Edgar Wallace
Die gefiederte Schlange
Edgar Wallace

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9

Peter Dewin verließ das Haus, ohne Daphne noch einmal gesehen zu haben. Mit einem Bus fuhr er zur Redaktion. Dort waren inzwischen keine wichtigen Nachrichten über den Mord eingegangen.

»Wie gewöhnlich haben wir eine Menge Anrufe von Leuten bekommen, die bedeutsame Entdeckungen gemacht haben wollen«, sagte der Nachrichtenredakteur. »Auch hat sich die unvermeidliche Dame eingefunden, die einen großen, dunklen Mann fünf Minuten nach der Tat über den Grosvenor Square gehen sah. Außerdem erzählte mir der Nachtportier, daß ein Landstreicher heute morgen zwischen sechs und acht dreimal dagewesen sei, um uns einen interessanten Artikel anzubieten. Er hieß Lugg oder Mugg und behauptete, daß der Mord von einem Geist verübt wurde.«

»Er war wahrscheinlich betrunken«, antwortete Dewin.

»Der Mann erzählte dem Portier auch, daß der Mörder ein Sträfling war . . .«

»Wie?« fragte er plötzlich interessiert. »Ist der Portier noch im Hause?«

Der Redakteur sah ihn mißbilligend an.

»Sie arbeiten nun schon sechs Jahre bei uns und sind noch immer nicht mit der Hausordnung vertraut! Nein, er ist wie üblich um zehn Uhr gegangen, aber Sie werden einen Bericht über den Vorfall in seinem Notizbuch finden.«

Peter Dewin fuhr mit dem Aufzug nach unten und besah sich in der Eingangshalle das Notizbuch des Portiers. Es war im Hause so üblich, daß der Portier aufschrieb, welche Leute während der Abwesenheit des übrigen Büropersonals vorgesprochen hatten. Der Nachtredakteur ging morgens um halb fünf fort, und von da ab war bis zum Beginn des Redaktionsbetriebs niemand da, der mit Besuchern verhandeln konnte.

Peter blätterte aufgeregt in dem Notizbuch. In der vergangenen Nacht war nur eine Eintragung gemacht worden.

»Sechs Uhr früh. Ein betrunkener Mann namens Lugg will angeblich näheres über den Mord am Grosvenor Square wissen. Behauptet, Mord sei von altem Sträfling verübt worden, der ein Taxi fuhr. Sagte weiter, der Mann sei ein Geist. Adresse des Betrunkenen ist Rowton House, King's Cross.«

Nachdem sich Peter die Anschrift notiert hatte, fuhr er wieder nach oben. Es war nichts Ungewöhnliches, daß sich alle möglichen Leute bei der Redaktion meldeten, wenn ein aufsehenerregender Mord geschehen war. Meistens waren die Mitteilungen völlig unglaubwürdig, und es sprach kaum etwas dagegen, daß dies nicht auch bei Lugg der Fall war.

Allerdings gibt es zwei Punkte in der Notiz des Nachtportiers, die Peters Aufmerksamkeit erregten: Erstens sollte der Mörder ein früherer Verbrecher sein – was mit der Theorie Gregory Beales übereinstimmte, zweitens wurde als Täter der Chauffeur eines Taxis bezeichnet.

Nach Ansicht der Polizei war der Schuß von einem Wagen aus abgegeben worden, und auch Peter hatte es in seinem Artikel so beschrieben. Der Landstreicher war aber so früh auf der Redaktion erschienen, daß er die Geschichte unmöglich der Zeitung entnommen haben konnte.

Mr. Lugg von Rowton House war deshalb eine Persönlichkeit, die man so schnell wie möglich interviewen mußte, und schon eine halbe Stunde später wartete Peter in dem geräumigen Aufenthaltsraum von Rowton House vor einem riesigen Kamin, um den sich eine Menge halbverhungerter Existenzen lagerten, die sich für gewöhnlich in solchen Übernachtungsheimen herumtreiben.

Wie ihm ein Angestellter mitteilte, gab es hier nur einen Mann namens Hugg. Er war spät am Morgen zurückgekommen und schlief jetzt. Erst nach längerer Zeit erschien der Gesuchte. Er hatte rote, entzündete Augen, und sein Gesicht zeigte unverkennbare Spuren von übermäßigem Alkoholgenuß. Als er in die Halle trat, betrachtete er Dewin mißtrauisch.

