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Das Dienstmädchen berichtete Peter Dewin, daß unten im Empfangszimmer eine Dame auf ihn warte. Sobald er mit seinem Frühstück fertig war, rannte er die Treppe hinunter. Die Redaktion sandte ihm häufig schon früh am Morgen irgendwelche wichtigen Nachrichten, und die Überbringer waren ab und zu junge Volontärinnen. Die »Dame« war also in Wirklichkeit meistens ein neugieriges Mädchen mit einer Stubsnase.
Als er aber ins Zimmer trat, war er freudig überrascht.
»Mein Gott, was tun Sie hier?«
»Bereits seit einer Viertelstunde auf Sie warten«, entgegnete Daphne und lächelte ihn vergnügt an. »Sie haben mich ja schon gestern abend warten lassen, ich bin also nicht aus der Übung gekommen. Haben Sie Mr. Crewe gesehen?«
Er schüttelte verwundert den Kopf und wunderte sich noch mehr, als sie ihm von Crewes mitternächtlichem Besuch erzählte.
»Crewe?« Konnte es möglich sein, daß der Einbrecher . . . »Haben Sie ihm gesagt, wo ich wohne?«
»Das hätte ich ihm vielleicht gesagt, wenn ich es gewußt hätte, aber so konnte ich ihn nur darauf aufmerksam machen, daß Ihr Name im Telefonbuch steht – was er sich ja schließlich auch selbst hätte denken können. Ich nahm an, daß er Sie wegen des Geldbeutels anrufen wollte.«
»Ach, Sie glauben, daß er mit mir telefonieren wollte?« entgegnete er nachdenklich. »Nein, das hat er nicht getan – man kann es beim besten Willen nicht so nennen . . .«
»Haben Sie den Geldbeutel der Polizei gegeben?«
Peter überlegte schnell.
»Ich werde es heute morgen nachholen«, meinte er verlegen. »Tatsächlich hatte ich gestern abend und auch heute nacht so viel zu tun, daß ich nicht mehr wußte, wo mir der Kopf stand. Ich bin deswegen heute morgen auch ein wenig später aufgestanden.«
Er schaute auf seine Uhr. Es war neun vorbei, und plötzlich fiel ihm ein, daß er am vorigen Abend noch Mr. Gregory Beale angerufen und ihn um eine Unterredung gebeten hatte. Er war mit dem Privatgelehrten heute zehn Uhr verabredet und sagte dies Daphne.
»Dann können wir ja zusammen hingehen – ich habe auch eine Verabredung mit Mr. Beale, wenn man es so nennen will . . . Ich bin nämlich seine neue Sekretärin. Es ist allerdings möglich, daß er mich heute morgen noch gar nicht brauchen kann.«
Er setzte sich auf den nächsten Stuhl und schaute sie groß an.
»Wollen Sie damit etwa sagen, daß das die neue Stellung ist, nach der Sie suchten?«
Sie nickte.
»Nun, dann haben Sie es gut getroffen – einer meiner Bekannten, der einmal vor Jahren für ihn gearbeitet hat, erzählte mir, daß er geradezu fürstliche Gehälter zahlt und ein wirklich liebenswürdiger Mensch ist. Von Crewe sind Sie aber sehr plötzlich weggegangen.«
Sie zögerte einen Augenblick.
»Ja – ich hatte den Eindruck, daß es besser wäre, wenn ich sofort ginge. Und es ist mir eine große Erleichterung, daß ich nicht mehr dorthin muß. Mr. Beale hatte ich eigentlich mitgeteilt, daß ich erst in einer Woche kommen könne; es ist daher leicht möglich, daß ich jetzt einige Tage frei habe. Können Sie mir sonst noch irgend etwas über meinen neuen Chef erzählen?«
»Er ist eine Autorität für gefiederte Schlangen.«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Wenigstens hat das mein Redakteur gesagt – und der weiß natürlich alles.«
Der klare, kühle Morgen war eigentlich wie geschaffen dazu, einen Spaziergang durch den Park zu machen. Aber die Zeit war zu knapp, und Dewin bestand darauf, ein Taxi zu nehmen.
