Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dr. Warden ging wieder an seine Versuche. Als sie beendet waren, legte er seinen weißen Labormantel ab und suchte sein Konsultationszimmer auf. Nach einigen Stunden angestrengter Arbeit rief ihn Brown an und berichtete ihm die letzte Entwicklung der Dinge.
An diesem Nachmittag aß er im Club.
Hurley Brown war zwar nicht da, aber er hörte von einem der Diener, daß Frank Leamington im Haftprüfungsverfahren dem Polizeigericht in der Bow Street vorgeführt worden war und daß er jetzt unter Mordverdacht in Untersuchungshaft saß.
Dr. Warden hatte an diesem Nachmittag nichts mehr in seiner Praxis zu tun. Nach dem Essen fuhr er zum Edwards Square. Er hatte den Fuß eben auf die Treppe von Nummer 903 gesetzt, als sich die Tür öffnete und Sir Harry Marshley herauskam. Auf Sir Harrys Gesicht lag ein Ausdruck ausgesprochenen Trübsinns.
»Guten Tag, Doktor«, knurrte er. »Hoffentlich haben Sie mehr Erfolg mit der jungen Dame als ich. Ich habe niemals eine krassere Undankbarkeit angetroffen.«
Dr. Warden kannte Marshley nur oberflächlich. Er war einmal in seiner Sprechstunde gewesen.
»Mir ist gar nicht bekannt, daß Miss Martin einen besonderen Grund dazu hätte, Ihnen dankbar zu sein, Sir Harry«, sagte er trocken. »Aber es interessiert mich sehr, warum sie undankbar sein soll?«
»Ich bat sie, meinen Namen unerwähnt zu lassen, und sie weigerte sich ganz entschieden«, sagte Sir Harry bitter. »Dabei setzte ich ihr doch so schön auseinander, daß sie es ›ihrer Mutter zuliebe‹ tun solle.«
»Oh, ich bin sicher, daß Ihre Fürsorge bei Miss Martin auf größtes Verständnis gestoßen ist«, entgegnete der Doktor spöttisch. »Um was handelt es sich eigentlich, Marshley?«
Der Mann mit dem trübsinnigen Gesicht zuckte die Schultern.
»Ich bin ruiniert«, erklärte er düster. »Die Polizei drang gestern abend bei mir ein und machte eine Art Razzia. Das allein ist schon katastrophal genug. Aber wenn Sie noch dazu bedenken, Doktor, daß jetzt meine Geldquelle endgültig und für immer verstopft ist, dann können Sie sich vorstellen, wie ich mich fühle.«
»Louba hat Sie also finanziert?«
»Natürlich hat er mich finanziert«, erwiderte der andere, ärgerlich darüber, daß eine solche Frage überhaupt noch gestellt wurde. »Sie nehmen doch nicht etwa an, daß ich Geld für ein großes Haus und eine Menge Angestellter übrig habe? Meine Frau befindet sich in heller Aufregung. Seit gestern abend weint sie unaufhörlich. Es ist ein schwerer Schlag für mich.«
Er ging zu seinem wartenden Auto, und Dr. Warden klopfte an die Tür.
Das Mädchen, das ihm öffnete, erklärte, Miss Martin empfange keine Besucher. Trotzdem sandte er ihr seine Karte, und nach wenigen Minuten kam Beryl selbst. Sie sah übermüdet und sehr blaß aus.
»Ich habe Mutter alles erzählt«, sagte sie. »Wäre ich nur vernünftig genug gewesen, es ihr schon, vorher zu sagen ich hätte mir viel Kopfzerbrechen erspart. – Sie waren nicht bei der Verhandlung?«
»Nein«, erwiderte der Doktor. »Waren Sie dort?«
»Ja«, anwortete sie. »Es war eigentlich nur eine Formsache – die Verhaftung betreffend.«
»Das ist mir durchaus klar«, sagte Dr. Warden rasch. »Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich Sie fragen wollte, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Glücklicherweise besitzt Frank genug Geld für seine Verteidigung. Soviel ich höre, hat er Sir Carthew Barnet als Anwalt gewählt. Aber wie steht es mit Ihnen?«
Sie lächelte flüchtig.
»Danke, Herr Doktor, wir kommen schon aus mit unserem Geld. Aber es ist sehr freundlich von Ihnen, danach zu fragen. Allerdings – wenn ich die Schuldscheine zahlen will, und ich glaube, ich bin moralisch dazu verpflichtet, dann sind wir natürlich ruiniert.«
»Hat Sie Louba eigentlich jemals näher ins Vertrauen gezogen? Hat er Ihnen jemals etwas aus seiner Vergangenheit erzählt?«
»Nur einmal«, sagte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Sie dürfen nicht vergessen, daß ich ihn erst vor einem Monat kennenlernte.«
»Sprach er jemals von irgend jemand, den wir beide kennen?«
Sie sah ihn schnell an und nickte.
