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19

Millionen Menschen lasen an jenem Morgen interessiert und mit angenehmem Nervenkitzel in der Zeitung den Bericht über die Mordaffäre Louba. Ein Mann aber las ihn mit zitternden Händen und aschgrauem Gesicht.

Charles Berry war ein von der Natur nicht gerade bevorzugter Mann von fünfunddreißig Jahren. Seine Gesichtszüge waren nicht sehr vertrauenserweckend, und seine niedrige Stirn, das eckige, schwere Kinn und die breite Nase verstärkten diesen Eindruck. Buschige schwarze Augenbrauen, die über den kleinen, eng beieinander stehenden Augen zusammenliefen, machten ihn auch nicht liebenswerter.

Zusammengekauert saß er gerade in einem Sessel im obersten Stockwerk des Wilberbaun Temperance Hotels, biß an seinen Nägeln und studierte die Zeitung, die er ausgebreitet vor sich liegen hatte.

»Genannt ›Charlie‹«, murmelte er.

Dann stand er auf, ging sichtlich verstört durch das Zimmer und stieß eine Tür auf.

»Louba ist tot«, flüsterte er heiser.

Eine Frau saß dort am Fenster, die Arme auf den breiten Sims aufgestützt. Trotz ihres verlebten Gesichts konnte man sie noch hübsch nennen, wenn sie auch viel zuviel Puder aufgetragen hatte und die Lippen übertrieben rot geschminkt waren. Sie drehte sich nach Charles um und schaute ihn gleichgültig an.

»Wahrscheinlich lügst du«, sagte sie. »Falls er aber wirklich tot ist, dann hoffe ich, er ist in der Hölle.«

Mit einem Sprung war er bei ihr, packte ihren Arm und riß sie hoch.

»Das hoffst du, so, so!« schrie er sie wütend an und schüttelte sie grob hin und her. »Ohne ihn können wir nicht leben! Was willst du denn jetzt anfangen? Bei deiner Häßlichkeit zahlt dir kein Mensch mehr etwas dafür, wenn du in der Bojida singst ...«

»Ich werde arbeiten«, sagte sie.

»Ja, höchstwahrscheinlich! Das sieht dir gerade ähnlich! Schau her – lies das da.«

Er stopfte ihr die Zeitung in die Hand und starrte sie an.

»Das geht auf dich. Hast du ihn getötet, wie?« fragte sie.

Noch wütender geworden, brüllte er sie an und schüttelte sie, bis sie die Augen schloß und schwer atmend zurücksank.

»Frag mich das noch einmal, du idiotisches Frauenzimmer! Frag mich das noch einmal, und ich zeige dir, was ich tun werde. Ich vergifte dich – hörst du? Charlie Berry hat seinen alten Beruf noch nicht vergessen.«

»Oh, ich wünsche mir nichts sehnlicher als das«, stöhnte sie und hielt sich krampfhaft aufrecht. »Ich weiß nicht, wie ich es all diese Jahre ausgehalten habe. Und jetzt gibt es keinen Ausweg mehr, nachdem er tot ist.«

»Es gibt keinen Ausweg!« erklärte er. »Auch für mich gibt es keinen ... Habe ich dich nicht geheiratet? Habe ich dich nicht aus dem Schmutz gezogen und eine anständige Frau aus dir gemacht?«

»Hättest du es doch unterlassen«, sagte sie bitter und lehnte sich wieder auf das Fensterbrett.

Er stierte sie an.

»Jetzt ist die Gelegenheit günstig, wenn du etwas verdienen willst«, höhnte er. »Wenn du entfliehen willst, dann geh hin und erzähle einer gewissen Person, was du bist und was du gewesen bist.«

»Du weißt, daß ich das nicht kann – und du weißt auch, daß du vor Angst sterben würdest, wenn ich es täte«, entgegnete sie achselzuckend. »Ich bin an dich gefesselt. Nichts auf der Welt kann uns trennen.«

Er hatte mittlerweile die Zeitung wieder aufgehoben.

»Die Polizei wird ganz London nach mir durchstöbern. Er hatte deine Briefe, und sie werden sie schon gefunden haben.«

Eine Sekunde lang war ein Schimmer von Hoffnung in den Augen der Frau sichtbar.

»Er zeigte sie mir«, fuhr Berry fort. »Warf sie mir ins Gesicht und lachte mich aus. Ich konnte das Geld nur bekommen, indem ich darum bat wie ein Bettler. Er sagte, du müßtest nach Rumänien zurück.«

»Ich gehe nicht, niemals«, sagte sie heftig. »Du kannst mich töten, aber ich gehe nicht. Wenn du nur noch für fünf Pfennige Anstand hast, dann kannst du mich nicht in dieses Höllenleben nach Rumänien zurückschicken.«

Charles Berry stocherte nachdenklich in den Zähnen herum. Sein Mut kehrte langsam wieder zurück.