»Ach, ein Reporter?« sagte er sichtlich erleichtert, als sich Peter Dewin vorstellte.

»Sie dachten wohl, ich sei von der Polizei?«

Der kleine Mann lachte verlegen und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel.

»Aber nein, warum sollte auch die Polizei etwas von mir wollen. Und was wünschen Sie?«

Anscheinend erinnerte er sich nicht mehr an seinen nächtlichen Besuch beim »Postkurier«.

»Sie saßen doch früher mal im Gefängnis?« ging Dewin geradewegs auf sein Ziel los. Hugg sah ihn wieder argwöhnisch von der Seite an.

»Ja«, entgegnete er dann kurz. »Geht das Sie etwas an? Was wollen Sie denn von mir?«

»Angeblich haben Sie gestern abend einen Mann gesehen, der Ihrer Meinung nach Mr. Farmer getötet hat. Und Sie behaupten, der Mörder wäre Taxichauffeur.«

Hugg machte ein sehr dummes Gesicht.

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte er schnell.

»Von Ihnen selbst«, entgegnete Dewin lächelnd. »Wenigstens haben Sie beim ›Postkurier‹ so etwas erzählt.«

Hugg strich sich verwirrt über die Stirn.

»Habe ich das wirklich getan?« fragte er bestürzt. »Es ist immer das gleiche – wenn ich einen über den Durst getrunken habe, kann ich den Mund nicht mehr halten . . . Er kann es ja gar nicht gewesen sein – er ist gestorben – ich habe doch erst gestern seinen Totenschein 'nem Herrn gegeben. Aber er sah genauso aus – mit dem kleinen grauen Schnurrbart, den er immer hatte . . . Trotzdem, er ist doch tot! Vor meinen eigenen Augen ist er in Thatcham tot umgefallen, als ich und er . . .« Plötzlich brach er ab.

»Wen meinen Sie denn?«

Mr. Hugg schüttelte heftig den Kopf.

»Ich gebe Ihnen keine Auskunft mehr – wenn ich nichts dafür bekomme«, erklärte er energisch.

»Aber Sie haben mir ja schon allerhand gesagt«, bemerkte Peter belustigt. »Sie erzählten doch eben, daß in Ihrem Beisein ein Mann in Thatcham tot umgefallen sei. Thatcham ist ein kleines Dorf in der Nähe von Newbury, nicht wahr? Ich glaube nicht, daß dort im Lauf der letzten zehn Jahre allzu viele Leute auf der Straße tot umgefallen sind.«

Mr. Hugg rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und vermied es, Dewin in die Augen zu schauen.

»Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist – daß er tot umfiel. Und der Kerl, der daran schuld ist, hätte zehn Jahre kriegen müssen.«

Mr. Hugg war zwar ein wenig verwirrt, aber die Widersprüche in seiner Erzählung schienen ihm gar nicht ganz bewußt zu sein. Peter hatte schon allerhand Erfahrung mit solchen kleinen Gaunern, die stets eine Neigung haben, ihre Verschlagenheit durch unzählige nutzlose Lügen unter Beweis zu stellen. Soviel war ihm auf jeden Fall bereits klar: Dieser Unbekannte in Thatcham war keines natürlichen Todes gestorben. Möglich, daß die näheren Umstände recht belastend für Mr. Hugg waren . . . Höchstwahrscheinlich war der Unbekannte aber nicht ermordet worden, sondern durch einen Unfall ums Leben gekommen; das wurde ihm während einer kurzen Gesprächspause klar.

»Was hatten Sie denn ausgerechnet in Thatcham zu tun?« fragte er dann.

»Hören Sie mal, ich habe Ihnen doch bereits gesagt . . .«, begann Hugg. Aber Dewin, der seinen Mann kannte, unterbrach ihn und fuhr ihn in scharfem Ton an.

»Es ist nur zu Ihrem eigenen Vorteil, wenn Sie etwas offenherziger werden . . . Ich kann natürlich auch zur Polizei gehen, damit Licht in diese reichlich dunkle Angelegenheit kommt. Am besten Sie rücken sofort mit der Sprache heraus – oder ich telefoniere mit Oberinspektor Clarke.«

Der kleine Mann wurde plötzlich außerordentlich lebendig.

