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Der zweite Tag auf der ›Polyantha‹ begann grau und kalt, die See war nicht mehr spiegelglatt, und es regnete in fast regelmäßigen Zwischenräumen.
Penelope war froh, daß sie wenigstens eine Wolljacke hatte. Auch den Schiffsmantel, den John ihr brachte, nahm sie dankbar an. Sie erlaubte ihm sogar, die Ärmel aufzurollen und ihn bis unter das Kinn zuzuknöpfen.
»Es ist der kleinste Mantel, den wir an Bord haben«, erklärte er. »Ich glaube, er gehört Bobby Mills.«
»Aber Sie nennen ihn doch nicht Bobby in seiner Gegenwart?« fragte sie interessiert.
»Ich nenne ihn in seiner Gegenwart überhaupt nicht«, erwiderte er kühl. »Das ist nun zufällig einmal sein Name, und ich kann hier an Bord nicht alle Leute mit Mister anreden. Außerdem paßt dieser Name außerordentlich gut für ihn. Er ist der feinste Kerl auf der Erde, so ehrlich wie ein alter Seehund –«
»Sie scheinen ihn ja sehr gut zu kennen.«
»Ich weiß sehr viel von ihm – jeder kennt Stamford Mills dem Namen nach, selbst so ein kleiner Student aus Aberdeen wie ich. Sind wir uns nun darüber einig, daß ich diese Rolle spiele?«
»Nein, darüber sind wir uns noch nicht einig«, sagte sie ernst.
»Auch gut. Was wünschen Sie zum Frühstück? Wir haben Eier und Schinken und Schinken und Eier. Sie können auch Koteletts auf französische oder amerikanische Art haben. Dann steht Hummer in Büchsen zur Verfügung; soviel ich weiß, ist das ein Lieblingsgericht von Leuten aus Edmonton –«
»Woher wissen Sie denn, daß ich aus Edmonton komme?« fragte sie argwöhnisch.
»Das haben Sie mir doch selbst gesagt«, antwortete er, nicht im mindesten verblüfft. »Als ich Sie neulich zu Bett brachte, haben Sie im Schlaf gesprochen.«
»John«, sagte Penelope ärgerlich. »Sie sind unfein.«
Diese ganze Unterhaltung wurde durch eine kleine Türspalte geführt.
Penelope machte sich später klar, daß es sich nicht für sie schickte, mit einem Matrosen zu flirten. Im Grunde war es natürlich gar kein Flirt, aber die anderen hätten es dafür halten können. Freilich war es schwer, John wie einen gewöhnlichen Seemann zu behandeln. Es gab jedoch keinen Grund, warum sie höflicher und liebenswürdiger hätte sein sollen, als es die gewöhnlichen Umgangsformen verlangten. Sie nahm sich fest vor, von jetzt ab dem Steward gegenüber eine gelassene und ruhige Haltung zur Schau zu tragen.
Allerdings lag es nicht in ihrer Natur, kalt und abweisend zu sein, und sie konnte ihn auch nicht vor den Kopf stoßen. Aber wenn sie sich ihm gegenüber nicht anders einstellte, würde sich wohl wenig an ihrem jetzigen Verhältnis ändern. Außerdem war die Tatsache, daß John der einzige an Bord war, von dem sie wenigstens einige Informationen erhielt, ihrem Wunsch sehr hinderlich. Sie wußte gefühlsmäßig, daß Mr. Orford nicht gerade gut auf sie zu sprechen war. Er zeigte zwar keine direkt feindliche Gesinnung, aber sein Benehmen zeugte auch nicht von begeisterter Freundschaft. Aus irgendeinem Grunde hatte ihr Erscheinen auf der ›Polyantha‹ einen sorgfältig vorbereiteten Plan gestört. Sie dachte lange darüber nach, welcher Art dieser Plan wohl sein könnte, aber sie fand keine Lösung. Die Fahrt dieser Jacht hatte nicht den Charakter einer Vergnügungsreise – das war klar. Es lag über allem etwas Geheimnisvolles und Düsteres. Sie hatte zwar weder den dicken Bobby Mills noch den guten Mr. Orford in Verdacht, daß sie irgendein Verbrechen begangen hatten, und doch – warum stahlen sie sich so heimlich durch den Kanal? Warum änderte das Schiff dauernd den Kurs, warum wurden alle Lichter gelöscht? Was war mit Hollin, diesem unangenehmen Menschen, der ewig Zigarren rauchte? Und was hatte seine Kappe mit der ganzen Sache zu tun?
