wechselte dann rasch nach der anderen Straßenseite hinüber, wo er nach wenigen Schritten in einem Torbogen Aufstellung nahm. Er mußte länger als eine Viertelstunde warten, bis eine schmächtige Gestalt in großer Eile angetrabt kam und schattengleich in Fergusons Haus verschwand – und eine weitere Viertelstunde, bevor der Mann mit dem langen, enganliegenden Überrock und dem niedrigen steifen Hut wieder erschien und im Licht der nächsten Straßenlampe hastig und verstohlen einige Geldscheine zählte . . .

Mr. Bayford wandte keinen Blick von dem unscheinbaren Mann, er nahm sich sogar die Mühe, Mr. Rosary zu folgen, bis dieser das Tor des schmutzigen Hauses in Stratford aufschloß.

 

An diesem Abend machte die Rote in der Bar die Bekanntschaft von Miss Betsey Harper, die sich kurzerhand an ihr Tischchen setzte.

Miss Harper führte sich mit einer regelrechten Vorstellung ein und legte dabei sehr viel Gespreiztheit und Selbstbewußtsein an den Tag. Und damit die andere von ihr ja sofort den richtigen Begriff bekäme, ließ sie es an vertraulicher Mitteilsamkeit nicht fehlen.

»Sie haben wohl nichts dagegen, Miss«, sagte sie, indem sie ihr blondes Puppengesicht eifrig mit Puderquaste und Lippenstift bearbeitete, »daß ich mich ein Weilchen hier niederlasse? Ich bin zum erstenmal in diesem Lokal, weil man mir gesagt hat, daß es hier sehr nett sein soll. – Sind Sie auch in Stellung, Miss?«

»Ja«, erklärte die Rote. »Verkäuferin in einem Modegeschäft.«

»Das merkt man sofort«, meinte Miss Harper verbindlich. »Sie haben eine wunderbare Haltung und sehr viel Schick. Das ist mir auf den ersten Blick aufgefallen, und . . .«

Sie sprach nicht zu Ende, sondern schnellte hastig auf, denn in diesem Augenblick präsentierte sich der ›verliebte Lord‹ mit einer sehr korrekten Verbeugung, die eigentlich der Roten galt. Aber Miss Harper nahm das nicht so genau, sondern beeilte sich, den gebotenen Arm zu erhaschen und den Tänzer eiligst auf das Parkett zu ziehen.

Als das Paar nach einigen Runden wieder erschien, kam die Rote an die Reihe, und Mr. Tyler, der bereits seit dem Nachmittag seine genauen Instruktionen hatte, begann langsam das Eisen zu schmieden. Er hatte für weibliche Schönheit ein sehr empfängliches und sicheres Auge, und die beiden Mädchen ohne jegliche Begleitung schienen ihm ein vielversprechender Anfang. Als sie wieder zu dritt auf der Estrade saßen, spielte er den aufmerksamen Tischherrn, ließ den beiden Mädchen eisgekühlten Fruchtsaft servieren und bot ihnen Zigaretten an. Dabei wurde er nicht müde, ihnen mit schmachtenden Augen allerlei Artigkeiten zu sagen.

»Ich schätze mich sehr glücklich, daß ich Ihnen Gesellschaft leisten darf«, versicherte er. »Schon auf den ersten Blick sind mir die Damen aufgefallen, und ich habe sie für Tänzerinnen gehalten. – Stimmt das?«

Miss Harper schlug die blauen Puppenaugen nieder und ließ einen leichten Seufzer hören, die Rote aber stieß eine dicke Rauchsäule aus den gespitzten Lippen und nickte lebhaft.

»Bei mir stimmt es«, behauptete sie ernsthaft. »Ich kann mich nach rückwärts wie ein Taschenmesser zusammenklappen und dabei einen Teller auf der Nase balancieren. Dazu schlage ich mit den Händen Tambourin.«

»Großartig«, meinte der begeisterte Mr. Tyler. Nur die Blondine rümpfte etwas die Nase und gab neuerlich einen schmachtenden Seufzer von sich.

»Wenn meine verstorbenen Eltern für meine Wünsche Verständnis gehabt hätten«, flüsterte sie vorwurfsvoll, »wäre ich heute unbedingt beim Theater. Man hat mir schon als Kind gesagt, daß ich ganz bedeutendes Talent hätte, und ich bin überzeugt, daß ich mit meiner Figur und meiner Begabung manche große Künstlerin in den Schatten stellen könnte . . .« Sie senkte bescheiden den Blick und errötete geschmeichelt, als der Herr ihr lebhaft zustimmte.

