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Ganz in der Nähe des Zeitungsviertels liegt der Klub, in dem alle Journalisten verkehren. In dieser frühen Morgenstunde war die Bibliothek leer; Peter Dewin zog sich einen bequemen Sessel zum Kamin, nahm den Geldbeutel heraus und prüfte noch einmal seinen Inhalt.
Schon der Schlüssel gab ihm zu denken. Früher mußte auf seinem Griff eine gut leserliche Inschrift eingraviert gewesen sein; man konnte noch Spuren der ausgekratzten Buchstaben erkennen. Wahrscheinlich war es schon lange her, daß jemand daran herumgefeilt hatte, denn die angefeilten Stellen waren längst nicht mehr blank, sondern sahen genauso aus wie das übrige Metall.
Dann stopfte Peter seine Pfeife und untersuchte sorgfältig das Pappstück mit den beiden Buchstabenreihen:
F. T. B. T. L. Z. S. Y. H. V. D. V. N. B. U. A. |
Er brauchte nicht lange herumzutüfteln. Mit Geheimschriften hatte er sich schon oft beschäftigt, und so fand er bald die Lösung des Rätsels. Als er die übereinanderliegenden Buchstaben von oben nach unten las, entdeckte er, daß sie in alphabetischer Reihenfolge geschrieben waren – nur fehlte jedesmal der dazwischenliegende Buchstabe. Er nahm sein Notizbuch und schrieb das Ganze mit den fehlenden Buchstaben auf:
F. T. B. T. L. Z. S. Y. G. U. C. U. M. A. T. Z. H. V. D. V. N. T. U. A. |
Die mittlere Reihe ergab jetzt das Wort »Gucumatz«, mit dem Peter nicht viel anfangen konnte.
Der Klub hatte eine kleine Bibliothek, in der auch ein gutes Konversationslexikon stand. Peter zog den betreffenden Band heraus und schlug nach – plötzlich hielt er freudig überrascht inne. »Gucumatz, auch Kukumats. Dieser Name wurde von den alten Azteken dem Schöpfer des Weltalls gegeben. In Mexiko war Gucumatz als Quetzalcoatl bekannt. Er wurde stets als eine gefiederte Schlange dargestellt, gleichgültig wie er bei den einzelnen Völkern genannt wurde. In gewissen Gegenden Zentralamerikas wird Gucumatz heute noch verehrt. Der Ursprung der Legende läßt sich auf das Auftauchen eines weißen Mannes mit langem Bart zurückführen, der eines Tages an der Küste Mexikos landete. Ob es sich dabei vielleicht um einen seefahrenden Wikinger gehandelt hat, kann nur vermutet werden . . .«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und fuhr sich durchs Haar. Wieder stieß er hier auf die gefiederte Schlange! Ob Joe Farmer etwas von ihrer Existenz gewußt hatte? Er konnte beim besten Willen noch keinen Zusammenhang zwischen dem seltsamen Wort aus Urzeiten und den sehr greifbaren Warnungen der gefiederten Schlange finden. Übrigens war das System, einen Buchstaben zwischen zwei anderen auszulassen, eine sehr primitive Form einer Geheimschrift.
Unbestreitbar lag über dem Ganzen etwas Unheimliches. Zum erstenmal, seitdem er mit der Geschichte zu tun hatte, fühlte er sich sehr unbehaglich. Er hatte den Eindruck, jeden Moment in ein Wespennest zu stechen – und das hatte dann möglicherweise sehr üble Folgen für ihn selbst.
Zum Mittagessen wollte er sich mit Daphne Olroyd in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Soho Square treffen. Er war ihr gegenüber in einer schwierigen Lage. Sie war die Sekretärin Mr. Crewes gewesen und hatte auch Farmer gekannt – zweifellos konnte sie ihm viele nützliche Hinweise geben, auf der andern Seite wollte er ihre Freundschaft aber auch nicht für seine eigennützigen Zwecke in Anspruch nehmen.
Als er sie begrüßt hatte, setzte er ihr in aller Offenheit seine Bedenken auseinander.
»Fragen Sie nur, ich habe mich allmählich schon daran gewöhnt!«
Über Leicester Crewe konnte sie Dewin aber auch nicht viel Neues berichten – daß Mr. Crewe ein sehr erfolgreicher Börsenmakler war, war ihm sowieso bekannt.