»Ja, ich erinnere mich, daß er sagte, hier in London sei ein Mann, der ihn hasse – der einzige Mann, der ihm jemals über gewesen sei. Das sind seine eigenen Worte. Alle Einzelheiten der Geschichte kenne ich nicht, aber anscheinend war Mr. Louba vor vielen Jahren einmal Geldverleiher. Und als solcher hatte er die Schuld daran, daß ein junger Mann so in Schwierigkeiten geriet, daß er sich erschoß. Der junge Mann war Soldat, und irgend jemand n seinem Regiment machte sich an die Arbeit und hätte Louba fast zu Fall gebracht er erreichte sogar, daß Louba von der Insel ausgewiesen wurde. In erinnere mich noch daran, obwohl er mir nie sagte, um welche Insel es sich handelte.«
»Es war Malta«, entgegnete der Doktor nachdenklich. »Hat er den Namen des Mannes, der ihn haßte, etwa nicht erwähnt? Sie wissen ihn doch – nicht wahr – Miss Martin?«
Sie schaute zu Boden.
»Ich möchte den Namen nicht nennen«, sagte sie leise. »Es wäre im Augenblick bestimmt nicht angebracht.«
»War es Hurley Brown?«
Sie sah ihn ernst an.
»Ich frage Sie ganz im Vertrauen«, sagte er. »Und ich versichere Ihnen, daß ich jedes Wort, das wir miteinander sprechen, ganz für mich behalten werde.«
»Sie haben recht – es war Mr. Brown«, anwortete sie. »Aber das Ganze muß schon sehr lange her sein. Noch bevor Captain Hurley Brown in den Polizeidienst übertrat.«
»Tatsächlich verhält es sich so, daß er bald nach diesem Vorfall zuerst als Polizeibeamter in Malaya tätig war«, verbesserte sie der Doktor. »Dann nahm er seinen Abschied und kam vor zehn Jahren nach England zurück, um hier einen kleinen Landbesitz zu bewirtschaften. Irgend etwas passierte damals, und er kehrte nach Indien zurück, trat in den dortigen Polizeidienst ein und wurde schließlich von Scotland Yard nach England zurückberufen.«
»Mr. Louba hat mir nichts weiter erzählt«, sagte das Mädchen. »Nur das noch, daß es ihm ein großes Vergnügen bereite, mit Mr. Brown im selben Clubzimmer zusammenzusitzen, mit dem Bewußtsein, daß ihn der Captain verabscheue. Ach, das alles ist mir ja gar nicht wichtig ... Glauben Sie, daß wirklich die Gefahr besteht, daß Frank verurteilt wird, Herr Doktor?«
Dr. Warden strich sich über das Kinn, seine grauen Augen schauten das Mädchen freundlich an.
»Ich glaube nicht, daß es zu einer Verurteilung kommt«, sagte er. »So viele Faktoren sind noch in Betracht zu ziehen. Die Polizei ist beispielsweise schon fest davon überzeugt, daß Frank unmöglich das Fenster zu Loubas Schlafzimmer von außen geöffnet haben kann. Schon aus diesem Grund hat Franks Erzählung viel Wahrscheinlichkeit für sich. Außerdem ist es ein Vorteil für ihn, daß er vollkommen frei und offen über alles berichtet hat. Es besteht nicht der leiseste Zweifel, daß er das Fenster geöffnet vorfand. Louba selbst kann es nicht aufgemacht haben, denn es war ja eine außerordentlich kalte Nacht, und nach Millers Angaben öffnete Louba abends das Fenster überhaupt nie. Franks Erzählung ist also wahr. Natürlich war es verrückt von ihm, daß er überhaupt in Loubas Wohnung eindrang. Ich befürchtete es ja gleich, als ich ihn in jener Nacht sah ...«
»Wer hat den Mord begangen, Herr Doktor?« fragte Beryl rasch.
Dr. Warden blieb stumm.
»Haben Sie einen Verdacht?«
»Ich habe mehr als einen Verdacht«, antwortete er.
*
Der Doktor traf Hurley Brown an jenem Nachmittag kurz im Club, aber es gab nicht viel Neues.