Unterwegs sagte er ihr ganz offen, daß er nicht die Absicht habe, den Schlüssel herzugeben. Sie schüttelte zwar den Kopf, sah aber ein, daß es wenig Wert hätte, ihn von seinem Entschluß abzubringen. Von dem Pappstück, das an dem Schlüssel hing, erzählte er ihr nichts. Es war nun einmal seine Art, Geheimnisse für sich zu behalten. Punkt zehn standen sie vor Gregory Beales Haustür. Der wie immer ernste und würdige Butler öffnete ihnen und führte sie ins Empfangszimmer. Mr. Beale ließ zuerst seine neue Sekretärin zu sich bitten. Er begrüßte sie sehr liebenswürdig in der Bibliothek, wo er anscheinend gerade zu arbeiten begonnen hatte.
»Soll das etwa heißen, daß Sie Ihre Stellung gleich antreten können?«
Sie nickte bestätigend, und er lächelte erfreut.
»Das paßt ja ausgezeichnet; ich habe mir schon den ganzen Morgen überlegt, was ich mit meinen Sammlungen machen soll, die inzwischen eingetroffen sind – sie müssen nämlich ausgepackt und katalogisiert werden. Ich selbst habe momentan nicht die nötige Ruhe zu so einer Arbeit – vor allem möchte ich nach dem, was ich heute morgen in der Zeitung gelesen habe, recht bald meine gefiederten Schlangen wieder einmal sehen.«
»Gefiederte Schlangen?« fragte sie. »Was meinen Sie damit?«
Er mußte über ihre Frage und ihr erstauntes, fast erschrockenes Gesicht lachen.
»Sie brauchen sich nicht davor zu fürchten – ich bin kein Zoologe. In meinen Sammlungen habe ich nur Geräte oder kleine Bildwerke, die ich in den Ruinenstädten der Maya gefunden habe. Meine gefiederten Schlangen sind kleine Tonfiguren, ein Laie wird kaum eine Ähnlichkeit mit Federn oder mit Schlangen entdecken.«
Er schaute zur Tür.
»Der junge Mann, der mit Ihnen kam, ist doch Journalist, nicht wahr? Da kann ich ja gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen!«
Er läutete dem Butler und gab Anweisung, den Reporter hereinzuführen.
Als Peter Dewin die Bibliothek betrat, kramte der Gelehrte in einer Schublade seines Schreibtisches. Endlich hatte er gefunden, was er suchte – ein kleines, anscheinend formloses Ding, das dem Aussehen nach aus gebranntem Ton bestand.
Beale begrüßte den Reporter mit einem Kopfnicken.
»Sie wollen etwas über gefiederte Schlangen wissen, nicht wahr? Hier können Sie gleich eine sehen!«
Dewin nahm den Gegenstand sogleich neugierig in die Hand.
»Gehen Sie vorsichtig damit um«, warnte Mr. Beale. »So ein Ding hat immerhin einen Wert zwischen fünfhundert und tausend Pfund. Es ist eine echte Maya-Figur – eine gefiederte Schlange. Das einzige Exemplar, das jemals in einer Maya-Stadt gefunden wurde. Aus Mexiko dagegen haben wir zahlreiche derartige Funde; ich habe mehrere von meiner Reise mitgebracht.«
Dewin erkannte nun auch bei genauerem Hinsehen, daß der Gegenstand tatsächlich eine zusammengerollte Schlange mit kleinen regelmäßigen Erhebungen auf der Oberfläche darstellte. Wie er annahm, waren diese Erhebungen die mysteriösen Federn.