Daphne war drei Jahre bei Crewe angestellt gewesen – seit dem Zeitpunkt, als er das Haus am Grosvenor Square gekauft hatte. Sie kannte auch Joe Farmer als einen häufigen, aber nicht gerade gern gesehenen Gast.
»Wer ist eigentlich diese Mrs. Staines?« erkundigte sich Peter. »Ich möchte möglichst den ganzen Bekanntenkreis Crewes kennenlernen.«
»Ich weiß es auch nicht genau. Sie ist eng mit Mr. Crewe befreundet und ist auch eine Freundin der Schauspielerin Ella Creed.«
»Alles reiche Leute, wie? Hat Mrs. Staines irgendeinen Beruf?«
»Sie ist eine vornehme Dame«, entgegnete Daphne lächelnd, »und vornehme Damen arbeiten bekanntlich nicht. Im übrigen war sie immer sehr liebenswürdig und ist mir eigentlich recht sympathisch. Mr. Crewe hat mir auch öfter erzählt, daß sie sehr klug ist. Als ich ihr einmal etwas bringen mußte, zeigte sie mir in ihrer Wohnung einige Zeichnungen, die sie selbst gemacht hatte. Sie haben mich außerordentlich beeindruckt.«
»Dann ist sie also Künstlerin? Malt sie auch?«
Daphne dachte nach.
»Nein, ich glaube nicht, wenigstens habe ich nur Schwarzweißzeichnungen bei ihr gesehen. Eine besondere Vorliebe scheint sie für mythologische Darstellungen zu haben. Einige hübsche Sachen, auf die sie sehr stolz ist, hängen gerahmt in ihrem Wohnzimmer. Darunter befindet sich eine Zeichnung, die halb so groß wie diese Tischplatte ist. Bestimmt fehlt es ihr nicht an Talent. Miss Creed kenne ich nicht so gut, ich habe sie nur einmal gesehen, und dabei benahm sie sich ziemlich hochmütig. Ist sie eigentlich eine gute Schauspielerin?«
»Sie ist erfolgreich«, entgegnete Peter vorsichtig. »Zur Zeit tritt sie in musikalischen Lustspielen auf, die ihr anscheinend keine Gelegenheit zur Entfaltung ihrer Talente geben.«
Er dachte einen Augenblick nach.
»Eigentlich kann man sie schon eine gute Schauspielerin nennen. Ich sah sie vor einigen Jahren in einem erfolgreichen Stück. Eine tragische Szene gelang ihr dabei wirklich großartig. Wenn man sie so auf der Bühne gesehen hat, kann man kaum glauben, daß sie ihren Angestellten und dem Regisseur das Leben zur Hölle macht. Nun erzählen Sie mir aber, was Sie heute in Ihrer neuen Stellung erlebt haben.«
»Ich habe eine Menge interessante Dinge katalogisiert – Speerklingen, kleine Figuren, Tongefäße und alte Waffen, die Mr. Beale in Zentralamerika ausgegraben hat. Darunter waren auch vier gefiederte Schlangen«, erzählte sie.
Peter lachte.
»Sie werden bald eine Kapazität auf diesem Gebiet sein! Aber wie schaffen Sie das nur – Sie hatten doch bis jetzt keine Ahnung von aztekischer Kultur?«
Sie sagte ihm, daß Mr. Beale ihr alles genau erkläre. Sie mußte kleine Namensschilder schreiben und sie an jedes Stück der Sammlung ankleben.
»Eine Anzahl der Gegenstände war schon beschriftet.«
Peter dachte erst wieder an diese Bemerkung, als sie später ihre Handtasche öffnete, um ihr Taschentuch herauszunehmen. Ein Stück rundes Papier fiel dabei auf den Tisch. Er betrachtete es neugierig. Es war ungefähr so groß wie ein Sixpence, und darauf stand in roter Schrift das Wort »Zimm«. Dahinter war eine Zahl.
»Das war an einer alten Aztekenlampe, die Mr. Beale in einer Stadt mit einem furchtbar komischen Namen fand.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Wozu tragen Sie denn das Ding mit sich herum?«
Sie erklärte ihm auf seine Frage, daß sie einen Zipfel ihres Taschentuchs naß gemacht hatte, um das Papier zu entfernen. Dabei müsse es wohl an dem Taschentuch hängengeblieben sein.