Sie legte die Hand auf ihre klopfenden Schläfen. Je länger sie darüber nachdachte, desto unheimlicher und verwirrender erschien ihr die ganze Situation. Die Schwierigkeit ihrer eigenen Lage drückte sie nicht so sehr, sie war ja völlig unabhängig, ihre Zeit gehörte ihr, und es machte ihr wenig aus, ob die ›Polyantha‹ zu den Südsee-Inseln oder zum Nördlichen Eismeer fuhr. Und trotz der sonderbaren Zustände auf der Jacht fühlte sie sich hier sicher.
Sie erinnerte sich an die Seegeschichten, die sie in ihrer Jugend gelesen hatte. Vielleicht war die ›Polyantha‹ auf einer Entdeckungsfahrt, um geheime Schätze zu heben, oder sie hatte geschmuggelte Waffen an Bord. Sie dachte darüber nach, welches Land sich wohl im Kriegszustand befände und die Dienste des Schiffes in dieser Weise in Anspruch nehmen könnte.
John servierte ihr das Mittagessen und war zum erstenmal recht schweigsam.
Penelope war darüber etwas beunruhigt, denn sie hätte gerne verschiedenes gefragt. Aber erst als er das Geschirr abräumte, schien er sich in ein Gespräch einlassen zu wollen.
»Wir bekommen bald gutes Wetter«, sagte er plötzlich ohne irgendwelchen Zusammenhang.
Sie schaute durch das offene Kabinenfenster. Der Himmel und die See waren gleichmäßig grau, und ein Schleier von Regenwolken zog sich am westlichen Horizont hin.
»Werden wir nicht irgendeinen Hafen anlaufen, bevor wir in die Südsee kommen?«
Er blieb mit dem Tablett in der Hand stehen.
»Habe ich gesagt, daß wir in die Südsee fahren? Wenn ich das getan habe, war es ein Scherz. Ich weiß überhaupt nicht, wohin die Fahrt geht. Sicher müssen wir irgendwo anlaufen. Ich weiß aber nicht, welche Dispositionen der Captain getroffen hat. Ich habe mich noch nicht darum gekümmert.«
»Fürchten Sie denn gar nicht, daß Sie etwas zu spät zum Beginn Ihrer Vorlesungen kommen?« fragte sie ironisch.
Er lächelte.
»Ich glaube, man wird den Semesterbeginn bis zu meiner Rückkehr verschieben.«
»John!«
Er war schon an der Tür, setzte das Tablett draußen auf das Deck und kam in die Kabine zurück.
»Kennen Sie das Geheimnis der ›Polyantha‹?«
»Das einzig Geheimnisvolle an Bord sind Sie. Alle Frauen sind mehr oder weniger mysteriös –«
»Nun seien Sie doch vernünftig!« rief sie ungeduldig. »Warum stehlen wir uns so heimlich von England fort? Diese Reise ist wirklich merkwürdig.«
»Ist Ihnen das so unangenehm?« fragte er schnell.
Sie überlegte.
»Eigentlich nicht, aber es fällt mir doch auf. Ich möchte nicht gern im unklaren darüber sein; ich bin nämlich ein wenig in Unruhe wegen Mrs. – wegen einer Dame.«
»Ach, Sie meinen die Dame, die Sie aus dem Motorboot werfen wollte. Sie brauchen sich ihretwegen keine Sorgen zu machen. Das liebe Kind lebt und wehrt sich ganz gewaltig«, sagte er grimmig.
»Woher wissen Sie denn das?« fragte sie erstaunt.
»Sie sind als tot gemeldet worden«, erwiderte John nachdenklich. »Das Motorboot wurde mitten im Meer aufgegriffen, das heißt fünfundzwanzig Meilen von Spithead entfernt. Ich vermute, daß Mrs. Dorban irgendeine Geschichte über einen Unglücksfall erfunden hat, durch den Sie beide ins Wasser fielen. Es ist übrigens keinesfalls verwunderlich, daß ich das alles weiß«, sagte er lächelnd. »Wir haben nämlich eine ausführliche Funkmeldung über die Tragödie erhalten. Es erscheint mir nur so merkwürdig, warum man ausgerechnet Sie töten wollte.«
Aber Penelope schwieg sich über diesen Punkt aus.
