Louis Weinert-Wilton
Der Drudenfuß
Louis Weinert-Wilton

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3

Der schmächtige, blasse Maurice Rosary hatte an diesem Nachmittag eine jener geheimnisvollen Aufforderungen erhalten, die ihn immer etwas aus dem Gleichgewicht brachten, da sie stets ein gutes Geschäft bedeuteten und außerdem eine gewisse Romantik in das ewige Einerlei seiner arbeitsreichen Tage woben.

Moritz Rosenkranz aus Polen war vor zwei Jahrzehnten auf seiner Wanderung in die Welt irgendwie in London hängengeblieben und hatte hier Wurzel gefaßt. Er besaß in Stratford einen kleinen, peinlich sauberen Trödlerladen mit einem festen Kundenstamm, seinen weit einträglicheren Erwerb aber bildeten gelegentliche Vermittlergeschäfte, denn er besorgte einfach alles. Sammler, die nach irgendeinem Unikum jagten, kleine Unternehmungen, die ihre billige Ramschware loswerden wollten, Theater, die irgendein altes oder besonderes Requisit benötigten, wandten sich an Mr. Rosary, und der tüchtige Mann trieb gegen eine äußerst bescheidene Provision auf, was man brauchte. Dieses Tagewerk war nicht sehr ereignisreich und aufregend, und wenn es dabei einmal eine wesentlichere Episode gab, so blieb diese in dem Gedächtnis von Mr. Rosary unauslöschlich haften.

Wie beispielsweise jener Abend vor ungefähr achtzehn Monaten, an dem man ihn in einem Auto abgeholt hatte und er zu jener seltsamen neuen Geschäftsverbindung gekommen war. Rosary war damals höflichst ersucht worden zu sagen, ob er über das oder jenes oder über diesen oder jenen etwas wisse, und Mr. Rosary gab ebenso höflich Auskunft. Er wußte viel, kannte das London der Reichen wie die Elendsviertel und hatte seine Beziehungen zu den Fremdenkolonien. Wenn er etwas nicht wußte, so konnte er es innerhalb vierundzwanzig Stunden erfahren – erschöpfend und in allen Einzelheiten unbedingt zuverlässig. Sein Auftraggeber konnte mit ihm zufrieden sein, und Mr. Rosary war auch zufrieden. Jedesmal hatte er für seinen Zeitverlust eine Summe erhalten, wie er sie sonst in Monaten nicht verdiente.

Heute war es zum sechstenmal, daß er sich zu einem dieser lohnenden Gänge anschickte.

Als der blasse Mann mit dem schütteren schwarzen Bart an der letzten Tür vorüberkam, tat sich diese plötzlich auf, und aus dem Lichtschein tauchte ein Mädchenkopf hervor.

»Oh, Mr. Rosary, Sie gehen . . .«, sagte eine frische Stimme entschuldigend und etwas enttäuscht. »Ich dachte, Sie . . .«

Rosary blieb stehen und zog höflich den Hut. Er war gegen alle Leute zuvorkommend, aber bei der Miss vom ersten Zimmer links – er wußte ihren Namen nicht, wie hier überhaupt kaum einer den andern kannte – kam ihm das von Herzen. Sie hatte, wenn sie an ihm vorüberhuschte, auf seinen Gruß stets ein freundliches ›Guten Abend, Mr. Rosary‹ – zu einer andern Tageszeit hatte er sie noch nie gesehen –, und sie schien ihm auch so ganz anders als die übrigen Leute, die im Hause wohnten, obwohl . . . Aber Mr. Rosary kümmerte sich nicht um Dinge, die ihn nichts angingen.

»Wenn Sie etwas brauchen sollten, Miss«, beeilte er sich zu versichern, »so habe ich Zeit, sehr viel Zeit sogar.«

Das etwas grell bemalte Gesicht in der Türspalte bekam einen spitzbübisch verlegenen Ausdruck, und die Stimme klang schüchtern und zaghaft.