Aber er hörte ihr gar nicht zu, sondern beobachtete einen Gast – einen Mann mit schwarzem Bart, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er saß in einer Ecke des Speisesaals und schien ganz in seine Zeitung vertieft zu sein.
Peter Dewin besaß ein phänomenales Gedächtnis. Er gehörte zu den Menschen, die spaltenlange Artikel lesen und sie fast Wort für Wort wiederholen können. Ohne sich zu irren, konnte er den Inhalt der Zeugenaussagen eines Falles angeben, der vor zehn Jahren verhandelt wurde, ebenso Bemerkungen der Richter und die Plädoyers der Verteidiger, wenn er den Bericht darüber gelesen hatte.
»Was haben Sie denn?« fragte sie besorgt, als sie seinen geistesabwesenden Gesichtsausdruck bemerkte.
»Ach so – bitte entschuldigen Sie!« Er wandte sich zerknirscht seiner Nachbarin zu. »Ich dachte gerade nach. Woher sagten Sie doch, daß dieses Etikett stammt?«
Sie erzählte ihm noch einmal, daß sie es von einer Lampe aus gebranntem Ton entfernt hätte.
»Merkwürdig, sie hatten auch Lampen, diese alten Azteken. Sie mag manchem heimgeleuchtet haben, will ich wetten! Ob es da auch Klubs und Vereine gab? Sie tranken doch so ein Zeug, das sie Tiki oder Miki nannten; es soll so ähnlich geschmeckt haben wie ein altes irisches Getränk. Und wenn sie dann eines seligen Todes starben, krähte kein Hahn danach.«
»Wovon reden Sie denn, um Himmels willen?« fragte sie erstaunt.
»Von Lampen«, entgegnete er verwirrt. »Es ist komisch mit mir, Daphne, wenn ich mich mit irgendwelchen Problemen herumschlage, kann mich nichts davon ablenken. Habe ich Sie eben Daphne genannt? – Bitte entschuldigen Sie vielmals, ich hasse nichts mehr als zudringliche Leute. Aber wir wollen unsern Kaffee trinken.«
Er versuchte vergeblich, seine Erregung zu verbergen. Irgendeine Entdeckung schien alle seine Gedanken in Anspruch zu nehmen.
»Nun seien Sie nicht gar so schweigsam und erzählen Sie mir, was Sie so intensiv beschäftigt!«
Er sah sie abwesend an und lachte dann plötzlich.
»Sie sind wirklich ein netter Kerl«, sagte er übermütig. »Und es ist nicht recht von mir, daß ich mich so unhöflich benehme. Ich mag Sie nämlich sehr gern.«
Dann erzählte er ihr, daß sie seit Jahren das erste Mädchen sei, das er zum Essen eingeladen hätte. Sie war erstaunt zu erfahren, daß er schon einunddreißig Jahre alt war.
»Meine letzte Verabredung mit einer Dame hatte ich aus beruflichen Gründen. Sie war mit der Ricks-Bande bekannt, die Kreditbriefe gefälscht und über hunderttausend Pfund unterschlagen hatte. Ich war damals ein blutjunger Reporter.«
Um seine Aufregung zu verbergen, erzählte er Daphne die Geschichte. Er machte das so geschickt, daß sie seinem Bericht von dem genial angelegten Schwindel gespannt lauschte. Warum ihm ausgerechnet der Fall Ricks in den Sinn gekommen war, wußte er selbst nicht so recht – etwas in seinem Unterbewußtsein erinnerte ihn daran.
». . . es war der jetzige Oberinspektor Clarke, der die Bande seinerzeit überführte. Er war damals noch Sergeant, und diesem Erfolg verdankte er seine Beförderung zum Inspektor. Ricks erschoß sich auf einem Schiff, als er über den Kanal fuhr. Zwei Mitglieder der Bande flohen nach Amerika. Einer wurde ausgeliefert, aber den eigentlichen Fälscher des Geldes haben sie nicht bekommen . . . Ricks selber war zwar ein hervorragender Zeichner, aber die Polizei war der Meinung, daß die gefälschten Platten von seiner sechzehnjährigen Tochter hergestellt waren. Man konnte aber nichts nachweisen, und es wurde nicht einmal ein Verfahren gegen sie eingeleitet. Sie war sehr hübsch – soviel ich weiß, fuhr sie schließlich zu Verwandten nach Frankreich . . .«
Plötzlich brach er ab.