»Clarke?« gestikulierte er entrüstet. »Dieser Schuft müßte doch schon längst an all den Lügen erstickt sein, die er über mich verbreitet hat! Der hat mich ins Zuchthaus gebracht!«

Ein abgerissen aussehender Kerl, anscheinend ein Freund Huggs, brachte eine dampfende Tasse, die Hugg geräuschvoll ausschlürfte. Der Kaffee – und die Erwähnung des Oberinspektors – schienen sein Gedächtnis zu beleben.

»Schön, ich werde Ihnen alles erzählen – und wenn dabei etwas für mich rausspringen würde, wäre es mir sehr recht. Der Mann, den ich gestern nacht zu sehen glaubte, heißt Lane. Er saß in dem gleichen Gefängnis in Dartmoor wie ich, und dort haben wir uns auch kennengelernt. Nach der Entlassung nahm ich ihn mit nach Reading zu meinen Verwandten, aber die waren nicht mehr da . . .« Er machte eine Pause. »Nun ja, sie waren eigentlich nicht fortgezogen, aber sie hatten keine Lust, sich mit uns drei – ich meine natürlich zwei – abzugeben.«

»Ihr wart also drei?« hakte Peter ein. »Machen Sie doch keinen Unsinn, erzählen Sie die Geschichte, wie sie wirklich war!«

Mr. Hugg schwieg einige Zeit.

»Ja, wir waren drei«, gab er dann zu. »Aber ich weiß wirklich nicht, was aus dem andern geworden ist – nach dem . . .«

»Nach dem Unfall«, ergänzte Peter, als Hugg wieder eine Pause machte. Der Mann kaute verlegen an seinen schmutzigen Fingernägeln.

»Nun ja«, meinte er schließlich zögernd.

»Also, wie war das nun mit dem Unfall? Sie tippelten zusammen mit zwei andern früheren Sträflingen durch die Gegend. Wohin wolltet ihr denn?«

»Nach Newbury.« Hugg wurde immer aufgeregter. »Sagen Sie mal, Sie sind doch wirklich nicht von der Polizei?«

Dewin holte eine Visitenkarte hervor, die sich Hugg nahe vor die Augen hielt. Er schien kurzsichtig zu sein.

»Gut, das wäre in Ordnung. Und da ich schon mal dabei bin, erzähle ich Ihnen auch die ganze Sache – wenn Sie mich aber anzeigen, soll Sie der Teufel holen. – Kurz vor Thatcham liegt ein kleines Haus; ich und Harry, der dritte im Bunde, überlegten uns, daß wir da einbrechen und ein paar warme Kleider für uns rausholen könnten. Es war nämlich eine elend kalte Nacht, und das Haus schien leer zu sein. William – der Mann, der nachher getötet wurde – wollte nichts damit zu tun haben, und wir ließen ihn auf der Straße, damit er Schmiere stehen solle. Ich und Harry drückten dann ein Fenster ein und kletterten hinein. Wir hatten uns aber kaum ein wenig umgesehen, als wir hörten, wie jemand aus dem oberen Stock die Treppe runterpolterte. Da zogen wir schnell Leine, sprangen in den Garten und liefen weg. William stand nicht mehr auf seinem Posten, er war weitergewandert, und wir holten ihn erst nach zehn Minuten wieder ein. Es war eine enge Landstraße mit scharfen Windungen, und wir standen in der Mitte und machten ihm Vorwürfe, was er für ein Feigling war – als plötzlich ein Wagen mit rasender Geschwindigkeit um die Ecke sauste. Er fuhr mit ausgeschalteten Scheinwerfern . . . Ich kann mich dann nur noch darauf besinnen, daß ich mit dem Gesicht auf die Straße flog – im Krankenhaus wachte ich wieder auf. William wurde tödlich verletzt; Harry kam auch mit dem Leben davon. Wie ich dann später hörte, war der Kerl im Auto der Eigentümer des Hauses, in das wir eingebrochen waren. Er wollte nach Thatcham, um die Polizei zu benachrichtigen.« Hugg schwieg. Nach einer Pause fügte er noch hinzu: »Vermutlich hat Mr. Crewe Sie auf meine Spur gebracht.«

Peter hielt es für klüger, nichts zu sagen.

»Ich mußte ihn nämlich anlügen«, fuhr Hugg fort. »Ich konnte ihm doch nicht sagen, daß William getötet wurde, weil wir einen Einbrach verübt hatten!«

»Wie kamen Sie denn auf Mr. Crewe?« fragte Dewin vorsichtig.