»Wenn ich Sie um etwas Brennspiritus bitten dürfte . . .«

»Schon gemacht«, erklärte der gefällige Mann beflissen, war bereits wieder bei seiner Wohnungstür und kehrte nach wenigen Minuten mit einer säuberlich in Papier gehüllten Flasche wieder zurück.

Eine schlanke weiße Mädchenhand nahm sie in Empfang.

»Danke schön, Mr. Rosary. Sie sind riesig nett.« In die großen strahlenden Augen kam plötzlich ein übermütiges Leuchten, und das Lächeln um den grellroten Mund wurde noch liebenswürdiger. »Würden Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?«

Der schmächtige Mann wich jäh einen Schritt zurück und hob mit einem entsetzten, scheuen Blick abwehrend die Hand. Sein Erschrecken war so eindeutig und komisch, daß das Mädchen in ein leises, belustigtes Lachen ausbrach.

»Sie können ruhig hereinkommen, Mr. Rosary; ich werde Ihnen nicht zu nahetreten. – Nur eine Tasse Tee, wenn Sie mögen.« In der nächsten halben Stunde war dem bescheidenen Mann so verwunderlich und so wohl zumute, wie noch nie in seinem Leben. Er saß an einem sauber gedeckten Tischchen und trank Tee, wie er noch keinen gekostet hatte – eine Tasse und dann noch eine, die ihm von schlanken, gepflegten Fingern mit glänzenden Nägeln vorgesetzt wurden. Dazu knabberte er bereits an dem dritten Stückchen knusprigen Zwiebacks, der auf der Zunge zerging und nach köstlichen Gewürzen schmeckte. Nach jedem Schluck tupfte sich Mr. Rosary mit seinem Taschentuch fein säuberlich den krausen Bart ab, und er hielt die feine Tasse, die unter Brüdern gut ihre fünfzehn Schillinge wert war, genauso zierlich mit den Fingerspitzen, wie die schöne junge Dame ihm gegenüber.

Kurz und gut, es war ein sehr gemütlicher Plausch, bei dem der schüchterne Mann immer mehr auftaute, und je länger er das prächtig gebaute Mädchen mit den blitzenden Augen ansah, desto wärmer wurde ihm ums Herz.

»Sie haben sich so schön gemacht, daß Sie wohl ins Theater gehen oder ins Kino«, sagte er plötzlich, aber sie verneinte sofort entschieden, und Mr. Rosary bekam mit zarten Fingern einen leichten Nasenstüber.

»Fehlgeraten – ich gehe tanzen.«

»Tanzen? Auch ein schönes Vergnügen«, meinte er, indem er bedächtig nickte, aber seine Begeisterung schien doch nicht allzugroß zu sein. »Sie sind wohl eingeladen zu einem Ball?«

»Was Ihnen nicht einfällt! Bälle sind langweilig. Ich gehe ins ›Tausendundeine Nacht‹«, vertraute ihm das Mädchen an. »Dort ist es weit lustiger, und man sieht etwas.«

Das Mädchen setzte sich wieder, und Mr. Rosary atmete auf und wischte sich mit seinem geblümten Taschentuch die heiße Stirn. Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst und sein Blick unsicher.

»Ins ›Tausendundeine Nacht‹, so . . .«, murmelte er. »Ein schönes Lokal und viel Leute.« Er ließ seinen dünnen Bart langsam durch die Finger gleiten und räusperte sich. »Ich habe einige Male hineingesehen«, fuhr er dann zögernd fort, »so, wie unsereiner eben zu so etwas kommt, und man staunt, was es da an Pracht und Herrlichkeit gibt. – Und diese Menschen! Weiße, braune, gelbe und sogar schwarze.« Er zog die Schultern ein, und sein scheuer Blick streifte das Mädchen, das ihm lächelnd und nickend zuhörte. »Angst und bange könnte einem werden, denn wie leicht kann da etwas geschehen . . . Es gibt viele schlechte Männer, Miss, und eine schöne junge Dame kann nicht vorsichtig genug sein.«

Seine gutturale, weiche Stimme war immer eindringlicher geworden, aber er hatte mit seiner Warnung keinen Erfolg. Das Mädchen kicherte leise, und plötzlich schnellte es hoch und hielt ihm ihren wunderbaren bloßen Arm dicht vors Gesicht. Dann bog sie ihn mit einem Ruck im Ellbogen ab und tippte stolz auf die Muskeln, die am Oberarm hervorgetreten waren.