»Es ist nur gut, daß ich das Geld habe«, sagte er dann. »Aber auf jeden Fall werden wir uns davonmachen müssen. Das halbe Hotel wird mich nach der Beschreibung erkennen.«

»Wo können wir hin?«

»Nach Deptford. Ich kenne dort einen Mann, der mir zwei Zimmer vermieten wird. Am gescheitesten wäre es gewesen, sofort dort hinzuziehen... Habe es dir ja gleich gesagt.«

»Und wann wollen wir gehen?« fragte sie mißtrauisch.

»Jetzt. Gegen elf Uhr fährt ein Zug. Dem Portier hier erklärte ich sowieso, daß wir nur ein paar Tage bleiben würden. Pack den Koffer, los.«

Er überließ ihr das Zusammenraffen der wenigen Habseligkeiten und vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Bald wünschte er, er hätte es nicht getan. Je öfter er den Bericht las, desto eindringlicher kam ihm der Gedanke an die Gefahr, in der er selbst schwebte.

Seine Frau schleppte einen Koffer in das Zimmer, der für sie viel zu schwer war. Sie hatte ihren Mantel schon angezogen und trug einen Hut mit schwarzem Schleier.

Ein Taxi brachte das Paar nach dem Great-Northern-Bahnhof. Von dort fuhren sie mit der Untergrundbahn bis Ferringdon Street, wo sie in den Zug nach New Cross umstiegen.

In Deptford angekommen, gingen sie sofort in die Linie Kirk Street, wo die Bekannten Berrys wohnten. Es war eine armselige Straße, mit alten, baufälligen Häusern, in denen oft bis zu fünf Familien zusammengepfercht waren.

»Hier ist es – wir sind da.«

Berry klopfte an einer Haustür. Sie wurde gleich danach von einem unrasierten Mann in einer zerrissenen Strickjacke geöffnet.

»Hallo, Charlie. Was hast du denn wieder ausgefressen?«

Der Mann hielt eine Zeitung in der Hand und klopfte mit seiner schmutzigen Tatze bedeutungsvoll darauf.

»Laß uns erst mal herein. Ich erzähle dir die Sache dann schon noch«, flehte ihn Berry an. Der Mann machte zögernd Platz und ließ sie eintreten.

»Entweder du bleibst hier im Haus und läßt dich vor niemand sehen oder du kannst überhaupt nicht hierbleiben«, knurrte er. »Du und deine Frau. Ich will keine Unannehmlichkeiten haben.«

Er nahm der Frau den Koffer aus der Hand, und sie war sehr dankbar, daß er ihn die Stufen der steilen Treppe emportrug. Es war nur ein einziges Zimmer frei, das zwar ziemlich geräumig, aber auch außerordentlich vernachlässigt und schmutzig war.

Berry ließ seine Frau dort allein, während er mit seinem Gastgeber eine erregte Debatte führte. Unterdessen betrachtete sie völlig gleichgültig das elende Zimmer, die schmutzigen Abfälle und die Kehrichthaufen im Hof. Selbst die rumänische Hauptstadt war noch ein Paradies gegen dies hier, aber trotzdem fühlte sie sich hier wohler – soweit ihr das noch möglich war. In Bukarest hatte sie die wohl schlimmste Zeit ihres Lebens hinter sich gebracht.

Sie hatte aufgehört, sich selbst leid zu tun. Siebenundzwanzig Jahre war sie inzwischen geworden, aber manchmal fühlte sie sich wie hundert. Wenn ... Doch es hatte ja keinen Wert, die Zeit, in der es noch ein ›Wenn‹ gegeben hatte, war vorüber.

Kurz darauf hörte sie die Schritte ihres Mannes auf der Treppe. Er kam herein und schloß die Tür hinter sich. Wenn sein Gesicht am Morgen grau ausgesehen hatte, so war es jetzt kalkweiß. Er zitterte an allen Gliedern, und die Zeitung, die er in der Hand hielt, raschelte hörbar.

»Kate, um Himmels willen, weißt du, wer die Untersuchung des Falles in die Hand genommen hat?« In seiner Angst konnte er plötzlich fast freundlich mit ihr reden.

»Die Untersuchung in der Mordsache Louba?«

»Ja, ja. Oh, warum bin ich nur nach London zurückgekommen«, stöhnte er. »Warum nur? Ich hätte in jeder beliebigen Stadt bleiben und mir schlecht und recht meinen Lebensunterhalt verdienen können. Du nur bist schuld daran, nur du allein! Warum hast du mich hierher zurückgeschleift?« schrie er wie ein Verrückter und kam mit geballten Fäusten auf sie zu.

Sie wich vor ihm in eine Ecke zurück, aber er rührte sie nicht an. Kraftlos ließ er plötzlich die Hände heruntersinken und blieb keuchend stehen.

»Wer leitet denn die Untersuchung?« fragte sie.

»Hurley Brown – kein anderer! Hurley Brown!«

Einen Augenblick lang schaute sie ihn verständnislos an. Dann schluchzte sie auf und warf sich über das Bett. Dort lag sie und weinte, während er sie wortlos anstarrte.


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