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Peter verabschiedete sich von Daphne, ohne ihr genaueres über das Gespräch zu sagen.
»Um wieviel Uhr frühstückst du?« fragte er noch.
»Um neun.«
Er versprach, um diese Zeit zu kommen. »Ich werde wohl die ganze Nacht unterwegs sein müssen. Allmählich hängt mir diese Angelegenheit zum Halse raus – aber ich glaube, daß es jetzt nicht mehr lange dauern wird . . . Möglich, daß mir noch das eine oder andere einfällt, was ich dich fragen muß.«
Er war draußen, bevor ihr klar wurde, daß sie den einen wichtigen Umstand, den sie ihm unbedingt noch hatte mitteilen wollen, gar nicht erwähnt hatte.
Als er zu Mr. Beales Haus zurückkam, wurde ihm der Eintritt durch einen Polizisten verwehrt; das ganze Haus war von Polizeibeamten besetzt. Schließlich gelang es ihm, bis zu Oberinspektor Clarke vorzudringen. Wie ihm der anscheinend völlig gelassene Butler im Vorbeigehen sagte, hatte sich Mr. Beale in sein Schlafzimmer zurückgezogen.
Clarke stand im Garten, der durch zwei Scheinwerfer hell erleuchtet wurde. Als Peter zu ihm trat, prüfte er gerade mit Sweeney einige Spuren an dem Mauerwerk.
»Hier ist er über die Mauer geklettert«, sagte Sweeney. »Sehen Sie die Säcke?«
Er zeigte nach oben. Drei feste Säcke waren über die Glassplitter auf der Mauerkrone gelegt worden.
»Einfach und praktisch«, meinte Peter bewundernd. Sweeney, der jetzt erst den Reporter bemerkte, drehte sich verdrießlich um.
»Ich weiß nicht, was dabei besonders bemerkenswert sein soll. Natürlich wurden die Säcke auf die Mauer gelegt, um die Flucht zu erleichtern. Wahrscheinlich lag noch ein Seil darüber, das jemand auf der anderen Seite hielt.«
»Was halten Sie davon, Mr. Clarke?« fragte Peter.
»Ich bin der gleichen Ansicht. Möglich, daß ich meine Meinung auch wieder ändere . . ., aber im Augenblick gebe ich der Presse die Erklärung, daß jemand über die Mauer stieg, sich im Garten versteckte und dort wartete, bis Crewe das Arbeitszimmer betrat. An den Fenstern des Raumes befinden sich keine Jalousien, das Zimmer war hell erleuchtet, und jeder Vorgang konnte von außen beobachtet werden. Mr. Crewe trat als erster in das Zimmer . . .«
»Im Gang war kein Licht«, unterbrach ihn Peter.
»Was hat denn das mit der Sache zu tun?« fragte Sweeney. »Im Gang konnte er ja nicht gesehen und infolgedessen auch nicht erschossen werden!«
»Sicher war das Zimmer genügend hell, daß der Mörder Crewe deutlich sehen konnte, als er den Raum betrat«, sagte Clarke ungeduldig. »Die Dunkelheit im Gang hat doch nichts zu bedeuten – oder sind Sie anderer Meinung?«
Peter antwortete nicht.
Dann setzten sie ihre Untersuchungen fort und notierten genau die Ergebnisse. Peter fragte, wo der Schlüssel zu dem kleinen Schuppen wäre.
»Wir haben uns dort schon umgesehen«, erklärte Sweeney. »Es ist nichts drin – nur ein paar Gartengeräte und eine alte Tür.«
»Die Tür möchte ich mir ganz gern einmal ansehen.«
Der Schuppen wurde aufgeschlossen. Der Eingang war so niedrig, daß er sich bücken mußte, um hineinzukommen. An der hinteren Wand lehnte die Tür. Sie war mit grellen Farben bemalt; in der Mitte sah er ein verzerrtes Gesicht, von dem nach allen Seiten unregelmäßige Ornamente ausliefen. Dazwischen waren Vögel und Blumen gezeichnet. Er nahm sein Taschenmesser heraus und sondierte die Tür mit der Klinge. Nach einigen Minuten kam Sweeney herein.