»Oh, ich bin vorsichtig«, versicherte sie verschmitzt. »Und das hier genügt auch für einen Schwarzen. – Greifen Sie einmal!« Der schmächtige Mann kam der Aufforderung höchst zaghaft nach und legte vorsichtig einen Finger auf den Oberarm, aber damit war das Mädchen nicht zufrieden.

»Drücken Sie – recht fest«, gebot sie, und Mr. Rosary gehorchte, soweit er es vermochte.

»Großer Gott!« stieß er überrascht hervor, als er wie auf Marmor griff, aber gleich darauf ließ er einen leisen Laut des Schreckens hören und fuhr mit den Händen in die Luft, weil der weiße Arm mit einer blitzschnellen Bewegung gegen seinen Magen fuhr.

»Wenn wir nicht so gute Freunde wären, wären Sie jetzt für eine halbe Stunde erledigt«, sagte das Mädchen unter belustigtem Kichern, und auch Mr. Rosary kicherte, aber etwas krampfhaft, weil es kein Spaß gewesen wäre, wenn der weiße Arm mit den gespannten Muskeln ihn getroffen hätte . . .

 

Von Zeit zu Zeit tauchte auf der Themse ein kleiner Dampfer mit silbergrauem Rumpf und weißem Schornstein auf, der in irgendeinem versteckten Winkel festmachte und dort oft wochenlang lag. Einmal kam er von Erith herauf, das nächste Mal von Mortlake herunter, und selbst die kundigsten Hafenleute und Schiffer wußten nicht, was sie aus dem Ding machen sollten. Er führte weder Passagiere noch Ladung, und der baumlange, ausgedörrte Steuermann mit dem feuerroten Bart und der junge Heizer mit dem Bulldoggengesicht waren die unzugänglichsten Burschen, die das dreckige Wasser je getragen hatte.

An diesem Tag war der graue Dampfer kurz vor Einbruch der Dämmerung drüben in Bermondsey erschienen und hatte in aller Stille unterhalb der Tower-Brücke angelegt. Die Luft war so dick, daß man sie wie einen gelben Sack vor den Augen hatte, und sooft sich Steve Flack über den nach vorne starrenden roten Bart strich, tropfte dieser wie ein nasser Strumpf. Das war für den Steuermann eine hochwillkommene Gelegenheit, nach und nach alle seine kräftigen und phantasievollen Flüche auf den verdammten Nebel anzubringen und sich dadurch halbwegs bei Laune zu erhalten.

Als er sich überzeugt hatte, daß die Trossen festsaßen, kroch er in die kleine Kajüte, und bald darauf erklang das regelmäßige harte Klopfen der Knöchel auf die Tischplatte.

Kurz nach acht Uhr – draußen war bereits die Nacht heraufgezogen – warf der Steuermann die Karten auf den Tisch, daß sie nach allen Richtungen spritzten, und hielt dem andern gebieterisch die lediglich aus Knochen, Haut und Sehnen bestehende Hand hin.

»Gib mir meine sieben Pence zurück, Patrick«, sagte er. »Du bist zwar der Sohn meiner Schwester, die eine ehrliche Frau war, aber sonst bist du der niederträchtigste und filzigste Schotte, der mir je untergekommen ist. – Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, daß du alle Asse mit Pech beschmiert hast, damit sie an deinem verdammten Daumen klebenbleiben?«

Der Bursche mit dem Bulldoggengesicht zählte, wie immer, seinen Gewinn gehorsam wieder auf den Tisch, und der Rotbart strich das Geld versöhnt und befriedigt ein. Dann schlüpfte er in sein Ölzeug und drückte sich draußen an den Kamin, um mit gespannten Sinnen in die Finsternis zu lauschen.

