Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine kleine, unauffällige Gestalt drückte sich vor dem Hauseingang herum. Sie wartete offensichtlich auf eine günstige Gelegenheit, und als der Hausmeister einen Augenblick außer Sicht war, schlüpfte der Mann ins Haus und rannte die Treppenstufen hinauf.
Die Treppenbeleuchtung brannte, obwohl es früh am Morgen war. Der Tag war sehr trüb, aber auch die Birnen waren nicht von besonderer Stärke, so daß der düstere Hausaufgang eine Menge Schatten warf.
Der Mann erreichte da Costas Wohnung, ohne bemerkt zu werden, und drückte dort auf den Klingelknopf. Mit dem Ohr an der Tür lauschte er gespannt; als sich nichts rührte, zog er einen Brief aus der Tasche und schob ihn unter der Tür durch.
Nachdem er noch einige Zeit gelauscht hatte, als ob er auf irgendeine Antwort hoffte, huschte der Mann wieder die Treppe hinunter und war im Nu auf der Straße verschwunden.
In der Dämmerung kehrte er jedoch zurück, wandte dieselben Vorsichtsmaßregeln an und schlich zu da Costas Wohnung hinauf, wo er nochmals läutete. Als sich nichts regte, schob er wieder einen Brief unter der Tür durch und wartete. Kein Laut von drinnen ...
Nun nahm er aus seiner Tasche eine flache Dose Ölsardinen und stopfte sie durch den Briefkastenschlitz. Danach folgten auf dem gleichen Weg noch Brot, Butter und Käse, alles in kleinen flachen Paketen, die gerade noch durch die Öffnung gingen. Im nächsten Moment war er schon wieder die Treppe hinuntergehastet und wie ein Schatten durch den Hauseingang verschwunden.
Am nächsten Morgen kam er besonders früh. Als er aber diesmal seine seltsame Beschäftigung eben erledigt hatte und fortgehen wollte, wurde er entdeckt. Es war Miller, der von seinem Besuch bei Dr. Warden zurückkam. Auf der Lieferantentreppe, die der kleine Mann diesmal benützte, gingen sie aneinander vorbei. Aber Miller sah ihn nur ganz flüchtig an, da er anscheinend sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war.
Weldrake nahm einen Omnibus, der ihn in die Nähe von Sir Marshleys Haus brachte. Er ließ sich bei Sir Harry melden, hatte aber Schwierigkeiten, vorgelassen zu werden. Erst als er sagte, daß sein Besuch etwas mit den gegenwärtigen Sorgen Sir Harrys zu tun habe, wurde er vorgelassen.
»Zum Henker, was soll das eigentlich heißen?« fragte Sir Harry schroff, als er in das Zimmer trat, in dem der kleine Mann wartete. Er war außerordentlich schlechter Laune, denn er kam gerade von seinem zwecklosen Besuch bei Miss Martin und war durch die Lage, in der er sich befand, sehr beunruhigt. »Gegenwärtige Sorgen? Was für Sorgen?«
»Emil Loubas Tod«, versetzte der kleine Mann sanft wie immer.
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Nun, ich dachte, das würde einen beträchtlichen Verlust für Sie bedeuten«, bemerkte Weldrake.
»Zum Teufel mit der jungen Dame!« rief Sir Harry entrüstet aus. »Hat sie etwa meinen Namen schon überall genannt? Wäre besser gewesen, sie hätte ihren Freund mehr im Zaum gehalten – dann wäre Louba nicht ermordet worden, und ich brauchte nicht ...« Unvermittelt brach er ab. »Also, was wünschen Sie?«
»Tut es Ihnen nicht leid, daß Sie Mr. da Costa kürzlich abgewiesen haben?«
»Was soll das wieder heißen? Was soll mir leid tun?«
»Nun, da Costa kam doch zu Ihnen und machte Ihnen das Angebot, Sie an Stelle von Louba weiter zu finanzieren.«
Sir Harry starrte ihn an; der kleine Mann blinzelte ganz vergnügt.
»Wer sagt das, daß er hier gewesen ist?« brummte Marshley.
»Ich sah ihn kommen.«
»Wann?«
»An dem Abend, an dem Louba ermordet wurde.«
»Eine ganze Menge Leute kam an jenem Abend zu mir. Aber wenn er hier gewesen wäre – woher wollen Sie dann wissen, daß er mir einen Vorschlag gemacht hat?«
»Ich sah, wie er sich mit Ihnen unterhielt. Sie sprachen miteinander in dem kleinen Hinterzimmer im Erdgeschoß, und ich sah Sie beide durchs Fenster. Da Costa hat eine Masse Verpflichtungen Loubas übernommen ... Und deshalb erriet ich, was er von Ihnen wollte.«
»Oho, Sie sahen uns durch das Fenster! So war das also ... Und was hatten Sie dort zu schaffen?«
»Ich bin nur so umherspaziert.«
»Ach, tatsächlich? Gehen Sie öfters spazieren und schauen dabei andern Leuten in die Fenster?«
»Nur, wenn sie mit Louba in Verbindung stehen. Für den habe ich mich immer sehr interessiert«, erwiderte Weldrake völlig gelassen.
