Edgar Wallace
Der Frosch mit der Maske
Edgar Wallace

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34

Dicks Gesicht wurde aschfahl. »Woher wissen Sie das?«

»Die Photographie ist auf dem Weg zu uns, heute nachmittag wird sie in London sein. Aber ich brauche sie erst gar nicht zu sehen. Der Mann in Gloucester hat drei Impfnarben am rechten Unterarm.«

Es herrschte Totenstille.

»Ich wunderte mich, als Sie das Gespräch auf die Blattern brachten«, sagte Dick gefaßt. »Ich hätte mir denken können, daß etwas dahintersteckt. Was sollen wir nun machen?«

»Ich werde Ihnen lieber aufzählen, was wir nicht machen können«, sagte Elk. »Wir dürfen Bennett und Fräulein Ella nicht benachrichtigen. Ray hat sich aus guten Gründen entschlossen, seine Identität nicht zu offenbaren. Sie werden einen verdorbenen Nachmittag haben, Herr Hauptmann«, sagte Elk liebenswürdig. »Oh, ich möchte nicht mit Ihnen tauschen! Denn Sie müssen dabei Ihr leichtes Geplauder aufrechterhalten, oder die junge Dame wird erraten, daß etwas vorgeht.«

»Gott im Himmel, das ist ja entsetzlich!« sagte Dick leise.

»Das ist wohl wahr«, gab Elk zu, »und wir können nichts machen. Wir müssen es als Tatsache hinnehmen, daß er schuldig ist. Wenn Sie anders dächten, würde es Sie verrückt machen. Und selbst wenn er so unschuldig wäre wie Sie oder ich, was für Möglichkeiten hätten wir, eine Untersuchung einzuleiten oder die Ausführung des Urteils aufzuhalten?«

»Der arme John Bennett«, sagte Dick niedergeschlagen.

»Wenn Sie anfangen wollen, sentimental zu werden«, knurrte Elk und zwinkerte dabei wütend, »dann verfüge ich mich in eine nüchternere Atmosphäre. Guten Tag!«

»Warten Sie ein bißchen, ich kann ihr momentan nicht allein gegenübertreten. Kommen Sie mit mir zurück?«

Elk zögerte und folgte dann widerwillig.

Ella vermochte aus dem Betragen der beiden den Schrecken, der auf ihren Gemütern lastete, nicht zu erraten. Elk kam von neuem auf Geschichte und Daten zu sprechen und die Enttäuschungen, die diese ihm bereitet hatten, und dies war ein ausgiebiges und geläufiges Thema, das den ganzen Weg nach Harley Terrace vorhielt.

»Gott sei Dank, die Preislisten sind gekommen!« sagte Dick mit einem Seufzer der Erleichterung, als er den großen Stoß auf seinem Schreibtisch bemerkte.

»Und warum: Gott sei Dank?« lächelte Ella.

»Weil ihn sein Gewissen drückt, wenn er eine Entschuldigung dafür braucht, daß er seine Arbeit im Stich läßt!« half Elk ihm.

Der Zwang war so groß, daß er ihn unerträglich fand, und als Dick ihm nach einem beschwörenden Blick durch ein Nicken die Erlaubnis erteilte, sprang er mit einem Gefühl wie vor den Ferien auf.

»Ich muß jetzt gehen, Fräulein Bennett«, sagte er. »Ich glaube, Sie beide werden den ganzen Nachmittag brauchen, um Maytree Haus einzurichten, obgleich . . .«

Soweit war es gekommen, als eine Stimme im Vorraum laut wurde. Es war die aufgeregte, schrille, hysterische Stimme einer Frau. Bevor Dick die Tür erreichen konnte, wurde sie aufgerissen, und Lola stürzte ins Zimmer. Sie war aufgelöst, verzweifelt, ihr schönes Gesicht geschwollen von Tränen.

»Gordon, Gordon! Oh, du mein Gott«, schluchzte sie. »Wissen Sie es schon?«

»Still!« sagte Dick, denn Ella stand neben ihm. Aber Lola war außerstande zu hören und zu verstehen.

»Sie haben Ray gefangen und sie werden ihn hängen! Und Lew ist tot!«

Das Unglück war geschehen.

»Mein Bruder?« fragte Ella, starr vor Schrecken.

