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Nach dem schweigsam verlaufenen Abendessen ging Penelope in den Garten, um sich über die Lage klarzuwerden. Sie versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen, das über dem Leben der Dorbans lag. Er hatte den falschen Koffer versenkt! War das der Koffer, der auf der Reise verlorengegangen sein sollte? Und warum hatte er einen Koffer mit Banknoten versenken sollen, die einen so fabelhaften Wert darstellten?
Sie hatten ihr nicht die geringste Erklärung gegeben – das erschien ihr als schlechtes Zeichen. Die Atmosphäre war geladen. Es drohte ihr Gefahr – sie wußte und fühlte es.
Cynthias schrille Stimme rief sie zurück. Sie ging langsam ins Haus, ihr Herz schlug schneller. Auf dem Wege, der am Haus entlangführte, sah sie etwas Weißes liegen. Sie bückte sich und hob es auf. Selbst in dem Zwielicht erkannte sie, daß es die Quittung war, die sie oben in dem Koffer gefunden hatte. Die Zugluft mußte sie aus dem Fenster geweht haben. Sie steckte sie in die Tasche ihrer Strickjacke, um sie Mrs. Dorban zu geben.
»Kommen Sie hier herein, Penelope«, sagte Cynthia hart.
Sie folgte der Frau in das kleine Wohnzimmer.
Arthur Dorban saß an einem kleinen Tisch und hatte das Kinn in seine Hand gestützt. Er schaute nicht auf, als sie eintrat, sondern sah unverwandt auf die Spitzendecke, die auf dem Tisch lag.
Penelope hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde, und wußte, daß sie nun gefangen war.
»Hier ist sie«, sagte Cynthia barsch.
Aber Arthur rührte sich immer noch nicht.
»So sag es ihr doch!« Cynthia konnte ihre Ungeduld nicht verbergen.
Nun schaute Mr. Dorban auf.
»Ich will allein mit ihr sprechen.«
Cynthia zuckte die schmalen Schultern.
»Das kann ich auch ertragen«, erwiderte sie ironisch, ging dann zwei Schritt auf ihren Mann zu und lehnte sich über den Tisch. »Du weißt, was dies zu bedeuten hat, Slico? Es gibt keine halben Maßnahmen und auch keine Kompromisse. Hast du mich verstanden? Wenn du nicht den Mut hast, ich habe ihn!«
Sie sah ihn noch einen Augenblick scharf und eindringlich an, dann verließ sie das Zimmer.
Als sie die Tür geschlossen hatte, wandte er sich an Penelope. Aber es fiel ihm schwer, zu sprechen.
»Neulich gab ich Ihnen eine Chance, nach Kanada zurückzukehren, und ich wünschte jetzt aufrichtig, Sie hätten von meinem Anerbieten Gebrauch gemacht. Jetzt können Sie nicht mehr nach Kanada oder sonstwohin gehen. Es gibt nur noch eine Möglichkeit für Sie, aber es ist alles andere als die, an die Cynthia denkt. Sie erinnern sich noch daran, was ich Ihnen auf dem Boot sagte?«
Sie nickte. Ihr Mund war trocken, und sie konnte kein Wort hervorbringen.
»Das ist der Ausweg, der Ihnen bleibt. Aber das bedeutet auch, daß wir irgendwie mit Cynthia fertig werden müssen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen – was habe ich denn getan?« fragte sie heiser.
»Sie haben etwas gesehen, was Sie nicht hätten sehen dürfen. Wenn Sie mehr darüber wüßten, was sich in diesem Land in den letzten zwölf Monaten ereignet hat, würden Sie nicht solche Fragen stellen. Ich habe Cynthia satt, das habe ich Ihnen schon früher gesagt. Und ich muß zwischen Cynthia und Ihnen wählen. Eine von beiden muß aus dem Wege!«
Sie starrte ihn entsetzt an.