»Was machen Sie denn da, zum Kuckuck?« fragte er ärgerlich.
»Nichts Besonderes«, erwiderte Peter und steckte sein Taschenmesser wieder ein. »Mich interessiert nur dieses primitive Gemälde.«
»Primitive Gemälde!« brummte der andere. »Sie haben wohl neuerdings die Absicht, Kunstgeschichte zu studieren?«
Peter gab keine Antwort. Er kam heraus, schloß ab und gab Sweeney den Schlüssel zurück.
Bis ein Uhr morgens arbeitete er in seinem Büro. In dieser Nacht schrieb er eine Geschichte, auf die auch der beste Zeitungsreporter hätte stolz sein können.
»Es ist nur schade«, sagte er zu dem Nachtredakteur, der eben die letzte Seite des Artikels überflog, »daß ich nicht an mehreren Orten zugleich sein kann. Ich wünsche mal wieder dringend, als Zwilling geboren zu sein!««
Der Zähler des Taxis, das er seit gestern abend gemietet hatte, zeigte bereits eine ziemlich hohe Summe, als er sich zur Wohnung von Harry, dem Barmann, fahren ließ. Sie lag in einer kleinen Straße in Poplar, und es dauerte einige Zeit, bis auf sein heftiges Klingeln hin eine dicke ältere Frau erschien.
»Ich möchte Mr. Merstham sprechen«, sagte Peter, nachdem er sich entschuldigt hatte.
»Der ist weg«, war die Antwort. »Ungefähr um neun brachte der Briefträger einen Eilbrief; er packte darauf seine Sachen und ging fort.«
»Hat er seine Miete bezahlt?« fragte Peter schnell.
Die Frau war über diese Frage nicht erstaunt.
»Ja, er hat keine Schulden hinterlassen und mich sogar ganz anständig bezahlt«, gab sie ihm zur Antwort.
»Wieviel gab er Ihnen?« Peter wartete gespannt.
»Das ist meine Sache«, erwiderte die Vermieterin kurz. Aber dann änderte sie plötzlich ihren Ton. »Ich hoffe doch, daß er auf ehrliche Weise zu dem Geld gekommen ist. Sind Sie etwa von der Polizei?«
»Nein, beruhigen Sie sich, ich bin kein Polizeibeamter, aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir die Nummer des Scheins, den er Ihnen gab, sagen würden.«
Sie ging ins Haus und schloß die Tür vor seiner Nase zu. Als sie zurückkam, gab sie ihm den abgerissenen Rand eines Zeitungsblatts, auf den die Nummer gekritzelt war.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Dewin.
»Er hat das Geld doch hoffentlich nicht gestohlen? Die Miete war er mir nämlich schon seit drei Wochen schuldig.«
Dewin versuchte die aufgeregte Frau zu beruhigen.
»Hat er gar nichts dagelassen?«
»Nur den Briefumschlag, aus dem er den Schein nahm«, sagte die Frau, nachdem sie eine Weile überlegt hatte. »Wollen Sie ihn sehen?«
Wieder wurde die Tür geschlossen, und es dauerte ziemlich lange, bis sie mit einem zerknitterten Umschlag wiederkam.
»Wenn er das Geld nicht auf ehrliche Art erworben hat . . .«, begann sie von neuem.
»Darüber brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen.«
Er sagte dem Chauffeur, daß er beim ersten Café in der Commercial Road anhalten solle. Dort bat er ihn, für sie beide eine Erfrischung zu bestellen. In der Zwischenzeit untersuchte er den Briefumschlag genau. Die Adresse war mit der Maschine geschrieben und lautete: H. Merstham, 99 Hitchfold Street, Poplar. Seinem Format nach schien der Inhalt des Briefkuverts nicht gerade klein gewesen zu sein.
Gucumatz und der Schlüssel! Das waren die beiden noch ungeklärten Punkte in der Geschichte. Erst durch sie konnte man die Zusammenhänge finden und das Rätsel vollends lösen.
