Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Cynthia Dorban kniete auf dem Sofa und horchte. Sie hatte fast das ganze Gespräch gehört. Arthur Dorban lag auf seinem Bett, hatte ein Buch auf den Knien und eine Zigarette im Mund. Er beobachtete seine Frau, ohne zu wissen, worauf sie lauschte.
»Nun?« fragte er schließlich, als sie sich erhob.
»Sie will ihn heiraten!« rief Cynthia erregt. »Ich habe dir ja vorausgesagt, was Orford tun würde.«
Arthur legte seine Zigarette sorgfältig weg und stand auf.
»Wann wird das geschehen?« fragte er ruhig.
»Heute, morgen – woher soll ich das wissen?« fuhr sie ihn an.
Er schlüpfte in seinen Rock, öffnete die Kabinentür und schaute den Gang entlang. Die nächsten Kabinen bewohnten der Schiffsarzt und Bobby. Auf der anderen Seite waren Mr. Orford und der Chefingenieur untergebracht. Die Kabine des Kapitäns lag der ihrigen gerade gegenüber, er schlief aber gewöhnlich oben im Kartenzimmer hinter der Kommandobrücke.
Arthur Dorban versuchte die Kapitänskabine zu öffnen, aber sie war, wie gewöhnlich, verschlossen.
»Geh schnell zur Treppe und paß auf, ob jemand kommt!«
»Was hast du denn vor?« fragte Cynthia. »Du weißt doch, daß wir nicht an Deck gehen dürfen.«
»Halt jetzt den Mund und tu, was ich dir sage«, fuhr er sie unwirsch an. Sie folgte ihm, ohne noch eine Frage zu stellen.
Er ging in die Kabine zurück, holte einen Bund Schlüssel aus seinem Koffer und probierte einen nach dem andern an der Tür. Er hatte nur wenig Zeit, denn jeden Augenblick konnte jemand von der Schiffsbesatzung vorbeikommen und ihn entdecken.
Als von Hause aus träger Charakter hatte er gehofft, daß es sich vermeiden ließe, Gewaltmaßnahmen zu ergreifen, oder daß er wenigstens noch mehr Zeit hätte. Aber nun erkannte er plötzlich den Ernst der Lage und übersah die Folgen, die Penelopes Zustimmung mit sich brachte.
Keiner der Schlüssel paßte. Im Gang hing ein Glaskasten, in dem für Feuersgefahr und andere Unglücksfälle eine Axt aufbewahrt wurde. Der Kasten war nicht verschlossen. Arthur nahm die Axt heraus, trat einen Schritt zurück und ließ sie mit voller Wucht auf das Schloß fallen. Dann klemmte er die Schneide zwischen die Tür und den Rahmen und brach das Schloß auf.
Er schaute sich schnell um – es war niemand in Sicht, und es war auch nicht anzunehmen, daß jemand den Lärm gehört hatte. Alle schienen oben an Deck zu sein, und das Geräusch der Maschinen hatte den Schall sicherlich überdeckt.
Die Kapitänskabine war sehr groß. Ein Schreibtisch, eine Messingbettstelle und ein großer Schrank standen darin. Er zog die Schreibtischschubladen nacheinander auf und fand gleich in der ersten, was er suchte – ein paar Schnellfeuerpistolen und ein paar Schachteln Patronen. Er vermutete, daß sich irgendwo noch eine Kiste mit Waffen befand. Der Gedanke kam ihm, während er die Schachteln aufmachte und die Pistolen lud. Er suchte die Kabine ab und entdeckte tatsächlich unter dem Bett eine flache, schwarzlackierte unverschlossene Kiste, in der ein halbes Dutzend schwere Armeerevolver, zwei Gewehre, fünfzig Schachteln Munition und ein halbes Dutzend Handschellen lagen. Er trug alles in seine Kabine. Cynthia hielt noch am anderen Ende des Ganges Wache, und er winkte sie zu sich.
»Hol schnell Hollin her!«
Sie hatte ihn eben an der Treppe gesehen, wo er die Messingbeschläge putzte, denn nach seinem Ausflug nach Vigo war seine Stellung an Bord eine andere geworden, und er mußte jetzt wie ein gewöhnlicher Matrose arbeiten. Sie eilte hin und rief ihn herunter. In demselben Augenblick erschien auch der Captain oben.
»Wo wollen Sie hin?« fragte er.
»Schnell!« rief Cynthia, und Hollin gehorchte.