»Aus dem Wege?«
»Ja.« Plötzlich stand er auf und trat dicht an sie heran. Sie war vor Schrecken wie gelähmt. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und seine Hand unter ihr Kinn. »Sieh mich an«, flüsterte er, und seine Augen leuchteten auf. »Ich ginge für dich aufs Schafott, wenn du das erlösende Wort sprechen würdest! Aber du mußt mir helfen – hörst du? Ich habe mich auf dem Boot zusammengenommen, aber du weißt nicht, was es mich gekostet hat, mich damals zu beherrschen. Ich sehne mich nach dir, Penelope!«
Als seine heißen Lippen die ihren berührten, brach plötzlich der Bann, der über ihr gelegen hatte. Sie stieß ihn zurück, wandte sich und eilte aus dem Zimmer in den dunklen Korridor. Sie faßte eben das Treppengeländer, als etwas ihr Gesicht berührte. Sie wußte, daß es ein seidenes Tuch war, noch ehe ihre Kehle damit zugeschnürt wurde. Sie versuchte zu schreien, aber der Laut wurde erstickt.
Sie war noch niemals ohnmächtig geworden und wußte auch nicht, daß sie das Bewußtsein verloren hatte, bis sie im Wohnzimmer wieder zu sich kam. Ihre Hände waren eng zusammengebunden.
»Wenn Sie schreien, soll es Ihnen leid tun«, sagte Cynthia. Ihr Gesicht sah eingefallen und verzerrt aus, ihre Augen schienen eingesunken zu sein. Penelope erkannte sie kaum wieder.
Sie sah sich um und entdeckte Arthur Dorban, der mit verschränkten Armen dastand und sie düster anschaute.
»Stehen Sie auf«, sagte Cynthia kurz, und Penelope erhob sich schwankend.
Cynthia sah auf ihre Armbanduhr, nahm dann das seidene Tuch vom Tisch, drehte es zusammen und steckte es in Penelopes Mund. Das Mädchen wußte, daß es zwecklos war, Widerstand zu leisten. Sie konnte nur warten und ihre Kräfte für den Endkampf sammeln. Sie versuchte vergeblich, ihre Hände aus den Fesseln zu ziehen.
Mrs. Dorban mußte ihre Absicht erraten haben, denn sie lächelte verächtlich.
»Sie strengen sich umsonst an. Lassen Sie mich einmal sehen.« Sie schaute hinunter. »Nein, die Seide wird keine Eindrücke zurücklassen«, sagte sie erleichtert. Sie nahm Penelope am Arm und führte sie zur Haustür.
»Warte!« rief Arthur heiser.
Cynthia wandte sich zu ihm um und blickte ihn haßerfüllt an.
»Ich werde zurückkommen und dann mit dir sprechen, Slico«, erwiderte sie leise.
Sie trat mit Penelope hinaus.
»Wenn Sie schwierig werden wollen, mache ich kurzen Prozeß mit Ihnen. Sehen Sie einmal her!«
Der Mond wurde durch dunkle Wolken verhüllt, aber es war hell genug, daß sie die schimmernde kleine Pistole in Cynthias Hand sehen konnte. Sie nickte, und sie gingen zusammen den Gartenweg hinunter durch das Tor in der Mauer. Cynthia hielt das Mädchen am Arm fest. Sie stiegen die Stufen hinab und machten erst auf dem flachen Felsen dicht bei dem Bootshaus halt.
Cynthia öffnete die Tür, die ins Innere führte. »Steigen Sie ein!«
Penelope gehorchte.
Es schien ihr alles wie ein böser Traum, und sie glaubte, sie werde jeden Augenblick erwachen. Und doch wußte sie ganz genau, daß es schreckliche Wirklichkeit war. Sie taumelte in das Boot, Cynthia folgte ihr, beugte sich vor, um die Vertäuung zu lösen, und warf den Motor an. Langsam glitt das Boot in die offene Bucht hinaus. Cynthia saß am Steuer, Penelope zu ihren Füßen, starr vor Schrecken.