»Was hat es eigentlich mit so einer gefiederten Schlange auf sich, Mr. Beale?«
Der Gelehrte lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander und begann zu dozieren:
»Die gefiederte Schlange war nach der Meinung der alten Azteken der Schöpfer des Weltalls. Wie ihre Volksmythen berichten, war sie schon vorhanden, ›ehe sich zwei Dinge berührten‹ – mit anderen Worten, noch bevor es organisches oder anorganisches Leben auf der Welt gab. Gleichzeitig war die gefiederte Schlange das Symbol der Herrschaft, auch galt sie als eine Art Rachegöttin. Wie alt sie ist, ersehen Sie am besten daraus, daß schon zur Zeit des Cortez, der die Azteken im 16. Jahrhundert besiegte, die gefiederte Schlange nur noch eine mythische Figur war, die nicht mehr in den Tempeln verehrt wurde. Seltsamerweise hat es aber immer einen kleinen Kreis von Leuten gegeben, der sogar heute noch die gefiederte Schlange als oberste Gottheit verehrt.« Er hob den Finger, um die Bedeutung seiner folgenden Worte zu unterstreichen: »Zu dieser Stunde gibt es in Mexiko, in Spanien, ja selbst in England noch Leute, die der gefiederten Schlange voller Ehrfurcht dienen.«
»Meinen Sie das im religiösen Sinn?« fragte Peter Dewin. Er war sehr überrascht, glaubte aber, was der Gelehrte gesagt hatte.
»Wahrscheinlich weniger aus religiösen Gründen – ich denke mehr an eine Art Geheimgesellschaft . . .«, entgegnete Mr. Beale und lächelte undurchsichtig. »Aber darüber weiß ich selbst nichts Näheres; ich erzähle Ihnen hier nur, was mir einmal von anderer Seite berichtet wurde.«
Er klingelte wieder dem Butler.
»Bitte machen Sie Miss Olroyd mit der Haushälterin bekannt.« Dann wandte er sich an seine neue Sekretärin. »Sie wird Ihnen sagen, wo Ihr Zimmer ist und wie Sie sich am besten einrichten können.«
Dewin wartete gespannt, und er sollte mit seiner Vermutung recht haben, daß der Gelehrte die junge Dame nicht zufällig fortgeschickt hatte.
»Hat man noch etwas Neues über den Mord – oder über den Mörder – erfahren?« erkundigte sich Mr. Beale interessiert, als Miss Olroyd das Zimmer verlassen hatte.
»Nein. Sie haben doch die Morgenzeitung gelesen?«
Mr. Beale nickte.
»Natürlich beschäftigt mich alles, was mit der gefiederten Schlange zusammenhängt und was ich bei meinen Studien verwerten kann. Auf jeden Fall bin ich überzeugt davon, daß ihre Macht immer noch wirksam ist. Mit Mitgliedern der Geheimgesellschaft, die ich vorhin erwähnte, bin ich leider noch nie zusammengekommen. So viel weiß ich aber, daß zum Beispiel in Mexiko die gefiederte Schlange das Geheimzeichen gewisser Verbindungen von Sträflingen im Gefängnis geworden ist; natürlich wissen diese Leute kaum mehr etwas vom Ursprung dieses Zeichens. Ob es solche Geheimgesellschaften auch in England gibt, weiß ich nicht genau, mit Sicherheit habe ich sie aber in verschiedenen Staaten Südamerikas nachweisen können.«
»Geheimgesellschaften in Gefängnissen?« fragte Dewin erstaunt.
»Warum nicht?« erwiderte der andere lächelnd. »In gewissem Sinn sind Geheimgesellschaften kindliche Vergnügungen – und Gefangene brauchen weiß Gott irgendeine Aufheiterung! Geheimbünde, die mit Kennworten, Handgriffen, Zeichen und allem andern Zubehör arbeiteten, wurden in einer Reihe amerikanischer Gefängnisse aufgedeckt. Und sie sehen, daß sich auch hier in England etwas Ähnliches anbahnt.«
Dewin nahm die kleine Tonfigur wieder in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Wieviel tausend Jahre mochte sie wohl schon alt sein? Wieviel Generationen bronzefarbener Menschen hatten sich wohl schon anbetend vor ihr verneigt? Visionen von seltsamen, grausigen Kulthandlungen stiegen vor ihm auf – ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und er legte die kleine Plastik schnell wieder auf den Tisch.
»Glaubt man, daß so ein Ding wie dieses hier irgendeinen bösen Einfluß hat?«
Gregory Beale lachte.
