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Um 6 Uhr zog Dr. Warden in seiner Wohnung in der Devonshire Street seinen Smoking an, da er sich mit einem alten Kollegen zum Abendessen verabredet hatte. Vorher wollte er aber noch den Besuch bei Louba erledigen. Unwillkürlich mußte er lächeln, als er sich Louba als Heiratskandidaten vorstellte. Trotz der vielen Fehler des Mannes hatte er ihm immer eine gewisse Zuneigung bewahrt.
Ein Taxi brachte ihn zum Braymore House. Als er dort ausstieg, fragte ihn der Portier sofort, ob er nicht Herr Doktor Warden wäre.
Der Doktor lächelte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis für Gesichter, so häufig war ich doch noch gar nicht hier.«
»Das stimmt«, antwortete der Mann geschmeichelt. »Erst heute morgen kam ein Herr zu mir, auf dessen Namen ich mich gleich wieder besinnen konnte, obgleich ich ihn seit dem Bau dieses Hauses nicht mehr gesehen hatte. Sicher kennen Sie ihn – Mr. Leamington, der Architekt.«
»Leamington?« interessierte sich der Doktor. »Was wollte er?«
»Oh, er wollte sich nur einmal ansehen, wie verschiedene Leitungen hier gelegt sind. Ich zeigte es ihm selbstverständlich gerne.«
Der Doktor nickte und fuhr dann mit dem Lift bis zu Loubas Wohnung. Er drückte auf den Klingelknopf, und die Tür wurde sofort geöffnet.
»Herr Dr. Warden? Bitte treten Sie näher.«
Auch der Diener mit dem hageren Gesicht erkannte ihn sofort wieder. Zur Überraschung des Doktors hatte er den Mantel an, und Miller erklärte auf seine Frage, daß er heute abend frei habe und eben weggehen wolle.
»Ich wollte nur noch warten, bis der andere Herr fort ist«, sagte er.
»Hat Ihr Herr Besuch?«
Miller zog die Brauen in die Höhe.
»Hm, Besuch ... Hören Sie sie nicht?«
Der Doktor hörte jetzt allerdings ganz deutlich Loubas hartes Organ und die heisere Stimme seines Besuchers, die ohne weiteres durch die zwei schweren Türen, die zwischen dem Vorplatz und Loubas Wohnzimmer lagen, drangen.
»So geht das schon seit einer Viertelstunde«, sagte Miller. Er warf einen finsteren Blick auf die Wanduhr. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, einen Moment hier auf dem Vorplatz zu bleiben, Herr Doktor? Meine Braut wartet unten auf mich.« Miller war etwas verlegen. »Ich möchte sie nicht gerne noch länger stehen lassen und werde mich mit ihr auf später verabreden. Entschuldigen Sie mich zehn Minuten, Sir.«
Es war jetzt drei Minuten nach sieben Uhr, und Dr. Warden überlegte einen Augenblick, da er um halb acht seinen Kollegen treffen wollte.
»Hören Sie nur!« sagte Miller ängstlich.
Die Stimmen der beiden Männer wurden immer lauter.
Der Doktor lauschte: »Sie wird tun, was ich will!« schrie Louba.
»Gehen Sie, Miller«, sagte Dr. Warden. »Aber bleiben Sie bitte nicht länger als eine Viertelstunde fort.«
Miller schlüpfte hocherfreut aus der Tür. Nach genau vierzehn Minuten war er wieder zurück. Der Doktor saß an einem Tischchen und las. Der Lärm der Streitenden hatte aufgehört.
»Sagen Sie Mr. Louba bitte, daß ich nicht länger warten kann«, brummte Warden und faltete seine Zeitung zusammen. »Der Besucher ist sicher fortgegangen, seit fünf Minuten habe ich keinen Ton mehr gehört.«
Der Diener ging zur Wohnzimmertür, und Warden hörte, wie er anklopfte. Niemand antwortete. Miller zuckte die Schultern und drehte sich um.
Dr. Warden trat ungeduldig neben ihn und rief: »Louba!«
Keine Antwort.
»Bestimmt ist er im Schlafzimmer«, erklärte Miller. »Wahrscheinlich hat er gerade einfach keine Lust, Sie zu empfangen. Solche Launen hat er öfters.«
»Ich habe den Besucher gar nicht fortgehen sehen«, sagte der Doktor.
»Einen Augenblick, Sir.« Miller sauste den Korridor entlang bis zur Küche; ein schmaler Gang führte dort bis zu einer Tür, die sperrangelweit aufstand. Sie führte auf eine steinerne Treppe, den Lieferantenaufgang des Hauses.
»Er muß diesen Weg benützt haben. Dort kam er auch herauf. Und das ist mir schon aufgefallen.«
»Wie sah er denn ungefähr aus?«
»Ungefähr fünfunddreißig, nicht gerade elegant angezogen, machte aber einen ganz guten Eindruck ... Nur schien er mir etwas angetrunken zu sein. Ich sah ihn nur ganz flüchtig, denn Mr. Louba hatte ihn anscheinend erwartet und führte ihn sofort in die Bibliothek.«
Der Doktor schaute auf seine Uhr. »Ich muß gehen. Falls mich Mr. Louba noch sprechen will, können Sie mich telefonisch im Elect Club erreichen.«
Als Warden in den Club kam, fand er dort die Nachricht vor, daß sein Kollege abgesagt hatte.