Der Mond trat jetzt hinter den Wolken hervor und überstrahlte alles mit seinem blaßgelben Licht. Penelope konnte entlang der Küste die Leuchttürme sehen. Nur das rhythmische Geräusch des Motors unterbrach das tiefe Schweigen, das dort herrschte.
Etwa zwanzig Minuten lang fuhren sie mit größter Geschwindigkeit auf das offene Meer hinaus. Dann brachte Cynthia den Motor zum Stehen, ging nach vorn und kam mit einem Tau zurück, dessen eines Ende sie um Penelopes Taille legte und festknüpfte. Dann bückte sie sich und hob die eisernen Stäbe auf, die als Ballast auf dem Boden des Bootes lagen. Sie legte zwei schwere Stücke zu Penelopes Füßen und band sie daran fest.
Nun wurde dem Mädchen plötzlich klar, was die Frau beabsichtigte. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden, aber sie biß sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Sie mußte noch immer träumen, denn das konnte doch nicht wahr sein. Kein Mensch brachte es über sich, ein so teuflisches Verbrechen auszuführen. Und doch kam ihr zum Bewußtsein, daß Jahr für Jahr solche schreckliche Verbrechen begangen wurden. Aber das hier konnte einfach nicht wahr sein; die Gedanken versagten ihr – sie mußte aus diesem Traum erwachen!
»Ich werde Sie jetzt über Bord werfen. Wenn Sie ertrunken sind, ziehe ich Sie wieder heraus und nehme die Gewichte von Ihren Füßen.«
Penelope schrie auf vor Verzweiflung, aber der seidene Knebel erstickte ihre Stimme. Cynthia packte sie mit scharfem Griff und riß sie hoch. Einen Augenblick standen die beiden, Verbrecherin und ihr Opfer, nebeneinander. Penelope nahm ihre ganzen Kräfte zusammen und warf sich mit voller Gewalt gegen ihre Mörderin. Cynthia taumelte, griff mit der Hand in die Luft, schrie auf und fiel ins Wasser. Gleich darauf erschien ihr Kopf wieder auf der Wasserfläche, und sie streckte die Hände aus, um sich am Boot festzuhalten.
Penelope versuchte, sich nach vorne zu bewegen, aber die Eisen hinderten sie daran. Sie packte das Tau mit ihren geschwollenen Händen und zog sich mit aller Kraft daran weiter. Jetzt war sie in Reichweite des Schalthebels. Sie hörte das leise Geräusch des Motors. Mit größter Anstrengung drückte sie auf den Hebel und warf ihn herum – die Kielwelle sprang auf, und das Boot machte wieder Fahrt.
Sie schaute zurück – Cynthia schwamm jetzt. Sie erinnerte sich daran, daß Arthur ihr erzählt hatte, daß seine Frau wie ein Fisch schwimmen könne. Sie zog nun mit den Händen das seidene Tuch weg, das ihren Mund bedeckte, und atmete erleichtert in der kühlen Nachtluft auf. Sie zitterte an allen Gliedern, und ihr Kopf schmerzte. Zuerst mußte sie nun die schrecklichen Eisen von den Füßen entfernen. Sie setzte sich nieder und löste die Knoten mit den Fingern. Schließlich gelang es ihr, sich von den Gewichten zu befreien, aber ihre Hände waren noch gefesselt. Sie ließ den Motor mit voller Geschwindigkeit laufen. In einem der Fächer unter den Sitzen befand sich ein kleiner Kasten mit Geschirr, Bestecken und Tischzeug. Sie riß das Fach auf und fand ein Messer. Dann setzte sie sich auf den Boden, hielt das Messer mit den Füßen fest und sägte so den seidenen Strick durch.