»Heiliger Himmel«, murmelte er.
»Was ist los?«
Er versuchte ruhig zu sprechen.
»Tut mir leid – ich bin heute so nervös. Warum sprechen wir auch ausgerechnet über den Fall Ricks! Ich möchte nur wissen, wie ich darauf gekommen bin. Aber merkwürdig, wie alles stimmt – sogar das hier!«
Er nahm das kleine Etikett und schaute es noch einmal prüfend an.
»Darf ich das behalten? Vielleicht bringt es mir Glück«, sagte er und schob es einfach in die Tasche, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten.
»Ich werde wirklich nicht schlau aus Ihnen«, meinte sie kopfschüttelnd.
»Eines Tages werde ich Ihnen alles erklären«, erwiderte er geradezu feierlich.
Als sie sich erhoben, stand auch der bärtige Mann auf und folgte ihnen zum Ausgang. Auf der Straße war er plötzlich nicht mehr zu sehen. Dewin winkte einem Taxi; sie stiegen ein, und er nannte dem Chauffeur ihre Wohnung.
Auf der Fahrt war er ziemlich schweigsam und schaute nur ab und zu durch das kleine Rückfenster des Wagens.
»Sie haben sich nun schon dreimal umgesehen, seitdem wir das Restaurant verlassen haben«, sagte sie schließlich. »Was gibt es denn hinter uns Interessantes?«
»Sieht so aus, als ob wir Nebel bekommen – wollte nur mal sehen . . .« Das übrige ging in einem halblauten Gemurmel unter.
Er wartete auf der Straße, bis er hörte, daß sie die Tür von innen zugeschlossen hatte. Dann schlenderte er langsam ein Stück zurück – der kleine Sportwagen, der ihrem Taxi vom Restaurant aus gefolgt war, hielt in einer Entfernung von fünfzig Metern mit abgeblendeten Scheinwerfern. Als er geradewegs auf das Auto zuging, gab der Fahrer plötzlich Gas, entfernte sich ein Stück im Rückwärtsgang, wendete dann und verschwand in der Dunkelheit.
Dewin zögerte. Wenn dies eine Gefahr für ihn bedeutete, konnte sie sich ebensogut auch auf Daphne erstrecken. Der Gedanke beunruhigte ihn, wenn die Bedrohung bis jetzt auch keine feste Form angenommen hatte. Immerhin war ihnen der Wagen vom Restaurant an gefolgt, und er war sich völlig sicher, daß der Schwarzbärtige, der in der Ecke gesessen hatte und sich anscheinend nur um seine Zeitung gekümmert hatte, mit ihrer Überwachung beauftragt war.
Sollte er umkehren und Daphne warnen? Diese Absicht gab er sofort wieder auf, denn er wollte sie auf keinen Fall beunruhigen. Was sollte er machen? Er konnte sich doch nicht bis morgen früh auf die Treppenstufen ihres Hauses setzen? Das Außergewöhnliche seiner Lage kam ihm zum Bewußtsein; er fühlte sich wie in einem schlechten Kriminalfilm. In seiner Phantasie tauchten nacheinander alle möglichen düsteren Gefahren auf, über die er sich dann gleich lustig zu machen versuchte. Wer sollte auch Interesse an einem jungen Mädchen haben, dessen einzige Schuld es war, daß sie als Sekretärin bei einem Gelehrten angestellt war und dieselbe Stellung vorher bei einem Geschäftsmann zweifelhaften Rufes innegehabt hatte.
Er ging zu seinem Taxi zurück und ließ sich wieder in das Restaurant fahren. Glücklicherweise kannte er den Besitzer sehr gut und konnte sich daher ohne weiteres einige Fragen erlauben. Zu seinem Erstaunen erhielt er volle Auskunft über den Fremden.
»Er ist Privatdetektiv bei der Firma Stebbings. Wie er heißt, weiß ich nicht – vielleicht ist es sogar Stebbings selber. Er war schon öfters hier; da er für gewöhnlich aber einen meiner Gäste beobachtet, freue ich mich nicht sehr über seine Besuche.«
Dewin fiel ein Stein vom Herzen. Privatdetektive sind im allgemeinen ziemlich harmlose Leute, die zumindest keine unmittelbare Lebensgefahr für die Leute darstellen, die sie beobachten. Besonders in England beschränkt sich ihre Tätigkeit meistens auf harmlose Ermittlungen.