Es war sieben Uhr morgens und schon heller Tag. Dewin benutzte die Zeit, die ihm übrigblieb, um die Geschichte dieses Verbrechens noch einmal in großen Zügen zu Papier zu bringen. Er hoffte, daß sie am Tag darauf veröffentlicht werden konnte. Etwas später läutete er an Mr. Beales Haus. Ein ihm bekannter Polizist öffnete.
»Mr. Clarke und Mr. Sweeney sind nach Hause gegangen. Sie haben mir aufgetragen, daß während ihrer Abwesenheit niemand im Haus etwas berühren darf.«
»Ist Mr. Beale schon auf?«
»Ja, er sitzt in seinem Arbeitszimmer und trinkt Kaffee.«
Peter klopfte und wurde sofort hereingelassen. Offenbar hatte Crewes Ermordung den Gelehrten völlig durcheinander gebracht. Er sah aus, als ob er die ganze Nacht nicht geschlafen hätte.
»Freut mich, daß Sie kommen, Mr. Dewin. Ich möchte gern Ihre Ansicht über das Verbrechen hören. Manchmal meine ich, daß die Kugel gar nicht Crewe zugedacht war.«
»Wem denn sonst?« fragte Peter und schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, ich glaube darüber brauchen wir nicht nachzudenken. – Sie bedauern wahrscheinlich, daß Sie Mittelamerika verlassen haben, Mr. Beale?«
Gregory Beale rührte langsam seinen Kaffee um und wandte sich dann an Peter.
»Diese Frage habe ich mir auch schon vorgelegt, muß sie aber mit nein beantworten. Es ist manchmal ganz heilsam, wenn unser Leben von Ereignissen, wie wir sie in der letzten Nacht erlebt haben, erschüttert und aufgerüttelt wird.«
Peter war an diesem Morgen nicht in der Stimmung zu philosophieren.
»Mr. Beale, kennen Sie einen Mann namens Harry Merstham?«
Beale nickte.
»Ja. Der Kerl hat mich während der letzten Nacht ziemlich beschäftigt. Er wollte sich nämlich gestern Geld bei mir leihen – für seine Rückreise nach Südamerika. Ich habe ihn aber abgewiesen. Später tat er mir dann doch leid, und ich schickte ihm heute morgen das Geld mit der Post – ein nettes Sümmchen«, lächelte er. »Trotzdem mache ich mir jetzt dauernd Vorwürfe, daß ich ihn durch mein Verhalten verletzt habe.«
»Kannten Sie ihn sehr gut?«
»Nein. Er ist ein verschwenderischer Bursche, der von einem Gasthaus zum andern zog. Früher war er sogar selbst Pächter einer Bar. Aber ich hatte Mitleid mit ihm, weil er schwer lungenkrank ist. Er kam mir aus den Augen, und ich dachte gar nicht mehr an ihn.«
»Wo kann man Merstham finden?« fragte Peter.
»Ich habe keine Ahnung. Aber irgendwo in meinem Schreibtisch muß seine Adresse sein.« Er suchte unter seinen Papieren. »Hier ist sie ja.« Er gab Peter einen Bogen Papier, auf dem drei Zeilen standen. Aber der Reporter beachtete sie gar nicht.
»Die Adresse ist mir bekannt. Ich wollte Merstham heute morgen besuchen – aber er war nicht mehr da; anscheinend ist er während der Nacht abgereist.«
Der Gelehrte nickte amüsiert.
»Ein kluger Mann. Er sprach davon, nach Südamerika gehen zu wollen . . .«
Dewin rückte seinen Stuhl dicht an den Schreibtisch Mr. Beales.
»Es würde mich interessieren, ob Sie sich verletzt fühlen, wenn ich Ihnen sage, daß ich die beiden Morde an Farmer und Crewe begreiflich finde. Ich weiß, was die beiden alles auf dem Gewissen hatten!«
Beale zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Es überrascht mich, das von Ihnen zu hören. Ich dachte, Sie stünden ganz auf der Seite des Gesetzes und der Ordnung.«
Er sah jetzt aus, als ob er mit Mühe ein Lächeln unterdrücken müßte.