»Trainor ist nun auch von Franks Unschuld überzeugt«, sagte Brown. »Nein, ich habe ihm das nicht klargemacht, er kam ganz allein zu diesem Schluß. Wahrscheinlich wäre er schon länger daraufgekommen, wenn ich Frank nicht ständig verteidigt hätte.«
»Haben Sie ›Charlie‹ gefunden?«
Brown schüttelte den Kopf.
»Wenn der verflixte Nebel in der bewußten Nacht nicht so stark gewesen wäre, hätte ich ihn sicher gefaßt«, sagte er.
Dr. Warden zog die Stirn kraus.
»Also stimmt es, was Miller sagt: Sie waren hinter ›Charlie‹ her! Warum?«
»Ich möchte Ihnen das lieber nicht erklären, Warden«, sagte Brown. »Es ist allerdings wahr, daß ich kurz nach dem Verlassen des Clubs eine gewisse Person zu erkennen glaubte.«
Er hielt inne.
»Wen glaubten Sie zu erkennen?« fragte der Doktor geduldig.
»Das werde ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls folgte ich dem Mann, um festzustellen, wo er wohnte. Ich sah ihn Braymore House betreten und bemerkte ihn wieder beim Herauskommen. Ich nahm sofort seine Verfolgung auf, mußte aber nach einiger Zeit feststellen, daß ich einem verkehrten Mann nachlief. Seitdem ist er verschwunden. Was hat Ihnen Miller erzählt?«
»Er erkannte Sie«, sagte der Doktor, »und sein Verdacht wurde durch den Diener im darunterliegenden Stockwerk bestätigt. Ich glaube, Brown, es ist besser, Sie überlassen die eigentliche Detektivarbeit Ihren Mitarbeitern.«
Hurley Brown gab keine Antwort. Er ging in sein Büro, wo Trainor auf ihn wartete.
Etwas in Trainors Verhalten ärgerte ihn. Sein Benehmen ihm gegenüber hatte eine leichte Veränderung erfahren. Wußte der Detektiv vielleicht, daß er in der Mordnacht in der Nähe von Braymore House gesehen worden war? Der Gedanke war ihm nicht angenehm.
»Ich lieh mir in einem Filmatelier eine große Lampe aus und habe sie in der Wohnung anbringen lassen, Herr Kommissar«, meldete Trainor. »Das Licht in der Wohnung war außerordentlich schlecht.«
»Haben Sie etwas Neues gefunden?«
»Eine ganze Menge. In der Vorhalle sind Blutflecke. Aber am bemerkenswertesten ist wohl, daß der Mörder durch den Haupteingang der Wohnung fortging und nicht über die Feuerleiter oder die Lieferantentreppe. An der inneren Türfüllung kann man deutlich einen schmierigen Flecken entdecken. Ich bin sicher, daß es Blut ist. Außerdem habe ich schwache Spuren an einem Handtuch im Badezimmer gefunden. Dies ist sehr wichtig. Wenn man Miller glauben darf, hat er frische Handtücher ins Badezimmer gehängt, nachdem Louba an jenem Abend sein Bad genommen hatte. Die Handtücher werden in einem kleinen Schrankkasten aufbewahrt, und als wir diesen durchstöberten, fanden wir das benutzte Tuch schön gefaltet und weggelegt unter einem Dutzend anderer. Es war noch ganz feucht.«
»Der Fall wird immer verworrener«, sagte Brown. »Wie steht's mit Miller?«
»Miller kann sehr wohl seine Hand im Spiel gehabt haben. Meine eigene Theorie ist, daß der Mord zwischen sieben und neun Uhr verübt wurde. Dr. Warden, der vor der Tür saß, erklärt, daß es im Zimmer plötzlich ruhig geworden sei. Dadurch wurde er veranlaßt, noch aufmerksamer zu lauschen – aber er hörte keinen einzigen Laut mehr. Auch merkte er nicht, daß Charlie die Wohnung verließ. Was ist naheliegender, als daß Charlie über die Feuertreppe verschwand? Falls er auf diesem Weg aus der Wohnung fortging, während Louba noch am Leben war, dann hätte der letztere bestimmt das Fenster geschlossen – er fürchtete sich doch so vor Erkältungen. Falls Louba aber tot war und Charlie, vielleicht mit einem Komplicen, als Mörder in Betracht kommt, dann waren sie höchstwahrscheinlich in der größten Eile, so daß sie das Fenster offenstehen gelassen hätten. Unmöglich wäre es für Charlie auf jeden Fall gewesen, das Fenster hinter sich ordnungsgemäß zu schließen.«
»Aber Miller hätte das gekonnt, wenn er der Komplice war.«