»Besprechen Sie eigentlich diese ganzen Angelegenheiten mit dem Captain?«
»Sie sind schon wieder ironisch!« sagte John traurig. »Das kann ich nicht vertragen. Wir arme, einfache Matrosen hören doch eine ganze Menge, wenn wir die Ohren spitzen.«
Damit ging er hinaus. Später sah Penelope, daß er an Deck Messingteile putzte, in der nachlässigen, langweiligen Art, wie Matrosen ihre Arbeit verrichten.
Er war leicht gekleidet und trug nur Hemd und Hose. Das Wetter hatte sich tatsächlich geändert, wie er vorausgesagt hatte, und es war heiß an Deck, denn sie fuhren mit dem Wind. John hatte die Hemdsärmel aufgerollt, und sie sah seine starken braunen, muskulösen Arme. Plötzlich legte er sein ganzes Putzmaterial in einen Kasten und verschwand.
Sie ging hinter ihm her und schaute auf das Deck hinunter, wo der unvermeidliche Hollin mit seiner Zigarre saß. John war nicht mehr zu sehen, und sie war ein wenig bedrückt darüber.
Mr. Orford schlief unter seinem Schirm, Bobby saß an Deck und spielte irgendein Geduldsspiel, Dr. Fraser las in einem dicken Buch. Niemand unterhielt sich mit ihr. Der Schiffsarzt schaute von seinem Buch auf, als sie vorbeikam, und einer der Offiziere, den sie für den Steuermann hielt, ging ihr aus dem Weg. Zum erstenmal fühlte sie sich sehr verlassen.
Eine halbe Stunde später ging sie zum äußersten Ende des Schiffes, wo sich ihr ein ungewöhnlicher Anblick bot.
John saß auf einem kleinen Klappstuhl, und auf seinen Knien lag ein großer Malkasten, dessen zurückgeschlagener Deckel ihm als Staffelei diente. Er hatte innen ein Blatt Papier angeheftet, das er eifrig bemalte. Sie sah ihm entzückt zu. Die graugrünen Wellen der See und die zarten goldgelben Töne des westlichen Himmels gewannen unter seinem flinken Pinsel rasch Umriß und Leben.
Er hatte seinen Stuhl auf das Dach der vorderen Ladeluke gestellt, von wo aus man einen guten Ausblick auf das Meer hatte, und er war so in seine Arbeit vertieft, daß er Penelope erst bemerkte, als ihr Schatten auf ihn fiel. Halb schuldbewußt und halb verlegen drehte er sich um und schaute zu ihr auf.
»Ja, für eine Zehnminutenskizze ist es nicht gerade schlecht geworden«, sagte er, als er ihrem begeisterten Blick begegnete.
»Sie sind ja ein Künstler, John!«
Er legte seinen Pinsel fort und schloß den Kasten.
»Ich bin ein Amateur, ein armer Stümper. Leute wie wir müssen auch ihr Vergnügen haben, ebensogut wie die Reichen –«
»Zum Teufel noch einmal!«
Mr. Orford war herbeigekommen, und Penelope sah, daß er sehr ärgerlich war.
»Zum Donnerwetter, was machen Sie denn da schon wieder! Der nichtsnutzige Schlingel malt! Habe ich Ihnen denn nicht gesagt ...« Mr. Orford war wirklich zornig.
John wurde tiefrot. Aber zu ihrem größten Erstaunen antwortete er nicht, als der große Mann die Treppe herunterkam. Der Steward sah aus wie ein ertappter Schuljunge, den man beim Obstdiebstahl in einem fremden Garten abgefaßt hat.
»Habe ich Ihnen nicht hundertmal gesagt, Sie dürften nicht malen?« fuhr ihn Mr. Orford wütend an. »Wozu soll denn das nützen?«
»Es tut mir sehr leid, Mr. Orford«, erwiderte John kleinlaut. »Es war gedankenlos von mir.«
Mr. Orford fuchtelte verzweifelt mit den Händen in der Luft herum.