»Sicherlich. Ich finde, daß die Damen« – Miss Harper war zwar etwas pikiert, daß er immer in der Mehrzahl sprach, lauschte aber doch erwartungsvoll – »geradezu für die Bühne bestimmt sind. Ich verstehe etwas von der Sache, komme viel herum und sehe viel, bin aber noch selten so auffallend hübschen Erscheinungen begegnet. Und ich überlege eben . . .«

Er brach nachdenklich ab, aber die Blondine vermochte ihre hoffnungsfreudige Spannung nicht zu meistern.

»Sind Sie vielleicht vom Theater?« fragte sie hastig.

»Nicht so ganz«, erklärte Mr. Tyler, »aber, wie gesagt, ich verstehe etwas davon, denn zuweilen manage ich aus Passion irgendeine solche Sache. So habe ich vor zwei Jahren eine Tournee nach Japan geführt, und eben jetzt verhandle ich mit Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie man es nennt. – Ich bin gerade mit den letzten Vorarbeiten beschäftigt.«

Miss Harper fuhr mit der Zungenspitze nervös über die Lippen und rückte unruhig hin und her, und sogar die Rote wurde plötzlich äußerst lebendig.

»Das wäre etwas für mich«, platzte sie begierig heraus und klopfte dem Herrn vertraulich auf die Schultern. »Einmal ein bißchen andere Luft um die Nase zu kriegen und etwas von der Welt zu sehen!«

»Glauben Sie wirklich, daß Sie mich brauchen könnten?« hauchte auch die Blondine rasch, um ja nicht ins Hintertreffen zu geraten, und der gefällige Mr. Tyler legte seine Hände beschwichtigend auf die bloßen Mädchenarme zu seiner Rechten und Linken.

»Deshalb habe ich ja davon zu sprechen begonnen. Die Damen sind das, was ich bisher vergeblich gesucht habe: Die große Attraktion. Der Clou meines Programms.«

»Mit dem Taschenmesser, dem Teller und dem Tambourin?« fragte die Rote etwas unsicher. »Mehr kann ich leider nicht . . .« Der Herr hob mit einem nachsichtigen Lächeln die Schultern und neigte mit einem vielsagenden Lächeln den Kopf gegen die beiden Mädchen, aber die Blondine vermochte vor Erregung vorläufig keinen Laut hervorzubringen. Sie griff mit zitternder Hand nach ihrem Glas, um sich die Lippen anzufeuchten, die Rote jedoch war mit Fassung und praktischer Gründlichkeit bei der Sache.

»Wann soll es also losgehen?« fragte sie kurz und bestimmt. »Man muß doch das eine oder das andere besorgen, wenn man gleich um die ganze Welt herum will.«

Das blasse Gesicht des jungen Mannes wurde etwas bedenklich und zurückhaltend.

»Wenn die Damen sich wirklich entschließen wollten mitzutun, so müßten sie sich bereits für die nächsten Tage reisefertig machen. Ich hoffe noch in dieser Woche mit der Zusammenstellung des Ensembles fertig zu werden, und dann erfolgt sofort die Einschiffung. Die notwendigen Proben werden unterwegs abgehalten werden oder vielleicht auch erst drüben, da sie ja nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Es wird sich also darum handeln« – Mr. Tyler zog die Brauen hoch und präsentierte neue Zigaretten –, »ob die Damen sich hier so rasch losmachen können und ob sie überhaupt von ihren Verwandten . . .«

»Ich kann tun, was ich will«, versicherte die Blondine eifrig, »ich stehe ganz allein.«

Auch die Rote machte eine kurz abtuende Handbewegung.

»Nach mir kräht auch kein Hahn«, sagte sie. »Und wenn es notwendig ist, kann ich sofort mein Bündel schnüren.«

Der junge Mann war von dem Gehörten so befriedigt, daß er nach der Bedienung Umschau hielt, um für die neugebackenen Tänzerinnen eine weitere Erfrischung zu bestellen, aber der Kellner wurde eben von einem höchst kritischen und ungemütlichen Gast in Anspruch genommen.

»Der Whisky, den Sie mir bringen, wird von Glas zu Glas scheußlicher«, grollte Steve Flack mit seiner hohlen Stimme. »Solange er wie Brennspiritus geschmeckt hat, habe ich nichts gesagt, aber jetzt schmeckt er bereits wie Benzin, und das vertrage ich nicht. Ich bin kein Auto. Sagen Sie Ihrer Barmadam, daß ich beim nächsten Glas explodiere, wenn es wieder von dieser verdammten Sorte sein sollte, und dann wird es hier nichts zu lachen geben . . .«

Es verkehren auch derartige Gäste im ›Tausendundeine Nacht‹, und das Personal hatte den Auftrag, sie besonders zuvorkommend zu behandeln.