Trotz seines Alters war der Captain sehr behende, und er lief rasch hinter ihm den Gang entlang. Aber plötzlich blieb er stehen: Mr. Dorban hatte die Pistole auf ihn gerichtet.
»Wenn Sie rufen, schieße ich Sie nieder«, sagte Arthur. »Gehen Sie hier hinein!« Er zeigte auf die Kapitänskabine.
»Was haben Sie gemacht?« fragte der alte Mann vorwurfsvoll.
Neben der Kabine lag ein kleiner Baderaum, in den der Captain eingeschlossen wurde.
»Was ist denn los?« fragte Hollin, der die veränderte Situation nicht gleich begriffen hatte.
»Nehmen Sie das«, sagte Dorban und gab ihm ein Gewehr. »Cynthia, du bleibst hier und bewachst den Captain.«
Er eilte die Treppe zum Deck hinauf. Hollin folgte ihm etwas verstört, er fühlte sich nicht recht wohl.
Mr. Orford sprach gerade mit Penelope, als Arthur erschien.
»Was wollen Sie? Sie sollen doch unten in Ihrer Kabine bleiben!«
Plötzlich sah er die Pistole in Arthurs Hand.
»Bei dem geringsten Laut sind Sie ein toter Mann!« drohte Mr. Dorban. »Bewachen Sie diese beiden, Hollin, bis ich mit den Leuten oben fertig bin!«
Auf dem Bootsdeck befanden sich nur ein Matrose und der Steuermann. Dorban wußte, daß er den Leuten der Besatzung keine große Beachtung zu schenken brauchte. Die einzigen Waffen an Bord waren nun in seinem Besitz, höchstens Bobby und John konnten noch Waffen bei sich führen. Aber er hatte Glück, denn er fand die beiden auf der Kommandobrücke im Gespräch mit dem Zweiten Offizier.
»Hände hoch!«
John wandte sich schnell um und sah sich von der Mündung einer Pistole bedroht.
»Es ist nicht notwendig, Ihnen ausdrücklich zu erklären, daß ich dem Gesetz nach berechtigt bin, jeden von Ihnen sofort niederzuschießen. Drehen Sie sich um!«
John gehorchte; er ahnte, was geschehen war, und wußte, daß im Augenblick jeder Widerstand nur zu schweren Zusammenstößen führen würde. Dorban legte ihm und Bobby Handfesseln an.
»Nun, mein Herr«, wandte er sich an den Offizier. »Sie wissen, daß Sie jetzt in einer sehr ernsten Lage sind. Ich habe den Captain verhaftet, und Sie können den Folgen Ihrer ungesetzlichen Handlung nur entgehen, wenn Sie meine Anordnungen befolgen.«
Der Offizier war ein großer, hagerer Mann mit verbissenem Gesichtsausdruck. »Was verlangen Sie von mir?« fragte er.
»Sie werden das Schiff nach England zurücksteuern!«
»Das können Sie selbst tun«, sagte der Offizier. »Sie machen sich hier der Seeräuberei schuldig, und wenn die Sache böse Folgen hat, dann haben Sie das selbst zu verantworten.« Er stellte den Maschinentelegrafen auf ›Stop‹ und ging an Arthur vorbei nach hinten in seine Kabine.
Arthur war wütend über diesen Mißerfolg. Aber es blieb ja noch der Steuermann. Nachdem er seine Gefangenen unten eingeschlossen hatte, kehrte er nach oben zurück und hatte eine lange Unterredung mit dem Mann, in deren Verlauf er ihn überredete, seinen Anweisungen zu folgen.
Als er wieder hinunterkam, fand er seine Frau an Deck. Hollin stand neben ihr. Er hatte sich gleich über den Whisky hergemacht, war begeistert und sah das Leben im Augenblick von der rosigsten Seite an.
»Ich habe den Steuermann bestimmt, nach Cadiz zu fahren«, sagte Arthur. »Die Ingenieure und Heizer haben sich ebenfalls bereit erklärt, auf ihrem Posten zu bleiben. Auf diese Weise können wir alles zu unseren Gunsten wenden.«
»Und was wird aus dem Mädchen?« fragte Cynthia.
Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist in ihrer Kabine.«
»Bist du denn so dumm, sie auch nach Cadiz mitzunehmen? Denk doch daran, daß sie die Banknoten und die Radierungen gesehen hat! Denk daran, daß ich versucht habe, sie zu ertränken!«
»Wer wird denn ihren Aussagen Glauben schenken?« fragte er eigensinnig. Aber sie kannte ihn zu gut, um nicht zu wissen, daß er sich sehr unbehaglich fühlte. »Sie kann keinen Zeugen beibringen, der ihre eventuellen Anklagen bestätigt, und die Tatsache, daß sie mit diesem Mann zusammen ist, genügt schon, um sie selbst verdächtig zu machen.«
Cynthia schien sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben, aber Arthur Dorban ließ sich nicht täuschen.
»Ich kann mich unmöglich jetzt auch noch damit befassen«, erklärte er. »Ich habe gerade genug zu tun, um Herr der Situation zu bleiben. Hollin, gehen Sie nach vorne und bewachen Sie die Quartiere der Mannschaft. Ich will auf die Brücke gehen und mich vergewissern, daß der Steuermann mich nicht betrügt. In ein paar Stunden werden wir ein Kriegsschiff treffen. Der Steuermann sagte mir, daß man solchen Schiffen hier häufig begegnet. Wir sind nur dreihundert Meilen von Gibraltar entfernt.«
Bobby und John saßen in Bobbys Kabine und besprachen die Lage. Sie saßen zusammen, weil sie mit den Handschellen aneinandergefesselt waren.
»Ich glaube, wir können dies ruhig als das Ende unseres Abenteuers ansehen«, sagte John mit unnatürlicher Ruhe. »Es tut mir furchtbar leid, und ich kann es mir nie vergeben, daß ich dich in diese furchtbare Lage gebracht habe, Bobby.«
»Und ich bin noch trauriger, daß es mir nicht gelungen ist, dich vollständig zu befreien«, erwiderte Bobby bitter. »Es war doch zu unvorsichtig, daß wir nicht daran dachten, wie leicht uns diese Leute übertölpeln konnten.«
John schaute auf den Teppich.
»Ich möchte nur wissen, was sie mit Miss Pitt gemacht haben.«
»Sie ist in ihrer Kabine. Er sagte es zu Hollin, als sie eben an unserer Tür vorbeikamen. Was werden sie wohl unternehmen?«
»Wahrscheinlich laufen sie den nächsten Hafen an und übergeben uns der Polizei. Wenn uns der nette alte Xenocrates aus dieser Patsche heraushilft, dann werde ich ihm ein silbernes Denkmal setzten.«
»Du kannst es auch aus Gold anfertigen lassen«, meinte Bobby traurig, »es ist eines so schön wie das andere. Wo ist er eigentlich geblieben?«
»Er ist in der nächsten Kabine, die dem Schiffsarzt gehört.« John stand auf und klopfte an die Wand. Sofort wurde ihm geantwortet. »Ja, er ist dort.«
Bobby schaute auf seine Handschellen und versuchte schon zum soundsovielten Male, seine Hand durchzuzwängen.
»Es hat alles keinen Zweck«, stöhnte er. »Es ist einfach schrecklich, wenn man bedenkt, daß zwei Leute das ganze Schiff überrumpelt haben!«
»Hollin ist doch auch mit ihnen im Bunde.«
»Ich hatte gar nicht an ihn gedacht. Sicher ist Cynthia Dorban der leitende Kopf.« Plötzlich hielt er inne, und Bobby sah, daß seine Augen glänzten. »Ich habe eine gute Idee«, sagte er leise, und ohne eine nähere Erklärung abzugeben, trat er heftig mit dem Fuß gegen die Kabinentür. Sofort erklang Cynthias scharfe Stimme.
»Was wollen Sie?«
»Bekommen wir denn nichts zu essen? Haben Sie die Absicht, uns verhungern zu lassen?« fragte John.
»Wenn Sie etwas zu essen haben wollen, müssen Sie es sich schon selbst holen«, erwiderte Cynthia, schloß die Tür auf und erschien mit der Pistole in der Hand. »Gehen Sie in die Küche und holen Sie sich so viel, daß es für zwei Tage reicht. Dann werden ja wohl die spanischen Behörden für Sie sorgen.«
Bobby hatte durchaus keinen Hunger; schon der Gedanke an Essen war ihm widerwärtig, und er wunderte sich, daß John in einem solchen Augenblick Appetit haben konnte. »Lassen Sie es sich nicht einfallen, mir einen Streich spielen zu wollen«, drohte Cynthia, während sie ihnen folgte.