Nach einer knappen Weile schwankte das Boot wie unter einem leichten Stoß, und dicht vor Steve tauchte ein grauer Schatten aus der Dunkelheit.

Der Steuermann fuhr mit der Rechten an den Südwester und turnte dann hinter dem Ankömmling den Gang hinunter. Die ohnehin nicht sehr geräumige Kabine sah aus wie ein Verschlag, da sie durch eine übermannshohe Wand in zwei Abteilungen geschieden war, von denen die vordere außer einem einfachen Stuhl überhaupt keinen Einrichtungsgegenstand enthielt. In der Holzwand befand sich eine schmale Tür, durch die man in den dahinterliegenden Raum gelangte, aber auch hier gab es nur einen kleinen Tisch, eine einfache Bettstelle und eine Art Truhe. In der Mitte der Trennungswand war ein viereckiges Gitter ausgeschnitten, wie man es in alten Beichtstühlen findet, und jede der beiden Abteilungen war durch eine spärliche Öllampe erleuchtet.

Der Mann warf mit einer raschen Bewegung den schweren Mantel und die Kappe ab und trocknete sich umständlich die Hände. Er war groß und breitschultrig, aber dabei von einer federnden Gelenkigkeit, die allen seinen Bewegungen etwas Stoßartiges gab. Das Gesicht mit dem Bronzeton erhielt durch das männliche Kinn und die zwei scharfen Linien, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln liefen, einen etwas harten Ausdruck, und die durchdringenden Augen unter den dunklen Brauen verschärften ihn noch. Der Mann mochte Ende der Dreißig sein, und seine tadellose Erscheinung bildete einen auffallenden Gegensatz zu der Dürftigkeit des Raumes.

Steve stand mit vorgestrecktem Bart und mit dem Ölhut in der Rechten und wartete, bis der Herr das Wort an ihn richten würde.

»Alles in Ordnung?« fragte dieser endlich, und der Steuermann konnte seine längst vorbereitete Meldung anbringen.

»Sehr wohl, Sir. – Schiff frisch kalfatert, Maschine in Stand. Von Greenwich herauf bei Nordnordwest und schlechter Sicht.«

»Ohne Aufsehen?« forschte der andere, indem er eine Zigarette anbrannte und dann das Gitter in der Holzwand eingehend in Augenschein nahm.

»Immer fein zwischendurch wie ein Fisch«, versicherte Flack mit seiner hohlen Stimme, und der Herr nickte befriedigt.

»Wie lange haben wir uns eigentlich nicht gesehen?« fragte er.

»Drei Monate und fünf Tage«, kam es prompt und etwas vorwurfsvoll zurück. »Eine verdammt lange Zeit, Sir, wenn man zwischendurch nichts anderes tun darf, als Karten spielen und Fische fangen.«

Über das strenge Gesicht flog ein flüchtiges Lächeln.

»Dafür wird es vielleicht jetzt wieder wochenlang Arbeit geben.« Er griff in die Westentasche, zog ein gefaltetes Papier hervor und reichte es dem Steuermann, der mit gierigen Fingern danach fuhr. »Vor allem kümmern Sie sich ein bißchen um die beiden Leute, deren Adressen ich Ihnen hier aufgeschrieben habe. Nicht zu auffällig, denn es sind sehr gerissene Gentlemen, und es genügt vorläufig, wenn Sie sie kennenlernen. Das Weitere wird sich dann schon ergeben. Und wenn der Mann hier gewesen ist, den ich erwarte, werde ich vielleicht noch einige Aufträge für Sie haben. – Sorgen Sie dafür, daß er heil an Bord und unbehelligt wieder aus diesem unsicheren Winkel herauskommt.«

»Sehr wohl, Sir«, versicherte der Rotbart dienstbeflissen, und der große Herr nickte zufrieden. Als sich Steve aber durch die niedrige Tür schob, hatte jener für ihn noch eine sehr eindringliche Weisung.