Der Steuermann des grauen Themsebootes erhielt in wenigen Minuten einen schottischen Whisky, wie er sonst nur in den Logen serviert wurde. Dann zündete er sich eine neue Zigarre an und blickte aus seinem versteckten Winkel behaglich und harmlos durch den Raum. Auch zur Loge von Mrs. Smith vermochte Flack hinaufzusehen, aber die Gardinen waren heute dicht zugezogen, und nur zuweilen erschien eine Hand, um für Sekunden einen winzigen Spalt zu öffnen. Nachdem er festgestellt hatte, daß es bald die Hand von Mrs. Smith, bald jene von Mr. Bayford war, interessierte ihn die Sache nicht weiter.

Mrs. Smith und Mr. Bayford hatten sich bereits in jeder Hinsicht gefunden.

Sie hatten heute sofort dort begonnen, wo sie gestern geendet hatten, und infolge der Enge des Raumes hatte Mrs. Polly plötzlich schwer atmend in den Armen des Herrn mit dem Monokel gelegen.

Nun saßen sie Hand in Hand und sprachen von dem, was für gesetzte, vernünftige Leute schließlich doch die Hauptsache ist, nämlich von ihrem Geschäft.

»Du hast nichts anderes zu tun, meine Teure«, setzte ihr Bayford zärtlich auseinander, »als mich auf die weiblichen Gäste, die für uns in Betracht kommen, aufmerksam zu machen. Das ist ja für dich ein leichtes, da du die Leute täglich beobachten kannst.«

»Dazu wirst du ja auch Gelegenheit haben«, warf sie etwas mißtrauisch ein, und er beeilte sich, dies durch ein lebhaftes Nicken zu bestätigen.

»Gewiß, natürlich«, versicherte er, »das heißt, wenn mich nicht gerade andere besonders wichtige und unaufschiebbare Dinge in Anspruch nehmen. Schließlich kann ich ja Tyler nur bis zu einer gewissen Grenze selbständig handeln lassen.«

»Du wirst vielleicht mit so einem Mädchen ein Verhältnis anfangen«, schmollte sie ängstlich besorgt, und der gekränkte Bayford sah sie zunächst vorwurfsvoll an, zog sie sodann aber in stummer, überschwänglicher Beteuerung an sich.

Mr. Smith, der in diesem ungeeigneten Augenblick die Portiere zurückschlug, mußte sich mit seiner Kurzsichtigkeit erst in dem Halbdunkel einigermaßen zurechtfinden, aber bevor er noch soweit war, bekam er bereits zu hören, daß er durchaus ungelegen kam.

»Was gibt's?« fragte die überraschte Mrs. Polly in ihrem bedrohlichsten Tonfall, wobei sie auch schon die Gardinen zum Barraum zurückschlug. Dann machte sie eine flüchtige Handbewegung gegen den blinzelnden Mr. Smith, sagte kurz: »Mein Mann« und harrte mit gerunzelten Brauen ungeduldig, was Mr. Smith als Entschuldigung für sein Eindringen anzuführen habe.

Er schien aber nichts anzuführen zu haben.

»Das ist ja etwas ganz Neues, daß du dich hier blicken läßt«, sagte sie spitz, »und ich bin davon gar nicht entzückt. Du weißt wohl warum. Es sind immer einige Leute hier, die damals dabei waren, und es ist mir peinlich, daß man sich über dich lustig macht.« Sie ließ einen streng prüfenden Blick an ihm hinabgleiten, und ihre Stimme wurde womöglich noch schneidender. »Außerdem bist du nicht einmal angezogen. Das wollen wir denn doch nicht einführen. – Verzeihen Sie, Mr. Bayford«, wandte sie sich mit einem leuchtenden Augenaufschlag an ihren Besucher, »aber mein Mann muß in allem etwas bevormundet werden. Außer Noten kann er leider nichts behalten.«

Mr. Smith neigte den Kopf mit dem flaumigen, schütteren Blondhaar ein wenig zur Seite und spitzte die Lippen, als ob er pfeifen wollte.

»Meine Frau ist auf meine Kunst schlecht zu sprechen«, sagte er mit seiner gurgelnden Stimme, indem er bescheiden auf dem Stuhl Platz nahm, den ihm Bayford höflich zurechtschob, »aber für mich bedeutet sie alles. Vielleicht haben Sie bereits gehört, daß ich schon als Knabe öffentlich aufgetreten bin und später in Amerika die triumphalsten Erfolge gehabt habe.«

Dieser exaltierten, schwulstigen Beredsamkeit ihres Gatten war die Geduld Mrs. Pollys nicht gewachsen.

»Ich hoffe, daß du nicht heruntergekommen bist, um uns mit solchen Angebereien zu unterhalten«, unterbrach sie ihn scharf, und Mr. Smith starrte sie erst einen Augenblick völlig entgeistert an, um dann in eine verlegene Fahrigkeit zu verfallen.