»Na, so was ist mir noch nicht vorgekommen!«
Sir Harry steckte die Hände in die Taschen und betrachtete seinen Besucher verblüfft.
»Vielleicht war es ganz natürlich, daß Sie da Costa so abweisend behandelten«, fuhr Weldrake fort. »Wahrscheinlich war er auch nicht sehr taktvoll. Und außerdem war er Ihnen ja fremd. Ich konnte sehen, daß Sie sehr zornig wurden. Immerhin ...«
»Hat Sie eigentlich da Costa, oder wie der Kerl heißt, zu mir geschickt?«
»Nein, nein«, entgegnete der kleine Mann hastig. »Ich komme durchaus auf meine eigene Veranlassung.«
»Und was wollen Sie?« fragte Sir Harry barsch.
»Nun, ich nahm an, da Louba nun tot ist und da Sie auf jeden Fall einen neuen Geldgeber brauchen, könnten Sie sich das Angebot da Costas vielleicht doch noch einmal überlegen.«
Sir Harry starrte ihn empört an, sagte aber nichts. Letzten Endes brauchte er ja tatsächlich Geld, und wenn dieser da Costa an die Stelle Loubas treten wollte, dann bedauerte er es jetzt ganz gewiß, ihn jemals schlecht behandelt zu haben.
»Hm – wenn ich mir also das Angebot nochmals überlege?« fragte er.
»In diesem Fall wäre es als eine Art Entschuldigung dafür, daß Sie ihm drohten, ihn für seine Frechheit durchs Fenster zu werfen – ich hörte, wie Sie das sagten –, vielleicht ganz gut, ihm einen Dienst zu erweisen.«
»Was für einen Dienst?« fragte Sir Harry argwöhnisch.
»Ich dachte daran ... nun, daß er vielleicht ein Versteck braucht ...«
»Ein Versteck?« Sir Harry riß vor Erstaunen den Mund auf. »Grundgütiger Himmel ... jetzt fällt mir erst ein, daß Louba bald darauf ermordet wurde, nachdem dieser da Costa bei mir war und mir erzählt hatte, daß ich bald ohne Loubas finanzielle Unterstützung sein würde!«
»Wissen Sie noch ganz genau, wie er sich ausdrückte?«
»Wie es auch war, er machte das Angebot nur, weil er wußte, daß Louba nicht mehr ...«
»... Ihnen von Nutzen sein konnte. Ich finde es geradezu aufmerksam von ihm, daran zu denken, daß Sie nicht auch noch in Mitleidenschaft gezogen werden«, erklärte Weldrake.
»Wissen Sie genau, daß er etwas mit dem Mord zu tun hatte?«
»Nein, natürlich nicht! Aber vor sehr langer Zeit hatte er eine heftige Auseinandersetzung mit Louba, und das brachte mich auf den Gedanken, daß es ihm unangenehm sein könnte, keinen Beweis dafür zu haben, wo er sich zur Zeit des Mordes aufhielt. Wenn Sie, Sir Harry, aussagen würden, daß er bei Ihnen war, wäre er Ihnen bestimmt sehr dankbar. Ich bin sicher, daß er dann gern alle Ihre Beleidigungen vergessen würde – zum Beispiel, daß Sie ihm drohten, ihn aus dem Fenster zu werfen.«
»Und Sie sagen, er braucht ein Versteck?«
»Behauptet habe ich das nicht – ich weiß es nicht einmal genau.«
»Sie haben aber mit ihm gesprochen, nicht wahr?«
»Nein, auch das nicht. Ich habe Briefe unter seiner Tür durchgeschoben, aber ich weiß nicht einmal, ob er sie bekommen hat.«
»Sie wissen also, wo er wohnt.«
»Ja, aber er ist angeblich oder wirklich verreist. Nur fiel mir ein, daß er, falls er nicht verreist ist, befürchten müßte, in den Verdacht der Täterschaft zu geraten. Aus dem Grunde hätte er sich bestimmt gern ein bis zwei Tage bei Ihnen versteckt, um dann von hier aus ins Ausland zu reisen.«
»Ist die Polizei schon hinter ihm her?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Und was haben Sie mit der ganzen Sache zu tun?« fragte Sir Harry beharrlich weiter.
»Ich bin lediglich ein Zuschauer. Ich dachte, wenn ich ihn davon informieren könnte, daß er ein Versteck haben kann, falls er es braucht, dann würde er meine Briefe beantworten und Ihre Gastfreundschaft gerne in Anspruch nehmen.«
»Warum nicht Ihre eigene Gastfreundschaft?« entgegnete Sir Harry grob.