Mit leichterem Herzen machte sich Peter auf den Weg zum »Orpheum«, dem Theater, das Miss Creed gehörte.
Ella Creed war eben auf der Bühne, als er ankam, und er mußte in einem zugigen Vorraum warten, bis eine Platzanweiserin kam und ihn aufforderte, in Miss Creeds Garderobe zu kommen. Miss Creed sah abgespannt aus.
»Zwei Vorstellungen am Tag und eine schlaflose Nacht wegen des armen Mr. Farmer – ich bin halbtot«, sagte sie. »Etwas zu trinken, Mr. Dewin?«
Sie erwähnte den Mord erst, als ihre Garderobiere den Raum verlassen hatte.
»Mr. Dewin, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel vor und sah ihn mit einem bezaubernden Augenaufschlag an. »Der arme Joe trug einen Schlüssel bei sich, den er mir an jenem Abend geben wollte . . . Mr. Crewe erzählte mir, daß er zufällig in Ihre Hände geraten ist. Würden Sie ihn mir bitte zurückgeben?«
Dewin tat äußerst erstaunt.
»Meinen Sie etwa den Schlüssel in dem Geldbeutel? Ich habe mir schon überlegt, wem er gehören könnte. Ja, Miss Olroyd hat ihn mir gegeben. Ich wollte ihn gleich am andern Tag der Polizei abliefern, aber er ist mir in der Nacht von einem Einbrecher gestohlen worden«, log Peter seelenruhig. »Von einem Mann, der mein Jackett mitlaufen ließ. Wie Sie vermutlich wissen werden, war er in großer Eile, und der Schlüssel ist ihm wahrscheinlich dabei aus der Tasche gefallen.«
Sie blickte ihn einen Augenblick verdutzt an und fragte dann scharf: »Woher soll ich denn das wissen?«
»Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen«, antwortete Dewin gelassen.
Offensichtlich kam ihr diese Erklärung unerwartet, denn sie schwieg eine Weile.
»Aber es ist doch merkwürdig, daß Sie den Schlüssel in die Tasche Ihres Jacketts steckten«, begann sie dann wieder.
»Das ist allerdings seltsam«, sagte Dewin höflich. »Ich hätte ihn, eigentlich in meinen Schuh stecken sollen. Für gewöhnlich pflege ich Schlüssel auch dort aufzubewahren.«
Ella Creed sah ihn mißtrauisch und ärgerlich an, denn ihr Sinn für Humor war nicht sehr ausgeprägt.
»Es ist einfach furchtbar«, sagte sie dann. »Ich meine, daß der Schlüssel verlorengegangen ist . . .«
»Ach, es war wohl der Schlüssel zu Ihrem Schmuckkasten?« fragte er unschuldig. »Oder zu dem Schrank, in dem die gefiederte Schlange steckt?«
Sie sprang auf.
»Was wollen Sie damit sagen, zum Kuckuck?« fragte sie. »Gefiederte Schlange? Was soll das heißen, Dewin? Wissen Sie, was ich glaube? Das Ganze ist nur ein Trick, den ihr Zeitungsleute erfunden habt, um damit andere Leute zu erschrecken!«
Ella Creed war manchmal leicht zu durchschauen, und Dewin wußte, daß sie ihm jetzt nichts vormachte.
»Hören Sie mir einmal zu, Miss Creed«, sagte er ernst. »Die gefiederte Schlange ist keine Erfindung von Zeitungsleuten, die auf Sensation aus sind. Im allgemeinen pflegen Zeitungen auch nicht die Ermordung von Barbesitzern vorher anzukündigen. Haben Sie tatsächlich noch nie von der gefiederten Schlange gehört, bevor Sie die mysteriösen Karten erhielten?«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Auch Farmer nichts?«
»Er hat sicher nichts davon gewußt! Gefiederte Schlangen, das ist doch Unsinn! Ich möchte nur wissen, wer hinter der ganzen Geschichte steckt. Die Leute sollten sich endlich klar darüber werden, daß sie mir keine Angst einjagen können. Falls sie etwa auf Geld aus sind, so ist bei mir nichts zu holen. Meine Wertsachen liegen alle sicher auf der Bank.«
»Man hat bei Ihnen eingebrochen, nicht wahr«, sagte er schnell. »Wurde eigentlich außer den unechten Schmuckstücken noch etwas gestohlen?«
Sie merkte, daß sie schon zuviel gesagt hatte und wollte das Thema wechseln, aber er blieb hartnäckig bei seiner Frage.