»Nein«, stotterte er, indem er den Blick hastig und unstet durch die Bar schweifen ließ. »Aber ich habe den ganzen Abend gespielt, und da ich starke Kopfschmerzen verspürte, dachte ich –«

»Wenn du Kopfschmerzen hast, so nimm ein Beruhigungsmittel oder eine Kompresse und leg dich zu Bett. Jedenfalls ist die Bar kein geeigneter Aufenthalt bei einem derartigen Zustand.«

»Gewiß«, gab er zerstreut zu, ohne den suchenden Blick vom Barraum zu wenden, »das empfinde ich jetzt auch. Aber ich wollte nur ein wenig aus den gewohnten vier Wänden herauskommen.«

»Ja, du bist überhaupt ein Prachtexemplar von einem Mann!« stellte seine Frau verächtlich fest. »Also, sieh zu, daß du schleunigst zur Ruhe kommst. Wenn ich dich heute wieder klimpern hören sollte . . .«

»Nein, heute nicht«, versicherte Mr. Smith eifrig. »Das war gestern nur ausnahmsweise, weil ich gerade einen Tag besonderer Inspiration hatte. Ich habe vier volle Stunden am Klavier gesessen.«

»Trottel!« murmelte Mrs. Polly zwischen den Zähnen, und als Mr. Smith verschwunden war, fügte sie nach einem tiefen Seufzer vernehmlicher hinzu: »Nun wirst du mich wohl verstehen . . .«

Mr. Bayford verstand sie und bemühte sich, sie ihren Jammer wenigstens für eine Weile vergessen zu machen . . .

Der bedauernswerte Mr. Smith benützte in seiner Zerstreutheit nicht die kleine Seitentreppe, über die er herabgekommen war, sondern ging langsam den Logengang entlang und stieg dann sogar die wenigen Stufen zu dem Entree hinunter. Er war ängstlich bemüht, nicht gesehen zu werden, und es kam ihm sehr zustatten, daß er sich in den verschiedenen Nebenräumlichkeiten auskannte. Er schlüpfte durch einige schmale Gänge und Türen und gelangte endlich in eine kleine Geschirrkammer an der Stirnseite des Saales, durch deren lose drapiertes Innenfenster er die ganze Bar überblicken konnte.

Er schien an dem Treiben sehr großes Interesse zu finden, denn es verfloß mehr als eine Viertelstunde, ohne daß er sich von seinem Beobachtungsposten gerührt hätte.

Plötzlich neigte er den Kopf mit einem Ruck zur Seite und drückte die kurzsichtigen Augen noch dichter an die Scheibe. Er hatte Mr. Bayford entdeckt, der aus der Loge heruntergekommen war und eben einen flüchtigen Blick in das Parkett tat. Er ließ die tanzenden Paare einige Minuten an sich vorüberziehen und wandte sich bereits wieder zum Gehen, als ihn Mr. Tyler eilig einholte.

»Ich wollte Ihnen nur danken«, flüsterte dieser hastig. »Wie Sie sehen, bin ich bereits installiert, und ich glaube, das Geschäft läßt sich gut an.«

Der Herr mit dem Monokel machte ein sehr kühles Gesicht und übersah sogar die Hand, die ihm der andere entgegenstreckte.

»Ich freue mich, daß ich Ihnen helfen konnte«, sagte er gemessen, »aber weiter möchte ich mit der Sache wirklich nichts zu tun haben. Ich glaube, ich habe Ihnen dies bereits erklärt.«

Er nickte dem jungen Mann kurz zu, und der ›verliebte Lord‹ sah ihm verdutzt nach. Dann zuckte er gleichmütig mit den Achseln, straffte mit einem Ruck Weste und Frack und schritt, jeder Zoll ein Gentleman, über die Estrade, um wieder zu seinen Damen zu kommen.

Mr. Smith verfolgte ihn von seinem Versteck aus Schritt für Schritt, aber plötzlich fuhr sein schiefer Kopf mit einer blitzartigen Bewegung des Schreckens zurück, und gleich darauf huschte ein flüchtiger Schatten durch die Gänge, die hinter dem Barraum verliefen.

Es war drei Uhr morgens, als Mr. Tyler sich erbötig machte, seine ermüdeten Damen nach Hause zu bringen.

»Meinetwegen müssen Sie sich nicht bemühen«, erklärte die Rote, »ich habe nur ein paar Schritte«, und sie blieb trotz allen Drängens dabei, was Miss Harper, die der Sicherheit halber den Arm des jungen Mannes ergriffen hatte, sehr anständig fand.

»Dann sehen wir uns aber jedenfalls morgen zuverlässig hier wieder«, versicherte sich Mr. Tyler äußerst dringlich.


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