Er schlenderte in den Speisesaal und traf dort Hurley Brown. Der Captain begrüßte ihn erfreut.
»Setzen Sie sich doch zu mir. Ich langweile mich gräßlich. Na, wie geht's, Louba?«
»Nun, ich war bei ihm, aber unser Freund hatte mit irgend jemand Streit und konnte oder wollte mich nicht empfangen.«
»Wissen Sie, ich kann einfach die Zeit nicht vergessen, in der ich mit meinem Regiment in Malta lag«, entgegnete der Captain. »Louba betätigte sich damals unter anderem als Geldverleiher und machte fast die ganze Offiziersmesse bankrott. Mir wird regelmäßig ganz übel, wenn ich ihn hier im Club sehe – noch dazu als Mitglied. Und wenn ich erst daran denke, daß er Franks Braut heiratet!«
Der Doktor stieß ihn an, und Brown schaute auf. Frank Leamington war eben eingetreten.
Er war totenblaß und schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. Aufgeregt schritt er quer durch das Zimmer zu den Bücherregalen, die die eine Wand des Raumes einnahmen. Er zog eines der Nachschlagewerke heraus, blätterte hastig darin und ging, nachdem er anscheinend das Gesuchte gefunden hatte, wieder hinaus.
Hurley Brown stand auf und betrachtete das Buch. Es war ein Fahrplan.
»Möchte nur wissen, wo Frank hin will«, murmelte er.
Um neun Uhr dreißig brach Hurley Brown auf. Der Doktor verabschiedete sich von ihm und sagte, daß er noch einmal bei Louba vorbeischauen wolle. »Vielleicht hat er sich inzwischen von seinem Wutanfall erholt«, brummte er.
In Braymore House ließ sich Warden vom Portier in den zweiten Stock hinauffahren. Der Portier begleitete ihn bis zur Wohnungstür und verließ ihn erst, als er auf die Klingel gedrückt hatte. Im dritten Stockwerk mußte jemand auf den Aufzugsknopf gedrückt haben, denn auf der Schalttafel leuchtete das betreffende rote Lämpchen auf. Der Portier fuhr hinauf, war aber sofort wieder zurück, da im dritten Stock kein Mensch zu sehen war.
»Macht niemand auf, Sir?«
»Nein, und mir fällt gerade ein, daß der Diener ja höchstwahrscheinlich ausgegangen ist«, meinte Dr. Warden.
»Wahrscheinlich hat er den Lieferantenausgang benutzt«, sagte der Portier. »Das tun die Leute hier im Haus sehr häufig.«
Dr. Warden ließ sich wieder hinunterfahren und blieb vor der Portierloge einen Moment stehen, um auf die Uhr zu sehen.
»Drei Viertel zehn«, sagte er. »Ihre Uhr scheint stehengeblieben zu sein.«
Der Portier nickte mit dem Kopf.
»Ja, heute mittag war etwas los mit ihr.«
Dr. Warden trat in die naßkalte, neblige Nacht hinaus. Als er auf sein wartendes Taxi zuschritt, streifte ihn ein junger Mann. Das trübe Licht einer Straßenlaterne beleuchtete eine Sekunde lang sein Gesicht.
Es war Frank Leamington!
Der Doktor blieb stehen und sah sich um. Kein Zweifel – es war Leamington. Warden erschrak furchtbar, als ihm plötzlich ein Gedanke kam.
Der Mann da mußte Louba tödlich hassen! Warum war er hier? Angenommen, daß er sich an Louba rächen wollte ...? Ein unsinniges Unternehmen, aber in seiner Situation ... Der Doktor machte einen Schritt in der Richtung, in der Frank verschwunden war, zuckte dann aber schließlich doch die Schultern und zündete seine Pfeife an. Wahrscheinlich weiter nichts als ein zufälliges Zusammentreffen, versuchte er sich zu beruhigen.
Im Club saß Hurley Brown schon wieder vor dem Kaminfeuer.
»Für Sie ist eine Nachricht da«, sagte er zu Warden.
Der Kellner reichte ihm einen Zettel, und Dr. Warden las laut vor:
»Merkwürdig! Er muß mich, gleich nachdem ich Braymore House verlassen habe, angerufen haben.«
»Soll sich zum Teufel scheren!« knurrte Hurley Brown.
Rauchend saßen sie sich ziemlich schläfrig gegenüber.
Um Viertel nach zehn sprang der Doktor endlich auf.
»Kommen Sie, Brown, gehen wir. Die Clubdiener wollen auch mal schlafen.«
Sie ließen sich gerade in die Mäntel helfen, als ein Anruf für Dr. Warden kam.
Warden meldete sich und hörte die Stimme Millers, der anscheinend furchtbar aufgeregt war.
»Was ist los?« fragte der Doktor.
»Mr. Louba ... ich glaube ... ich glaube ... er ist tot.«