»Dann wollen Sie uns natürlich niederschießen – das glaube ich Ihnen«, erwiderte John. »Wenn wir es mit dem sanften Slico zu tun hätten, wäre es etwas anderes.«
Sie gingen in den Anrichteraum, der hinter der Küche lag. Es war niemand dort.
»Beeilen Sie sich etwas«, sagte Cynthia, die draußen auf dem Gang stehengeblieben war und die Tür genau beobachtete.
John führte Bobby in einen kleinen, dunklen Raum, in dem die Vorräte aufbewahrt wurden. Er machte keinen Versuch, den Eisschrank zu öffnen, sondern fühlte mit der Hand die Wand entlang, bis er ein kleines Schaltbrett fand. Es war dunkel, aber er tastete mit den Fingern und zählte die Knöpfe. Als er an den sechsten gekommen war, drückte er ihn schnell herunter und nahm einen Hörer auf.
»Singe, so laut du kannst«, flüsterte er Bobby zu. »Willst du wohl singen?«
Plötzlich ertönte Bobbys wohlklingende Stimme.
»Sind Sie es, Penelope?« fragte John schnell. Ihm war vorhin eingefallen, daß eine telefonische Verbindung zwischen der Anrichte und den großen Kabinen bestand.
»Ja, wo sind Sie?«
»Das ist gleichgültig. Sie kennen doch Bobbys Kabine – sie liegt direkt unter dem roten Ventilator. Können Sie sich irgendwelche Schußwaffen beschaffen, irgendeine Pistole, die Sie so über die Reling herunterlassen, daß sie vor unserem Kabinenfenster hängt und wir sie von da aus erreichen können?«
»Ich darf ja meine Kabine nicht verlassen!«
»Bitte, versuchen Sie es unter allen Umständen!«
»Was machen Sie denn da drinnen?« fragte Cynthia scharf. »Kommen Sie sofort heraus!«
John hängte schnell den Hörer an, nahm ein großes Brot und folgte Bobby.
»Ich habe gehört, daß Sie mit jemandem gesprochen haben – wer war das?«
»Ich habe mich mit meiner Lieblingsfrau unterhalten«, erwiderte John kühl. »Finden Sie nicht, daß Stamford Mills sehr schön singen kann?«
»Was haben Sie gemacht?« fragte Cynthia argwöhnisch. Arthur kam vorbei, und sie rief ihn an.
»Du bist verrückt, daß du die beiden herausgelassen hast«, sagte er zu ihr, nachdem John und Bobby wieder in ihrer Kabine eingeschlossen waren. »Es wäre doch eine Kleinigkeit gewesen, ihnen das Essen bringen zu lassen. Hollin ist doch auch noch da. Dem Mädchen muß erlaubt werden, an Deck zu gehen, ich kann sie nicht die ganze Zeit einsperren.«
»Warum denn nicht? Ist es etwa für sie schlimmer als für uns?«
Er füllte sein Zigarettenetui von dem Vorrat, den er in der Kapitänskabine gefunden hatte. Dann wandte er sich wieder an seine Frau. »In den nächsten vierundzwanzig Stunden kann viel passieren. Ich bitte dich, Cynthia, mir zu helfen, daß nichts geschieht, was ich später bereuen könnte.«
Sie erbleichte, obwohl sie mutig war. Plötzlich taten sich unergründliche Tiefen in Slicos Charakter auf, die sie bisher nur dunkel geahnt hatte.
»Ich habe nicht die Absicht, dieses Mädchen irgendwie zu kränken«, fuhr er fort. »Wenn es aber dazu käme, dann würdest du mir sehr im Wege stehen. Das ist dir doch klar?«
Sie nickte und zitterte an allen Gliedern. Sie wußte, was er sagen wollte, aber sie hatte niemals daran gedacht, daß er ihr so gegenübertreten würde.
»Als du Penelope umbringen wolltest, habe ich dir freie Hand gelassen, weil ich beabsichtigte, ein für allemal aufzuräumen. Wärst du zurückgekommen und hättest mir die Nachricht von ihrem Tod gebracht, so hättest auch du den nächsten Morgen nicht mehr erlebt. Willst du, bitte, immer daran denken, Cynthia?«
Seine sonst so sanfte Stimme klang drohend.
»Das wirst du doch nicht tun!« stieß sie atemlos hervor. »Es geschah doch alles nur für dich!«
Er ging lächelnd aus der Kabine. Cynthia aber fiel schwer auf das Sofa nieder.