»Meine Wohnung wird von der Polizei überwacht. Ich wohne in einer Pension am Finsbury Park.«
»Die Polizei sucht Sie also?«
»Nicht deshalb, weil sie mich vielleicht auch in direktem Verdacht hätte«, versicherte der kleine Mann hastig. »Aber ich bot Mr. Leamington an, ihn bei mir unterzubringen, da ich seine Verhaftung befürchtete, noch bevor sie erfolgt war.«
Sir Harry knurrte etwas und starrte ihn durchdringend an.
»Mein Gott, was sind Sie für ein braver Mensch – Sie wollen wohl aller Welt beistehen«, meinte er sarkastisch.
»Oh, wenn es mir möglich ist, bin ich immer gerne dienstbereit«, erwiderte Weldrake bescheiden.
Beide Männer schwiegen, während Sir Harry im Zimmer auf und ab ging.
Der Besucher saß auf der Stuhlkante und sah ihm zu. Die Hände hatte er wie ein artiges Kind auf die Knie gelegt, und seine Miene war von geradezu unendlicher Geduld und Gelassenheit.
»Wer ist dieser da Costa eigentlich?« fragte Sir Harry endlich.
»Er ist schon alles mögliche gewesen. Man kann ihn letzten Endes als einen zweiten Louba betrachten, nur daß er doch nicht gar so schlecht ist.«
»Ist er reich?«
»Es geht bei ihm auf und ab, wie bei den meisten Menschen, die ein – hm – abenteuerliches Leben führen. Gegenwärtig hat er, soviel ich weiß, ein äußerst ansehnliches Bankkonto. Übrigens hätte er ja gar keine Ursache, Ihnen eine Finanzierung anzubieten, wenn er nicht in der Lage dazu wäre.«
Wieder folgte ein längeres Schweigen.
»Vielleicht will er auch gar nicht hierherkommen«, bemerkte Weldrake dann nachdenklich. »Das Ganze ist ja nur so eine Idee von mir. Ich glaube sogar, daß er direkt aus der Wohnung entkommen kann, wenn er will. Andererseits ist es eben auch möglich, daß er gar nicht dort ist. Aber ins Auge fassen muß man diesen Fall ... Und deshalb dachte ich auch daran, daß Sie – falls man Sie danach fragt – aussagen könnten, daß er zur Zeit der Mordtat bei Ihnen war. Ich sagte Ihnen ja schon – dafür wäre er Ihnen bestimmt sehr dankbar. Es würde ein Alibi für ihn bedeuten!«
»Zweifellos.«
»Angenommen, ich kann mit ihm sprechen und kann ihm unseren Plan mitteilen ... Sie sind doch mit meinem Vorschlag einverstanden, Sir Harry? Sie haben mir noch keine klare Antwort gegeben.«
Sir Harry hatte mittlerweile seinen Entschluß gefaßt.
»Bevor ich nicht weiß, ob er schuldig oder unschuldig an diesem entsetzlichen Verbrechen ist«, entgegnete er salbungsvoll, »kann ich natürlich nicht daran denken, mich mit ihm in irgendeiner Form einzulassen, Allerdings, wenn ich von seiner Unschuld überzeugt wäre ...«
»Ich bin sicher, er wird Sie davon überzeugen können«, murmelte der kleine Mann eifrig.
»Dann bin ich natürlich in jeder Weise bereit, alles, was ich nur kann, für einen Mann zu tun, der sich in einer solchen Lage befindet. Wie dem auch sei, ich habe wirklich etwas an ihm gutzumachen, denn ich behandelte ihn tatsächlich sehr unhöflich, als er seinerzeit zu mir kam ...«
»Oh, schon gut, schon gut«, pflichtete Weldrake bei. »Er wird das vollkommen verstehen.«
»Ich danke Ihnen herzlich, Sir Harry. Jetzt brauche ich Sie nicht länger aufzuhalten.«
»Und wann ... Was werden Sie jetzt tun?«
»Ich werde versuchen, ob ich ihn nicht von meiner Freundschaft überzeugen kann. Dann werde ich ihm versichern, daß Sie sehr gerne alles tun werden, was in Ihrer Macht steht, falls er Hilfe benötigt. Außerdem werde ich ihm noch sagen, daß Sie sich genau daran erinnern, daß er zur Zeit des Mordes bei Ihnen war – soweit wir über den genauen Zeitpunkt der Tat etwas wissen.«
»Alles unter der Voraussetzung, daß er unschuldig ist«, ergänzte Sir Harry die Ausführungen Weldrakes.
»Aber selbstverständlich«, erwiderte Weldrake. »Er muß Sie von seiner Unschuld einwandfrei überzeugen können. Ich glaube aber kaum, daß es in diesem Punkt Schwierigkeiten geben wird. Auf Wiedersehen.«
Der kleine Mann verbeugte sich und verließ das Haus. Er schritt mit der zufriedenen Miene eines Geschäftsmannes, der einen glänzenden Abschluß getätigt hat, die Straße entlang.