»Mit der Polizei halten wir es wie immer. Wenn sie aber auf Ihren schönen roten Bart doch irgendwie aufmerksam werden sollte, müssen Sie dichthalten.«

 

Mr. Rosary hatte von der letzten Busstation noch gute zehn Minuten zu gehen, und der Weg durch dieses Viertel war um diese Stunde und bei dem dichten Nebel nicht gerade angenehm. Aber der schmächtige Mann biß die Zähne zusammen und huschte wie ein wesenloser Schatten durch die Nacht. Er lief bald links, bald rechts, bald in der Mitte der winkligen Gassen, denn jeder Tritt und jedes Geräusch ließen ihn vorsichtig ausbiegen.

Schon mußte er nach seinem sicheren Ortssinn fast am Ziel sein, als sein eiliger Lauf durch einen festen Griff jäh gehemmt wurde. Bevor er noch dazu kam, den entsetzten Schrei auszustoßen, der sich auf seine Lippen drängte, vernahm er eine wohlbekannte hohle Stimme und sah die kantigen Umrisse eines in die Luft starrenden Bartes vor sich, der ihm in diesem Augenblicke der herrlichste Bart der Welt dünkte.

»Menschenskind«, sagte Steve, »kommen Sie 'ran. Wenn ich Sie nicht lotse, steuern Sie in Ihrer Einfalt direkt auf den Themsegrund, und der Herr kann bis zum Jüngsten Tag auf Sie warten.«

Eine Weile später stand Mr. Rosary in dem vorderen Abteil der kleinen Kabine, hielt den steifen Hut an die Brust gepreßt und machte zunächst eine ehrerbietige Verbeugung gegen das Gitter in der Wand.

Er kannte sich hier bereits aus, und als ihn eine höfliche Stimme hierzu aufforderte, nahm er gehorsam auf der Kante des Stuhles Platz. Es saß nun dicht vor dem Gitter, aber hinter den Holzstäben war bei der spärlichen Beleuchtung nicht einmal ein Schatten des Sprechers wahrzunehmen.

»Sie sind ein Mann, der London gründlich kennt und viel von dem weiß, was unter der Oberfläche vorgeht«, sagte die Stimme hinter der Wand. »Besonders die verschiedenen Geschäfte, die betrieben werden, dürften Ihnen wenigstens vom Hörensagen bekannt sein«, fuhr die Stimme unbeirrt fort, »und darüber möchte ich Sie heute um eine Auskunft ersuchen: Wie ist das mit dem Mädchenhandel? Gibt es hier so etwas? Oder kennen Sie vielleicht den einen oder andern, von dem man sagt, daß er mit diesen Dingen irgendwie in Verbindung steht?« Der Frager verstummte, und in dem niedrigen Raum herrschte sekundenlang tiefes Schweigen. Rosary rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und seine Finger zupften nervös an dem dünnen Bart. Das Unternehmen, über das der Herr etwas erfahren wollte, war Rosary immer so schrecklich erschienen, daß er davon nicht einmal etwas hätte hören wollen. Nur was seine scharfen Augen zufällig beobachtet hatten, wußte er, und was er wider Willen hier und dort in flüchtigen Andeutungen aufgefangen hatte. Es war nicht viel, aber sogar davon zu sprechen scheute er sich, und erst ein drängendes »Nun?« konnte ihm die Zunge lösen.

Rosary rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und seine Finger zupften nervös an dem dünnen Bart.

»Ich habe gehört«, sagte er zögernd und vorsichtig, indem er sich die feuchte Stirn wischte, »daß es so etwas geben soll. Einmal haben neben mir zwei Spaniolen davon gesprochen, weil sie nicht ahnten, daß ich sie verstehe, und ein anderes Mal habe ich von einem Lokal gehört, wo solche Leute zusammenkommen sollen.«

»Welches Lokal soll das sein?« kam es gespannt hinter der Wand hervor, aber der Mann auf dem Stuhl wiegte bedenklich mit dem Kopf.