Als sie zum Steuer zurückging, war ihr erster Gedanke, die gräßlichen Eisen über Bord zu werfen, und sie fühlte sich erleichtert, als sie im Wasser versanken. Cynthia konnte sie nicht mehr sehen, als sie nach der Küste zurückblickte.
Wohin kam sie? Aber sie fuhr in das offene Meer hinaus, ohne an Gefahr zu denken. Die große Gefahr lag ja nun hinter ihr. Sie wollte nur fort, weit fort!
Vielleicht konnte sie um Portland Hill herumfahren. Weymouth lag dort an der Küste, weit von Borcombe entfernt. Dieser Gedanke tröstete sie.
Sie hatte ihre Gedanken wieder gesammelt und durchsuchte nun das Boot nach Vorräten. Sie fand, daß genügend Benzin im Tank war, um einen ganzen Tag lang fahren zu können. Nahrungsmittel waren freilich nicht zu entdecken. Aber sie war ja so nahe am Lande, daß sie sich darüber keine Sorgen machte. Sie vermutete, daß es etwa elf Uhr war. Bei Tagesanbruch konnte sie in Weymouth eintreffen. Bis Mitternacht fühlte sie sich gar nicht müde, aber dann kam die Reaktion in Gestalt einer überwältigenden Erschöpfung, und sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. Aber plötzlich wurde sie wieder ganz wach, als sie sah, daß sie sich in einer dichten Nebelbank befand.
Wieder durchsuchte sie das Boot, diesmal nach einem Kompaß, aber es war keiner vorhanden. Das beste wäre gewesen, wenn sie gestoppt und Anker geworfen hätte, bis der Nebel sich verzogen hatte. Bevor sie in den Nebel eintauchte, hatte sie jedoch gerade noch gesehen, daß sie etwa auf der Höhe des Leuchtturms von Portland war. Da schien es ihr ziemlich einfach, an der Küste entlangzufahren; sie brauchte ja nur auf die Brandung zu lauschen. Sie brachte den Motor auf halbe Geschwindigkeit und fuhr weiter.
Als sie aus der Nebelbank herauskam, war aber kein Land mehr zu sehen. Am östlichen Himmel dämmerte es schon. Direkt rechts vor sich sah sie ein großes Schiff, das anscheinend auch aus einer der Nebelbänke herausgekommen war, die die Schiffahrt im Kanal im Sommer so stark behindern. Ihr Herz schlug schneller, denn sie fühlte, daß sie auf diesem Schiff in Sicherheit sein würde. Sie erhob sich und rief aus vollen Kräften.
Sie hörte eine Stimme auf der Kommandobrücke und wurde dann von einem Scheinwerfer geblendet, der das kleine Motorboot mit seinen grellen weißen Strahlen überflutete.
»Kommen Sie hinterschiffs an das Fallreep heran!« wurde ihr durch ein Sprachrohr zugerufen.
Sie brachte den Motor auf volle Fahrt und hielt auf das Schiff zu. Einige Minuten später legte sie neben einem schnell heruntergelassenen Fallreep an, und ein Matrose zog sie auf die kleine Plattform am Fuß der Treppe.
»Bringen Sie die Frau an Bord, aber stoßen Sie das Boot wieder in See!« wurde von oben heruntergerufen.
Penelope war halb ohnmächtig, als sie sah, daß der Matrose das Motorboot mit einem Fußtritt wieder ins Meer hinausdirigierte. Ihre Knie zitterten, als sie an Deck geführt wurde. Im Schein einer Lampe stand ein Mann vor ihr. Er war ungewöhnlich groß und trug einen dunkelvioletten Pyjama.
»Was ist denn los?« rief er.
Plötzlich erkannte Penelope ihn wieder.
»Ach, Mr. Orford«, rief sie und fiel schluchzend an seine Brust.
»Unglaublich!« murrte James Xenocrates Orford. »Zum Donnerwetter, was haben Sie denn auf meinem schönen Schiff zu suchen?«