»Warum fragen Sie danach, Mr. Dewin, sind Sie etwa abergläubisch?« meinte er scherzhaft. »Glauben Sie etwa an die bekannten Geschichten von unheilbringenden Statuen, die kein Museumsbeamter berühren darf, ohne zu sterben? Ich kann Ihnen versichern, daß diese kleine Tonfigur hier völlig harmlos ist.«
»Aber mindestens fünfhundert Pfund kostet sie doch?« fragte Dewin noch einmal etwas beschämt.
Mr. Beale nickte und schien sich darüber zu freuen, daß seine Ausführungen auf den andern einen solchen Eindruck gemacht hatten.
»Hoffentlich habe ich jetzt Ihren Wissensdurst gestillt. Was ich Ihnen erzählt habe, hätte Ihnen auch jeder andere Archäologe auseinandersetzen können. Übrigens, wenn Sie meine Mitteilungen in einem Zeitungsbericht verwenden wollen, dann erwähnen Sie bitte meinen Namen nicht. Ich habe eine entschiedene Abneigung gegenüber allem, was mich in zu engen Kontakt mit der Öffentlichkeit bringt.«
Peter Dewin tat es sehr leid, daß er den Namen des Gelehrten, der in der wissenschaftlichen Welt einen guten Klang hatte, nicht verwenden konnte; aber was bleibt einem Journalisten anderes übrig, als eine solche Bitte zu erfüllen.
»Das tut mir wirklich leid, Mr. Beale – aber wenn Sie wollen, selbstverständlich . . .«
Der Gelehrte lachte.
»Würde Ihnen auch nicht viel nützen, wenn Sie meinen Namen erwähnten«, sagte er trocken. »Als Archäologe bin ich nicht so bekannt – als einen etwas exzentrischen Philanthropen kennt man mich besser.«
Er zog drei Bände aus dem Bücherregal und legte sie auf den Tisch.
Dewin nahm einen nach dem andern in die Hand. »Der Grund der Armut. Eine nationalökonomische Untersuchung«, war der Titel des ersten; der zweite handelte von der Urbarmachung von Sumpfland zu Siedlungszwecken; der dritte erschien ihm am wenigsten interessant, er hieß: »Armut. Eine Studie.«
Gregory Beale seufzte traurig.
»Die Urwälder Zentralamerikas mit ihren unzugänglichen Dschungeln, die die Reste alter Kulturen bedecken, sind weniger erschütternd als das Großstadtelend Londons . . .«
Peter Dewin war aber nicht zu ihm gekommen, um soziale Fragen zu besprechen, und versuchte jetzt, das Gespräch noch einmal auf die gefiederte Schlange zu bringen.
»Glauben Sie im Ernst, daß hinter diesem Mord eine Geheimgesellschaft steckt und daß die Karten, die an verschiedene Personen in London geschickt wurden, irgend etwas Ernsthaftes bedeuten?«
Gregory Beale sah ihn nachdenklich an.
»Wissen Sie etwas Genaueres über diesen ermordeten Mr. Farmer? Wird er vielleicht in irgendwelchen Gefängnisakten geführt? Das wäre das erste, wonach man suchen müßte . . . Das gleiche gilt für die andern Leute, die Karten mit dem Bild der gefiederten Schlange erhalten haben. Existieren auch von ihnen Strafakten? Wenn ich Reporter wäre und mich mit dieser Sache zu befassen hätte, würde ich mich zuerst in dieser Richtung informieren.«
Dewin betrachtete wieder die kleine Tonfigur.
»Haben Sie vielleicht eine Photographie davon?«
»Aber natürlich«, lächelte der Gelehrte und ging zu einem Schrank in der Ecke des Raumes. »Ich habe verschiedene Photographien von gefiederten Schlangen und gebe Ihnen gern die Erlaubnis, eine davon zu veröffentlichen – vorausgesetzt, daß mein Name nicht erwähnt wird. Das ist keine Bescheidenheit«, fuhr er nach einer kürzen Pause fort, »aber vor einigen Jahren litt ich unter der Einbildung, daß man annehmen könnte, daß meine wissenschaftliche Tätigkeit von dem Wunsch diktiert wäre, meinen Namen bekanntzumachen!«
Er lachte leise vor sich hin, als ob er sich jetzt über diesen Gedanken freue.
»Öffentlichkeit ist nicht gerade meine – Spezialität wenn ich so sagen darf.«