»William hat immer im Schlaf gesprochen und dabei den Namen von Leicester Crewe erwähnt. Er muß ihn geradezu gehaßt haben. Ich erfand dann die Geschichte, daß Lane ihm durch mich eine Warnung vor der gefiederten Schlange zukommen ließe – William hat im Schlaf nämlich sehr oft von gefiederten Schlangen geredet.«

»Gefiederte Schlangen?« fragte Dewin schnell. »Was hat er darüber gesagt?«

»Nichts Genaueres, er hat sie nur erwähnt. Und außerdem nannte er noch einen Namen, der sehr merkwürdig war – ich kann mich aber nicht darauf besinnen –, dann sprach er öfter von 'nem Schlüssel.«

Er machte eine Pause und dachte nach.

»Hat er sonst noch etwas gesagt?« fragte Dewin gespannt.

Hugg nickte langsam.

»Ja, von 'nem großen Haus hat er auch gesprochen. Ich glaube, er nannte es das Haus der gefiederten Schlange.«

Peter Dewin machte sich in Gedanken Notizen über das Gehörte. Dann fragte er weiter:

»Wissen Sie etwas über William – ich meine über seine Vergangenheit?«

»Er war Falschmünzer«, war die Antwort. »Druckte eine Menge falsche Banknoten.«

»Wie war denn sein Familienname?«

»Lane – William Lane.«

William Lane . . .! Der Name kam ihm bekannt vor, und plötzlich erinnerte er sich an die Aufzeichnungen in Joe Farmers Schreibtisch.

Allmählich sah Peter klarer. William Lane war verurteilt worden, weil er falsche Banknoten hergestellt hatte. Die Aussage Farmers hatte ihn ins Gefängnis gebracht.

»Haben Sie das alles auch Crewe erzählt?«

Hugg nickte.

»Ich habe aber nichts von Harry gesagt«, setzte er ein wenig verlegen hinzu. »Ich wollte nämlich nicht, daß dieser Crewe denken sollte, es könnte noch ein anderer kommen, um ihn anzuzapfen. Harry wußte natürlich ebensoviel über Lane wie ich. Genaugenommen wußte er sogar noch mehr. Wir wurden alle drei am selben Tag entlassen, und Harry sagte mir, daß wir uns an Lane halten sollten, denn durch ihn sei eine Menge Geld zu machen. Erst als ich nach dem Unfall aus dem Krankenhaus in Newbury entlassen wurde, erfuhr ich, daß Lane tot war.«

»Was für ein Mensch war er denn – ich meine charakterlich?« fragte Dewin.

»Er war ein wenig sonderbar; so ganz schlau bin ich nie aus ihm geworden. Als er nach Dartmoor kam, soll er ein ruhiger, netter Kerl gewesen sein. Er sprach kaum mit jemand und las viel – meistens Kriminalromane. Mit der Zeit aber änderte er sich. Er wurde gereizt und jähzornig. Einmal hätte er während eines Streits beinahe 'nem andern Sträfling mit 'nem Stein den Schädel eingeschlagen. Wir konnten ihn gerade noch zurückhalten. Ein Glück, daß die Aufseher nichts gemerkt hatten. Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht auch etwas älter. Ein verrückter Gedanke, daß ich ihn in 'nem Auto gesehen haben soll – ich muß ziemlich betrunken gewesen sein«, gestand er. »Er ist bestimmt tot. Die Polizei in Newbury hat alle seine Papiere und einen genauen Bericht über den Unfall.«

Peter versuchte ihn weiter auszuholen, aber er erfuhr nichts Wissenswertes mehr. Bevor er Rowton House verließ, sagte er dem Mann, daß er ihn abends in seiner Wohnung erwarte.

Er hielt jetzt einige Fäden in der Hand, die ihn ohne Zweifel der Lösung des Rätsels näherbrachten. Das Haus der gefiederten Schlange! Konnte es jene Strafkolonie in dem trostlosen Dartmoor sein, oder war das alles eine überspannte Vorstellung?

Je mehr er über die gefiederte Schlange und über die geheimnisvollen Karten nachdachte, desto mehr lehnte sich seine Vernunft gegen romantische Verschwörungen auf, wie sie von Sensationsschriftstellern erfunden werden. Auf alle Fälle schien William Lane aber kein gewöhnlicher Verbrecher zu sein.


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