Erst in diesem Augenblick erkannte Lola sie und nickte heftig. »Ja, ich habe es herausbekommen«, schluchzte sie. »Ich hatte Verdacht und ich schrieb. Ich habe eine Fotografie von Phenan bekommen. Ich wußte sofort, daß es Lew sei. Der Frosch hat es getan! Der Plan war monatelang vorbereitet! Ich weine nicht um Lew. – Ich schwöre, daß ich nicht um Lew weine. Aber der Junge! Es war meine Schuld, ich habe den armen Jungen in den Tod gelockt, Gordon!« Und sie brach in hysterisches Schluchzen aus.

»Bringen Sie sie fort«, sagte Dick leise. Und Elk führte die willenlose Gestalt zur Tür hinaus.

»Ist das wahr?« hauchte Ella.

Dick nickte. »Ich fürchte, daß es wahr ist, Ella.«

»Wenn ich nur wüßte, wo ich Vater finden kann!« sagte sie gefaßt.

»Glaubst du, daß es gut ist, ihn zu benachrichtigen, wo er nicht helfen kann?«

Sie forschte in seinem Gesicht.

»Ich glaube, du hast recht, Dick. Ja, Vater darf nichts erfahren. Dick, könnte ich Ray nicht sehen?«

Dick schüttelte den Kopf. »Ella, wenn Ray so tapfer geschwiegen hat, um euch das zu ersparen, so würden seine ganze Haltung und sein Mut dahin sein, wenn du ihn besuchen wolltest.«

Elk kam rasch herein. »Ein Telegramm für Sie, Fräulein Bennett«, sagte er. »Ich habe den Boten vor der Haustür getroffen. Es ist von Horsham nachgeschickt worden, wie ich vermute.«

»Öffne es, bitte«, sagte das Mädchen. »Es kann von Vater sein.«

Dick riß den Umschlag auf, das Telegramm lautete:

›Ihr Bild entwickelt. Kann Mord nicht verstehen. Besuchen Sie mich. Selinski-Haus, Wardourstraße.‹

»Was soll das heißen?« fragte Elk.

»Ich verstehe es auch nicht!« sagte Dick. »Kann Mord nicht verstehen? Hat dein Vater versucht, Aufnahmen für Kinostücke zu machen?«

»Nein, Liebster, sicher nicht! Das hätte er mir gesagt.«

»Was für Bilder hat dein Vater an Selinski geschickt?«

Sie versuchte ihre Gedanken zu sammeln. »Es war eine Forellenaufnahme«, sagte sie. »Aber er hat mir von einem verdorbenen Film erzählt. Er war auf dem Land und ist eingeschlafen, während er auf einen Dachs gewartet hat. Und die ganze Zeit hat der Apparat gekurbelt. Er wollte den Film gar nicht entwickeln lassen. Er muß ihn verwechselt haben. Selinski erwähnt die Forellen ja gar nicht.«

»Wir müssen sofort nach der Wardourstraße.«

Es war Elk, der so entschieden sprach, der ein Auto holte und die beiden hineinschob.

Als sie in die Wardourstraße kamen, war Herr Selinski gerade beim Lunch, und niemand wußte etwas über den Film oder hatte Erlaubnis ihn vorzuführen. Eineinhalb Stunden warteten sie auf ihn in dem schmierigen Büro, während Boten auf der Suche nach Selinski durch die Stadt jagten. Schließlich kam er, ein höflicher, gefälliger, kleiner Mann, der sich in tausend Entschuldigungen erging, obgleich er seine Besucher gar nicht hatte erwarten können.

»Ja, es ist eine merkwürdige Aufnahme«, sagte er. »Ihr Herr Vater, Fräulein Bennett, ist ein sehr guter Amateur, das heißt, jetzt ist er ja Berufsfotograf. Und wenn es wahr ist, daß er die Erlaubnis für die Zoo-Aufnahmen bekommen hat, so wird er sicherlich in die erste Reihe unserer Naturfotografen treten.«

Sie folgten ihm in einen großen Saal, in dem die Sessel aneinandergereiht standen. Sie setzten sich vor einen kleinen, weißen Schirm.