»Sir«, meinte er unentschlossen, »soll ich Ihnen mit einer Auskunft dienen, von der ich nicht weiß, ob sie reell ist? Es wird so viel geredet, daß man nicht wissen kann, was wahr ist und was nicht, obwohl . . .«

Er brach ab und wiegte wiederum den Kopf, blickte aber dann plötzlich nach dem Gitter, weil er dort ein leises Geräusch vernahm. Durch die Stäbe kam ein starkes Kuvert zum Vorschein, und die Stimme sagte höflich: »Für Ihre Bemühungen und den unangenehmen Weg, den Sie gehabt haben.«

Mr. Rosary griff mit seiner schmalen blassen Hand rasch zu, und während er den Umschlag in der Innentasche seines langen Überrockes barg, wurde er mit einemmal sehr gesprächig.

»Was heißt ›Bemühungen‹ und ›unangenehmer Weg‹! Mein ganzes Leben möchte ich solche Bemühungen und solche Wege haben«, versicherte er und sah sich dann vorsichtig in dem winzigen Raum um, bevor er seinen Mund dicht an das Gitter brachte und seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern dämpfte. »Sir, ich will nichts gesagt haben, aber sehen Sie doch selbst einmal, was sich in der Bar tut, die ›Tausendundeine Nacht‹ heißt und in Summers Town ist, und vielleicht werden Sie erfahren, was Sie zu wissen wünschen.«

»Also ›Tausendundeine Nacht‹«, wiederholte die Stimme des andern mechanisch und setzte hinzu: »Summers Town. – Ich danke Ihnen.«

Das war die gewöhnliche Verabschiedung, und der schmächtige Mann schnellte von seinem Stuhl auf, um seine ehrerbietigen drei Verbeugungen gegen die Wand zu machen, aber schon nach der ersten wurde er unterbrochen.

»Noch einen Augenblick. – Ich würde ein Mädchen brauchen, das in diesem oder einem ähnlichen Lokal verkehrt und das Sie als zuverlässig empfehlen könnten. – Sie verstehen?«

Mr. Rosarys Augen blitzten nach dem Gitter, und seine Rechte fingerte lebhaft an den Barthaaren.

»Und ob ich verstehe, Sir! – Ein schönes Mädchen, ein braves Mädchen, ein anständiges Mädchen . . .« Er geriet immer mehr in Eifer, und alle seine Gliedmaßen waren in Bewegung. »Habe ich. Sie werden zufrieden sein, Sir. – Geradezu eine feine Dame . . .«

»Das muß sie gerade nicht sein«, kam es kühl zurück. »Aber verständig, verschwiegen und auch mutig.«

Der gute Mr. Rosary war so entzückt, daß er ganz vergaß, was sich gehörte und ein leises Kichern hören ließ.

»Mutig?« Er schnellte seinen rechten Arm vor und deutete am Oberarm eine Kugel von der Größe eines Fußballs an. »Wenn ich nicht ihr Freund wäre, so wäre ich jetzt ein toter Mann«, fügte er vertraulich hinzu. »Sie schlägt einmal mit der Hand zu, und man ist erledigt, wie sie sagt. – Das mit der feinen Dame aber ist so: Wenn Sie sie anschauen, Sir, so sieht sie aus wie ein gewöhnliches Mädchen, aber wenn Sie mit ihr Tee trinken und sprechen, so ist sie eine feine Dame; und wenn sie vielleicht auch keine feine Dame, sondern nur ein gewöhnliches Mädchen ist, so –«

»Ist sie jedenfalls ein Wunder, das man sich ansehen muß«, schnitt die Stimme hinter der Wand seine begeisterte Erklärung ab, und Mr. Rosary nickte befriedigt.