»Zu meiner Ansicht kam ich in der letzten Nacht«, fuhr Dewin fort, »als ich mit den Polizeibeamten Ihren Garten durchsuchte – das heißt, in Wirklichkeit beschäftigte mich hauptsächlich Ihr Gemälde auf der Tür.«
Mr. Beale war ein wenig bestürzt.
»Mein Gemälde? Wie kommen Sie nur . . .?« Dann sagte er lachend: »Ach, jetzt weiß ich, was Sie meinen! Miss Olroyd hat Ihnen sicher von meinem spleenigen Einfall erzählt. Übrigens – Sie sind mit ihr doch – hm – sehr befreundet . . .«
»Ja,« entgegnete Peter Dewin ernst.
Mr. Beale nickte und sah ihn mit einem etwas melancholischen Blick an.
»Sie sehen müde aus, Mr. Dewin«, meinte er dann. »Besser Sie gehen jetzt nach Hause und legen sich schlafen. Und schlafen Sie recht lange!«
Peter verstand, daß der Gelehrte allein bleiben wollte und verabschiedete sich.
Natürlich fuhr er nicht nach Hause, sondern suchte Daphne auf und frühstückte mit ihr im Speisezimmer ihres Hotels. Sie war ein wenig bedrückt. Mr. Beale hatte ihr ausrichten lassen, daß sie in den nächsten Tagen nicht kommen solle: ». . . bis die Erinnerung an die Tragödie einigermaßen verblaßt ist.«
»Du hast die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Bist du wenigstens ein Stück weiter?«
»Nicht sehr viel«, entgegnete er und starrte auf seinen Teller.
Sie lehnte sich zu ihm über den Tisch.
»Ich kenne das Geheimnis von Gucumatz«, flüsterte sie.
Er sah erstaunt auf.
»Wie – du kennst das Geheimnis von Gucumatz? Willst du vielleicht sagen, daß du das letzte Rätsel gelöst hast, das mir immer noch nicht klar ist . . .?«
»Gucumatz ist ein Erkennungswort!«
Er setzte seine Tasse, die er eben an den Mund gehoben hatte, klirrend wieder hin.
»Wofür denn?«
»Für einen Safe.«
Peter sah nicht gerade intelligent aus, als er sie jetzt mit offenem Mund ansah.
»Großer Gott!« rief er dann. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht . . .! – Aber der Schlüssel?« Er schlug auf den Tisch, daß Daphne zusammenfuhr.
»Ich kam gestern abend ganz zufällig auf die richtige Idee«, erklärte sie. »Einer der Gäste hier sprach mit dem Geschäftsführer und ließ sich erklären, was für Vorteile ein Banksafe hat: Jeder Kunde erhält einen Schlüssel zu seinem Fach und ebenso ein Erkennungswort, mit dem er sich beim Kontrollbeamten ausweisen kann. Die Schlüssel haben für gewöhnlich eine Nummer, die aber ganz verschieden von der Nummer des Safes sein kann. Wenn du etwas herausnehmen willst, mußt du dich bei dem Beamten erst mit dem Erkennungswort ausweisen; bist du nicht selbst der Eigentümer des Faches, dann mußt du eine Vollmacht mitbringen, daß du berechtigt bist, den Safe zu öffnen. Aber vor allem mußt du das Erkennungswort wissen und den Schlüssel besitzen!«
Er hätte sie fast umarmt.
»Du bist wirklich ein kluges Mädchen! Was war ich doch für ein Idiot . . .! Aber offen gestanden, ich habe mich noch nie um Safes und Fächer gekümmert.«
Geistesabwesend sah er dann eine ganze Zeitlang vor sich hin. Plötzlich stand er auf.
»Weißt du, wohin ich jetzt gehe?«
»Wenn du klug bist . . .«, begann sie.
»Ich bin klug«, entgegnete Peter ernst. »Ich werde jetzt schlafen, und zwar« – er überlegte – »bis fünf Uhr abends.«