»Es wird noch eine Katastrophe geben«, sagte er düster. »In meinem ganzen Leben ist noch keine Sache schlechter gegangen!«
Er polterte und fluchte, als er wieder nach oben ging. John sah Penelope lächelnd an, und es lag ein verschmitzter Ausdruck in seinen Augen.
»Da sehen Sie nun, was Sie angerichtet haben!«
»Was ich angerichtet habe?« rief sie entrüstet. »Ich habe doch nicht gemalt! Aber meiner Ansicht nach ist es nicht recht, daß Sie sich in Ihrer freien Zeit nicht mit Malen beschäftigen dürfen, wenn Sie es doch so gerne tun.«
»Ich habe überhaupt keine freie Zeit. Ich habe vierundzwanzig Stunden Dienst am Tage. Entschuldigen Sie mich, ich muß jetzt versuchen, den dicken Mann wieder zu beruhigen.«
Die Sonne neigte sich schon zum Horizont, als Penelope fern im Süden ein Schiff auftauchen sah, das direkt auf sie zuzufahren schien. Mr. Orford, der Captain und Bobby Mills sprachen lebhaft und ernst miteinander. Kurz darauf trat auch der Doktor zu ihnen. Plötzlich trennte sich Dr. Fraser von der Gruppe und ging auf Penelope zu.
»Guten Abend, Miss Pitt«, sagte er und sah sie prüfend an. »Es scheint Ihnen nicht sehr gut zu gehen.«
Er selbst fühlte sich anscheinend auch nicht wohl, denn sein Gesicht sah blaß aus, und seine Hände zitterten.
»Ich bin so gesund wie immer«, erwiderte sie erstaunt.
»Ich glaube nicht, daß das der Fall ist. Vielleicht haben Sie zu lange in der Sonne gesessen, und es ist so etwas wie ein Sonnenstich?« Er trat näher an sie heran und sah ihr in die Augen. »Ja, es geht Ihnen nicht gut. Sie müssen sich sofort zu Bett legen.«
Sie starrte ihn entsetzt; an.
»Aber es geht mir doch wirklich gut!«
»Das bilden Sie sich nur ein«, entgegnete er liebenswürdig. »Bitte, folgen Sie meinen Anordnungen.«
»Ich soll – mich zu Bett legen?«
Er nickte.
»Wenn Sie sich gelegt haben, werde ich kommen und Ihnen ein Medikament geben.«
»Aber das ist doch lächerlich!« rief sie aufsässig. »Ich sehe wirklich nicht ein, warum ich das tun soll, wenn ich mich gesund fühle –«
»Wollen Sie jetzt endlich tun, was ich Ihnen sage, Miss Pitt?« Diesmal war seine Stimme hart und scharf, und sie erkannte, daß ihre Gesundheit nichts mit seiner merkwürdigen Forderung zu tun hatte.
Sich zu widersetzen war nutzlos, da sie diesen Männern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Trotzdem fürchtete sie sich nicht.
»Nun gut. Ich halte es zwar für ganz unnötig, da Sie es aber verlangen, werde ich es tun.«
Als sie im Bett lag, hätte sie über diese sonderbare Situation lachen können, wenn nicht ihr Unmut so groß gewesen wäre.
Der Schiffsarzt kam herein. Er hielt ein Glas in der Hand, das halb mit einer milchigweißen Flüssigkeit gefüllt war.
»Trinken Sie das aus!«
»Aber sagen Sie mir doch im Ernst, Doktor – glauben Sie wirklich, daß ich einen Sonnenstich habe? Ich kann Ihnen versichern, daß ich niemals einen klareren Kopf hatte!«
»Trinken Sie jetzt das Medikament!« erwiderte der Schiffsarzt barsch.
Sie gehorchte und schnitt ein Gesicht, als sie es hinunterschluckte, denn es schmeckte sehr bitter. Sie schüttelte sich, und der Doktor lächelte. Es war das erstemal, daß sie das sah.
»Wie, es war nicht gut? Aber Sie werden sich sehr wohl danach fühlen. Das Medikament hat keinerlei Nachwirkungen. Das ist der große Vorteil dieses Trankes.«
Schon seine letzten Worte schienen Penelope aus weiter Ferne zu kommen, und sie fühlte eine angenehme Müdigkeit.