»Tun Sie das, Sir, und ich glaube, Sie werden zufrieden sein.«

»Wo ist sie zu finden?«

»Zu finden ist sie in meinem Hause, im Flur die erste Tür links«, beeilte sich der schmächtige Mann zu erklären, »aber nur so gegen Abend. Was sie sonst den ganzen Tag über macht, weiß ich nicht, aber dann geht sie tanzen. Und wenn Sie sie vielleicht noch heute zu sprechen wünschen, so ist sie gerade im ›Tausendundeine Nacht‹. Sie hat einen roten Turban auf dem Kopf und ein rotes Kleid und einen feinen roten Mund. Und Augen hat sie so –«

»Gut«, sagte der Herr, »wir werden sehen. – Und nun nur noch eine Kleinigkeit, dann werde ich Sie nicht länger aufhalten. – Kennen Sie vielleicht zwei Männer namens Bayford und Ferguson?«

Das war eine einfache, geschäftsmäßige Frage, und Mr. Rosary konnte sie ebenso einfach und geschäftsmäßig beantworten.

»Und ob ich sie kenne! – Mr. Bayford ist ein feiner Gentleman mit einem Monokel, und man sagt, daß er der Teilhaber von Mr. Ferguson ist, Mr. Ferguson aber handelt an der Börse, und zwar in Papieren, die nicht immer gut sein sollen. Außerdem soll er noch ein großes Überseegeschäft haben, aber man weiß nicht, womit. Man weiß überhaupt nicht so recht, wie man mit ihm dran ist. Ich habe vor einigen Tagen mit ihm auch sozusagen in Geschäftsverbindung gestanden und mich gewundert, was der Mann für Passionen und Sorgen hat.«

Er fand die Sache zu nichtig, um weiter darauf einzugehen, aber dem andern schien daran gelegen zu sein.

»Worum handelt es sich, wenn man fragen darf?«

»Gewiß dürfen Sie fragen«, meinte Rosary lebhaft und zuvorkommend. »Worum hat es sich auch schon gehandelt? – Ausgerechnet um alte Landkarten, die ich mit anderem Trödelkram aus dem Nachlaß einer verstorbenen Dame im Clapham gekauft habe. Sie sollen ihrem Neffen gehört haben, der im Kriege gefallen ist. – Und für diese Karten hat mir Mr. Ferguson zwanzig Pfund geboten. Was soll man dazu sagen?«

»Haben Sie sie ihm verkauft?« klang es hastig hinter der Wand hervor, aber Mr. Rosary schüttelte etwas wehmütig mit dem Kopfe.

»Wenn ich sie noch gehabt hätte, hätte ich sie ihm verkauft«, erklärte er mit einem leichten Seufzer. »Aber ich hatte sie bereits einem hohen General gebracht, der in der Zeitung ankündigte, daß er für jede Landkarte aus dem Krieg fünf Schilling bezahle, und er hat mir auch wirklich vierzig Schillinge bar auf den Tisch gelegt. Wie ich dann gekommen bin, ihn zu bitten, mir die Karten wieder zu verkaufen gegen einen anständigen Profit, ist er sehr unfreundlich geworden und hat gesagt, ich solle schauen, daß ich weiterkomme, denn er brauche die Karten. Und ich bin wieder gegangen, denn ich habe eingesehen, daß ein hoher General so etwas wirklich brauchen kann, während es für einen Geschäftsmann, wie Mr. Ferguson, doch zu gar nichts nütze ist –«

»Welcher General war das?« forschte die Stimme hinter dem Gitter lebhaft.

»Sir Humphrey Norbury«, gab der schmächtige Mann betrübt zurück. »Mein ganzes Leben lang werde ich mir den Namen merken, weil es ein so schlechtes Geschäft war.«

»Das kann man heute noch nicht sagen«, tröstete ihn der fremde Herr, aber erst einige Wochen später sollte Rosary daraufkommen, welch eine gescheite und wahre Bemerkung das gewesen war.


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