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Mr. Hollin hatte sich an diesem Tage großartig amüsiert. Schon am Morgen hatte er Glück gehabt, denn er entdeckte, als er auf dem Schiff umherstreifte, in Mr. Orfords Kabine dessen Brieftasche. Sie lag auf dem Tisch. Während das Schiff vor Anker ging, war Mr. Orford an Deck gestiegen und hatte mehr beunruhigt als interessiert zugesehen, wie Penelope Pitt und John in dem Motorboot an Land fuhren. Hollin hatte sich inzwischen in die Kabine geschlichen und die Tasche untersucht. Das Ergebnis war befriedigend, denn sie enthielt zwanzig Fünfpfundnoten. Gleich darauf war er an Deck gekommen und hatte sich umgeschaut. Für alle Fälle war ein kleines Boot heruntergelassen worden. Hollin schlich sich heimlich hinein, und alles, was dann weiter folgte, war ebenso natürlich wie unvermeidlich. Er wechselte zwanzig Pfund in spanisches Geld um und spielte den großen Herrn in Vigo.
Einmal sah er auch John und Penelope in einem Wagen über den Marktplatz fahren, aber er versteckte sich eilig hinter einer Häuserecke.
Um zwei Uhr nachmittags war er schon vollständig betrunken und schlief in einer kleinen Weinschenke seinen Rausch aus. Der Eigentümer war sehr froh, daß er in seiner Wirtschaft blieb, denn die Anwesenheit eines so reichen Mannes versprach einen ertragreichen Abend.
Gegen Sonnenuntergang wachte Mr. Hollin wieder auf und hatte einen furchtbaren Durst. Eine Flasche Weißwein, die ein wenig nach Fichtenholz schmeckte, brachte ihn wieder in eine glückliche Stimmung. Er konnte nicht spanisch sprechen, aber das hinderte ihn in keiner Weise. Taumelnd ging er durch die dunklen Straßen. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, sein wüstes Gesicht war vom Wein erhitzt. Nun wollte er auf Abenteuer ausgehen.
Plötzlich hatte sich ihm ein Fremdenführer zugesellt, eines dieser niederträchtigen Individuen, die in jedem Hafen anzutreffen sind. Er redete ihn auf englisch an, und Mr. Hollin schloß sofort Freundschaft mit ihm.
»Auf Sie habe ich gerade gewartet«, sagte er. »Zeigen Sie mir einmal die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ich habe viel Geld in der Tasche, und ich möchte irgendwohin, wo es Mädel und Tanz gibt.«
Sie landeten denn auch in einem ziemlich wüsten Lokal, wo Männer Gitarre spielten und wenig bekleidete Mädchen spanische Tänze tanzten, die in einem weniger aufgeklärten und gesitteten Zeitalter einmal beliebt waren. Mr. Hollin saß an einem Tisch, auf dem mehrere Flaschen Rioja standen, daneben schlechter Whisky und billiger Champagner. Er hatte auf jedem Knie ein Mädchen sitzen und sang, so laut er nur konnte, ein sentimentales Lied von seiner ›alten Mutter‹.
Plötzlich näherte sich ihm ein Mann, der anscheinend kein Spanier war. Er war groß und schien in den mittleren Jahren zu stehen. Sein aufrechter Gang hätte Mr. Hollin gewarnt, wenn er etwas nüchterner gewesen wäre.
»Sind Sie Engländer?« fragte der Fremde und setzte sich an seinen Tisch.
»Ja, ich bin Engländer. Wenn Sie es genau wissen wollen, ich bin in Australien geboren. Trinken Sie einmal mit mir.«
Der Fremde schenkte sich ein Glas aus einer Flasche ein, auf deren Etikett ›Whisky‹ stand. Aber er verdünnte das giftige Zeug noch ausgiebig mit Wasser.
»Wie heißt denn Ihr Schiff?« fragte der Fremde scheinbar gleichgültig.
»Schiff? Was wollen Sie damit sagen?« Mr. Hollin runzelte die Stirn.
»Sie sind doch Matrose – nur Matrosen kommen nach Vigo.«
»Matrose? Hm – das bin ich und bin es auch nicht.« Mr. Hollin schluckte. »Ich bin ein Matrose, aber jetzt bin ich ein Passagier. Wer sind Sie denn überhaupt, mein Herr?« fragte er plötzlich unwirsch.
»Ich bin nur ein Reisender.«
»Na gut, dann reisen Sie von dannen«, sagte Hollin laut. Er war argwöhnisch geworden. »Kümmern Sie sich nicht um meine Angelegenheiten, die gehen Sie nichts an!«
»Tut mir leid«, erwiderte der andere mit einem ruhigen Lächeln. »Auf Ihr Wohl!«
Er nippte an seinem Glas. Mr. Hollin war nun wieder beruhigt und erzählte ihm mehr.
Es war ein ziemlich verworrenes Zeug, was er schwatzte. Nach einer Weile erhob sich sein Gast, entschuldigte sich und ging zu seinem eigenen Tisch zurück. Der Fremdenführer, der Mr. Hollin herbegleitet hatte, neigte sich zu ihm.
»Das war ein englischer Kriminalbeamter«, flüsterte er ihm zu.
Plötzlich wurde Mr. Hollin ganz nüchtern.
»Woher wissen Sie das?«
»Einer meiner Freunde hat heute morgen etwas für ihn übersetzt.«
Obgleich Hollin betrunken war, kam ihm der Gedanke, daß Gefahr im Verzuge sei.