»Das ist unser Theater«, erklärte Selinski. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, Fräulein, ob Ihr Vater nicht versucht hat, Kinostücke zu drehen? Denn die Szene ist an und für sich sehr gut gespielt. Auf der Etikette stand ›Forellen in einem Teich‹, oder so ähnlich. Aber es kommen weder Forellen noch ein Teich vor.«

Man hörte ein Knacken, und der Raum verfinsterte sich. Dann erschien auf der Leinwand ein Bild, das im Vordergrund einen Streifen grauen, sandigen Bodens zeigte. Man sah die schwarze Öffnung eines Baues, aus der ein seltsam aussehendes Tier hervorspähte.

»Sehen Sie, das ist der Dachs«, erklärte Herr Selinski. »Bis jetzt sieht es sehr vielversprechend aus, aber ich verstehe nicht, was Ihr Herr Vater weiterhin damit gemacht hat. Die ganze Stellung der Kamera wird eine andere.«

Während er sprach, schwenkte das Bild ein wenig nach rechts, als ob es heftig gezogen würde. Und jetzt sah man zwei Männer, Landstreicher offenbar. Einer saß, den Kopf in den Händen, da, der andere neben ihm schenkte einen Becher voll.

»Das ist Lew Brady!« flüsterte Elk aufgeregt. Und in diesem Augenblick sah der andere Mann auf. Ella stieß einen Schrei aus.

»Es ist Ray! O Dick, es ist Ray!«

Keine Frage, er war es. Sie sahen, wie Brady ihm zu trinken anbot, sahen ihn den Becher widerwillig leeren und zurückreichen. Dann sahen sie, wie er die Arme gähnend ausstreckte und sich zum Schlaf zusammenkauerte. Die liegende Gestalt wurde auf das Gesicht gedreht, und Lew bückte sich und steckte Ray etwas in die Tasche. Sie bemerkten deutlich den Glasreflex.

»Die Flasche!« sagte Elk.

Aber dann wendete sich die Gestalt in der Mitte des Bildes hastig um. Ein Mann schritt langsam auf Lew zu. Sein Gesicht war den Beschauern unsichtbar, er wendete sich ihnen nicht ein einziges Mal während der ganzen Zeit zu. Sie sahen, wie er den Arm hob, sahen das Aufblitzen von zwei Schüssen und beobachteten atemlos, als läge Zauberbann auf ihnen, die Tragödie, die darauf folgte. Der Mörder beugte sich nieder, legte die Pistole neben den schlafenden Ray und, eben als er . . . jetzt . . . jetzt . . . jetzt sich ihnen zuwendete, wurde die Leinwand wieder weiß, und das Licht flammte auf.

»Er ist unschuldig, Dick, er ist unschuldig!« rief Ella verzweifelt. »Hast du nicht den Mann gesehen, der geschossen hat?«

Dick erfaßte mit festem Griff ihre beiden Schultern. Sie war halb wahnsinnig vor Schmerz und Entsetzen. Und während der verblüffte Selinski verständnislos auf die Szene blickte, sagte Dick kurz und befehlend: »Du wirst jetzt zu mir nach Hause gehen, wirst ein Buch nehmen und wirst lesen. Hörst du, Ella? Du darfst nichts beginnen, eh du Nachricht von mir erhältst! Du wirst nicht aus dem Haus gehen, du wirst nur lesen und lesen die Bibel, Polizeinachrichten, was du willst, aber du darfst nicht daran denken! Elk und ich werden alles tun, was menschenmöglich ist.«

Sie bemeisterte ihre wilde Angst und versuchte sogar zu lächeln. »Ich weiß, daß du es tun wirst«, sagte sie, am ganzen Leib schaudernd. »Bitte, bring mich nach Haus.«

Er sandte Elk nach der Fleetstraße, um auch die geringsten Berichte über den Mord in den Zeitungsbüros zu erheben, und brachte Ella selbst nach Harley Terrace.

Als sie aus dem Wagen stiegen, sah Dick, daß ein Mann vor dem Haus wartete. Es war Joshua Broad. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um zu erkennen, daß er von dem Mord wußte und dessen Umstände erriet. Er wartete im Vorraum, bis Dick das Mädchen in sein Arbeitszimmer geführt und jede illustrierte Zeitung, jedes Buch, das er finden konnte, vor ihr aufgestapelt hatte.