»Nun ja«, sagte sie zögernd, »es ist tatsächlich bei mir eingebrochen worden, aber die Diebe haben nichts Wertvolles mitgenommen.«
Ihm war klar, daß sie ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Was mochte sie wohl verbergen?
»Es wurde Ihnen also doch etwas gestohlen?« bohrte er.
Draußen wurde an die Tür geklopft. Ihr Auftritt begann in wenigen Minuten.
»Ich muß mich schleunigst umziehen . . .«
»Was war es?« fragte er.
»Ein Ring«, erwiderte sie ärgerlich. »Ein Ding, das keine fünf Pfund wert ist.«
»Was für ein Ring – doch nicht ein Trauring?«
»Trauring . . .« Sie mußte erst Luft holen, bevor sie ihm antwortete. Er hätte nicht herausfordernder fragen können, wenn er die Wahrheit gewußt hätte! »Es war ein Siegelring, ein ganz altes Ding, das ich schon viele Jahre hatte. Aber nun verschwinden Sie!«
Peter Dewin wartete auf dem Gang vor der Garderobe. Dahinter steckte bestimmt etwas. Doch würde es schwierig sein, noch mehr aus Ella Creed herauszuholen. Sie erschien nach wenigen Minuten fertig angekleidet zum zweiten Akt. Als er auf sie zutrat, winkte sie nervös ab.
»Ich kann heute abend nicht mehr mit Ihnen sprechen, Mr. Dewin. Es hat keinen Zweck, wenn Sie warten.«
Als sie in Richtung Bühne verschwunden war, begann er, ihre Garderobieren auszuhorchen.
»Miss Creed scheint heute abend nicht in der besten Laune zu sein«, begann er kühn.
Die ältere der beiden lächelte verächtlich.
»Ich möchte nur wissen, wann sie überhaupt mal gute Laune hat! Heute war es wieder ganz besonders schlimm. Es ist wirklich kaum auszuhalten.«
»Hat Ihnen Miss Creed irgend etwas von dem Einbruch in ihrer Wohnung erzählt?«
»Soviel ich weiß, wurde ihr ein Ring gestohlen. Für gewöhnlich trug sie ihn bei ihren Auftritten. Ich hätte kein Pfund dafür gegeben.«
»Wie sah er denn ungefähr aus?«
Das jüngere Mädchen konnte ihm eine ziemlich genaue Beschreibung des Ringes geben.
»Es war so eine Art Wappen darauf, drei Weizengarben mit einem Adler in der Mitte. Mr. Crewe sagte ihr immer, sie solle doch das alte Ding ins Feuer werfen, aber das brachte sie nicht übers Herz.«
Ella Creed galt allgemein als ziemlich geizig.
»Sind Sie schon lange hier beschäftigt?« fragte Dewin teilnahmsvoll.
»Schon viel zu lange«, kam die verärgerte Antwort. »Ich bin nun seit mehr als zwanzig Jahren in diesem Beruf, aber so etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Es ist mir ganz gleich, wenn ich entlassen werde. Dabei habe ich Miss Creed schon gekannt, als sie noch ein kleines Chormädchen war, lange bevor sie zu Geld kam und das ›Orpheum‹ pachtete. Sie hat von Anfang an ein unwahrscheinliches Glück gehabt.«
Das Mädchen legte den Finger an die Lippen und lauschte auf die fernen Klänge der Kapelle.
»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte sie dann. »Sie wird in einer Minute hier sein, um sich umzuziehen.«
Peter Dewin war klug genug, das Feld zu räumen; er hatte das Theater schon längst verlassen, als Ella Creed atemlos in ihren Ankleideraum kam.
»Bringen Sie mir sofort Schreibpapier und ein Kuvert«, befahl sie. »Rufen Sie dann Mr. Crewe an« und fragen Sie ihn nach der Adresse von Miss Daphne Olroyd – aber etwas schnell bitte!«