»Ein Kriminalbeamter?« fragte er unangenehm überrascht. »Was hat denn der hier zu suchen?«
»Das weiß ich auch nicht. Er hat Nachforschungen nach einem Mann angestellt, der früher hier in Vigo lebte. Er ist schon seit mehreren Tagen hier.«
Hollin blinzelte durch den raucherfüllten Raum zu dem großen Mann hinüber, der offensichtlich in die Lektüre einer spanischen Zeitung vertieft war.
»Hören Sie einmal, mein Freund«, sagte er dann leise, »können Sie nicht herausbringen, wie der Kerl heißt? Ich glaube, ich kenne ihn.«
»Er hat einen merkwürdigen Namen – er heißt Spinner.«
»Zum Donnerwetter«, fluchte Hollin. »Ich wußte doch, daß ich ihn kenne!«
Er dachte nach, was er zu seiner Sicherheit tun konnte, soweit ihn sein geringer Verstand dazu befähigte. Schnell trank er sein großes Weinglas aus, winkte heimlich dem Kellner, zahlte seine Zeche und verließ mit dem Fremdenführer das Lokal. Er schaute noch einmal zurück und bemerkte, daß sich auch der Kriminalbeamte erhoben hatte und ihnen folgte. Er drückte dem Mann noch einen Geldschein in die Hand.
»Suchen Sie den Kerl in eine Unterhaltung zu verwickeln, ich muß jetzt einen Freund aufsuchen.«
Er lief die dunkle Straße hinunter, verirrte sich und versuchte vergeblich, auf die Hauptstraße zu kommen. Er sah sich in einem Labyrinth enger Gassen gefangen, und da er mit der Landessprache nicht vertraut war, konnte er sich nicht einmal nach dem nächsten Weg zum Hafen erkundigen. Er mußte allein sehen, wie er wieder zu seinem Boot kam.
Erst nach einer halben Stunde sah er endlich den Hafen und das Meer wieder vor sich. Er kam zu seiner Anlegestelle – niemand war zu sehen. Als er die kleine Steintreppe hinunterschaute, sah er sein kleines Boot auf den Wellen tanzen und atmete erleichtert auf.
Er wollte eben die Treppe hinuntergehen, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er war so aufgeregt und nervös, daß er vor Furcht einen lauten Schrei ausstieß.
»Es ist schon gut. Ich habe hier auf Sie gewartet, um ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen«, sagte Mr. Spinner. »Möglich, daß Sie mich nicht gesehen haben.«
»Nein, ich habe Sie nicht gesehen«, erwiderte Hollin atemlos. »Aber ich habe jetzt zu tun, ich habe keine Zeit, ich muß zu meinem Schiff.«
»Wie heißt denn Ihr Schiff?«
»Moss Rose«, log Hollin gewandt. »Von Swansea – das ist ein Hafen in Wales.«
Hollin kannte überhaupt nur diesen einen Schiffsnamen.
»Wie, Sie sind von der ›Moss Rose‹?« fragte Spinner nachdenklich. »Ich wußte gar nicht, daß die hier im Hafen liegt.«
Hollin machte einen Versuch, an dem Kriminalbeamten vorbeizukommen.
»Ich kann nicht länger bleiben – der Captain sagte, ich müsse an Bord sein.«
Aber er kam nicht weiter. Eine feste Hand packte ihm am Arm und zog ihn wieder hinauf.
»Sie kennen mich – ich bin Polizeiinspektor Spinner von Scotland Yard. Und Sie heißen Hollin.«
»Mein Name ist Jackson«, rief Hollin laut. »Ich weiß nichts von Scotland Yard.«
»Sie heißen Hollin, und ich werde Sie jetzt der spanischen Polizei übergeben«, erwiderte Mr. Spinner geduldig. »Wo ist denn eigentlich Ihr Freund? Es hat keinen Zweck, hier Spektakel zu machen. Sie sind doch ein vernünftiger Mann, und ich will zusehen, daß Ihnen nicht viel passiert.«
»Ich heiße Jackson«, widersprach Hollin hartnäckig und versuchte aufs neue, sich loszureißen.
Da ertönte eine schrille Pfeife, und plötzlich schien der ganze Platz von Polizeibeamten belebt zu sein. Mr. Hollin sah nun ein, daß es unmöglich war, zu entkommen, und ergab sich mit Ruhe in sein Schicksal.
»Nehmen Sie diesen Mann in Gewahrsam, Sergeant«, sagte Spinner auf spanisch. »Halten Sie ihn fest, während ich mir das Ruderboot einmal ansehe. Gewöhnlich steht doch der Name des Schiffes darauf.«
Aber zu Mr. Spinners größtem Erstaunen war das Boot, das er eben noch dort hatte liegen sehen, jetzt mitten auf dem Wasser. Es trieb scheinbar ohne Insassen auf die Mitte des Hafens zu. In dem Halbdunkel konnte er den Mann nicht sehen, der ausgestreckt im Boot lag und nur seine Hände als Ruder benützte.
Spinner kümmerte sich nicht weiter darum, sondern überließ es der Hafenpolizei, das Boot an Land zu bringen. Merkwürdige altmodische Handfesseln wurden Hollin angelegt. Er wurde in einen Wagen gesetzt und mußte so durch die Stadt fahren. Er fluchte und bereute seine Torheit, die ihm einen so bösen Streich gespielt hatte, während er schon von Freiheit und einem luxuriösen Leben in Südamerika geträumt hatte.
Ohne langes Verhör, wie er es sonst gewöhnt war, wurde er in ein Rückgebäude der Hauptwache gebracht. Eine Tür öffnete sich, und er stand in einer dunklen Zelle.