»Ja, aber er tat es nicht. Das ist eben das Merkwürdige an der Sache. Miller kann natürlich sehr gut in den Mord verwickelt sein. Durchaus möglich, daß er fortgegangen ist, um mit seiner Braut zu sprechen ... dann kam er aber zurück, half bei der Ermordung Loubas und ließ seinen Gefährten zum Fenster hinaus. In dem Fall ...«
»In dem Fall hätte er das Fenster offengelassen, um den Verdacht von sich abzulenken«, unterbrach ihn Brown. »Ganz richtig, dies und nichts anderes hätte er tun müssen. Sonnenklar ist, daß sich jemand in der Wohnung aufhielt, nachdem der Doktor fortgegangen war.«
»Miller war zehn Minuten lang da«, sagte Trainor. »Falls wir ihn aus dem Spiel lassen und als unschuldig betrachten, dann haben wir uns immer noch die Blutflecken auf dem Vorplatz zu erklären. Die konnten keinesfalls dorthinkommen, während der Doktor da war, oder während Miller in der Wohnung war. Die Spuren an der Türfüllung wurden von irgendjemand weggewischt. Wahrscheinlich vom Mörder selbst. Es sieht fast so aus, als ob der Versuch gemacht wurde, den Leichnam zur Vordertür hinauszuschleppen Das muß meiner Meinung nach zwischen sieben Uhr dreißig und acht Uhr passiert sein. Miller kann über seinen Aufenthalt ziemlich befriedigend Auskunft geben – wenigstens von dem Moment an, wo er die Wohnung verließ, bis zu seiner Heimkehr um zehn Uhr dreißig. Dennoch können wir ihn nicht ganz außer Betracht lassen. Er kann den Mord zum Beispiel durchaus in den zehn Minuten begangen haben, die er mit Louba allein war. In das Wohnzimmer kann man durch die Küche und das Speisezimmer gelangen. Es besteht da ein Durcheinander in den Zeitangaben, das aufgeklärt werden muß. Hat eigentlich jemand gesellen, wie Charlie das Haus verließ?«
Das war ziemlich deutlich. Trainor beobachtete seinen Vorgesetzten scharf und wartete gespannt auf die Antwort, denn er wußte ganz genau, daß Hurley Brown selber Charlie hatte fortgehen sehen. Miller hatte ihm das berichtet.
»Wer sollte ihn schon gesehen haben?« fragte Brown kühl zurück. »Kennen Sie vielleicht jemand, der in Frage kommt?«
Trainor überlegte einen Augenblick.
»Nein«, antwortete er dann.
Um sieben Uhr abends stand Trainor mit dem Rücken gegen das Feuer in seinem kleinen Büro und durchdachte immer von neuem die Fingerzeige und Spuren, die er im Fall Louba herausgefunden hatte. Unentwegt setzte er die Stücke dieses Rätselspiels nach einer anderen Methode zusammen, um die Lösung zu finden.
Hurley Brown hatte Scotland Yard schon verlassen. Er hatte ihm noch mitgeteilt, daß er in seinem Club zu finden sei, falls man ihn brauche. Um sechs Uhr hatte Trainor auch dort angerufen, aber er war im Club noch nicht aufgetaucht.
Hurley Brown? Trainor runzelte nachdenklich die Stirn. Es war ganz verständlich, daß Brown mit der Sache nichts zu tun haben wollte. Aus den Nachforschungen, die Trainor heimlich angestellt hatte, ging klar hervor, daß Brown seine eigene Privatfehde mit Louba auszufechten gehabt hatte. Aber Mord – unmöglich!
Er setzte sich, zog Notizbuch und Bleistift aus der Tasche und schrieb noch einmal alles auf, was mit dem Fall in Zusammenhang stand; jede Vermutung, die irgendwann einmal aufgetaucht war. Jede mögliche oder unmögliche Person, die auf Grund irgendwelcher Kombinationen für den Mord verantwortlich gemacht werden konnte.
Plötzlich klopfte er sich mit dem Bleistift an die Stirn.
Da Costa!
Was hatte Brown von da Costa erzählt? – Daß er ein alter Konkurrent Loubas sei und in der Wohnung über ihm hause.
Jedenfalls mußte es ihm sehr gelegen kommen, daß er zur Zeit des Mordes auf Reisen war.
Aber war er auch wirklich auf Reisen?
Es war kein Grund vorhanden, das Gegenteil anzunehmen, nur – wer setzte die Fahrstuhlklingel in Tätigkeit, als Dr. Warden in der Mordnacht bei seinem zweiten Besuch vor Loubas Tür stand?