»Lola ist zu mir gekommen und hat mir alles erzählt.«

»Das habe ich geahnt«, sagte Dick. »Wissen Sie etwas Näheres?«

»Ich wußte nur, daß die beiden Männer in der Verkleidung von Landstreichern ausgezogen sind. Das ist das Werk des Frosches. Aber warum hat er das getan?«

»Ich weiß es«, sagte Dick. »Der Frosch kam gestern nacht zu Fräulein Bennett und fragte sie, ob sie ihn heiraten will. Er versprach, ihren Bruder zu retten, wenn sie einwilligte. Aber ich kann kaum glauben, daß er den ganzen teuflischen Plan zu diesem Zweck ersonnen haben soll.«

»Zu keinem anderen«, sagte Broad kühl. »Sie kennen den Frosch nicht, Gordon. Der Mann ist ein Stratege. Sagen Sie, Gordon, kann ich irgend etwas für Sie tun?«

»Ich möchte Sie bitten, hier zu bleiben und Fräulein Bennett Gesellschaft zu leisten«, sagte Dick.

Ella sah mit einem peinvollen Blick auf, als der Besucher ins Zimmer trat. Sie glaubte die Anwesenheit eines Fremden zu dieser Stunde nicht ertragen zu können und sah flehentlich zu Dick auf.

»Falls Sie nicht wollen, daß ich hierbleibe, Fräulein Bennett«, sagte Broad, »so werde ich sogleich gehen, aber ich habe Ihnen die Mitteilung zu machen, daß Ihr Bruder sicherlich gerettet werden wird.«

»O Gott, haben Sie Nachrichten von ihm?« fragte Ella hastig.

»Ja, die habe ich, aber Sie dürfen es mir nicht verargen, wenn ich jetzt noch nicht darüber sprechen darf!« sagte der Amerikaner fröhlich.

Dick telefonierte an die Garage nach seinem Wagen, nach demselben gelben Rolls, den Ray gelenkt hatte, als er zum erstenmal nach Horsham gekommen war. Dicks erster Besuch galt dem Büro der Staatsanwaltschaft, wo er die Tatsachen vorlegte.

»Das ist eine höchst merkwürdige Geschichte«, sagte der Oberstaatsanwalt, »aber ich bin da natürlich nicht kompetent. Sie würden besser sofort den Staatssekretär aufsuchen, Gordon.«

»Tagt das Unterhaus jetzt?«

»Nein, und ich glaube sogar, daß der Staatssekretär, der als einziger etwas für Sie tun kann, sich zur Zeit nicht einmal in der Stadt befindet. In der letzten Woche wurde eine Konferenz in San Remo abgehalten. Und ich habe so eine Ahnung, daß er auch hingefahren ist.«

Dicks Herz stand still.

»Ist niemand sonst im Ministerium des Innern, der helfen kann?«

»Der Unterstaatssekretär. Vielleicht fahren Sie zu ihm.«

Das Departement der Staatsanwaltschaft war im Ministerialgebäude untergebracht, und Dick ging geradewegs auf die Suche nach dem verantwortlichen Beamten.

Der Sekretär, dem er die Umstände erklärte, schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, daß wir nichts machen können, Gordon«, sagte er. »Der Staatssekretär ist auf dem Land und sehr krank.«

»Wo ist der Vizestaatssekretär?« fragte Dick verzweifelt.

»Der ist in San Remo.«

»Und wie weit ist Herrn Whitbys Haus von der Stadt entfernt?«

»Ungefähr dreißig Meilen, diesseits von Tunbridge Wells.«

Dick schrieb die Adresse auf ein Stück Papier.

Eine halbe Stunde später raste über die Westminsterbrücke ein langer gelber Rolls Royce, der sich mit einer Sorglosigkeit durch das Gewühl hindurchdrängte, die sogar den kaltblütigsten Chauffeuren den Atem stocken ließ. Vierzig Minuten, nachdem er Whitehall verlassen hatte, eilte Dick durch eine Ulmenallee nach dem Heim des Staatssekretärs.

Der Kammerdiener, mit dem er sprach, vermochte ihn nicht zu entmutigen.

»Ich fürchte, Herr Whitby wird Sie nicht empfangen können. Der Herr hat einen sehr bösen Gichtanfall gehabt, und die Ärzte haben verordnet, daß er sich von allen Geschäften fernhalten muß.«

»Es ist eine Sache auf Leben und Tod«, sagte Dick. »Ich muß ihn sprechen! Wenn er mich nicht empfängt, dann bleibt mir nichts übrig, als zum König zu gehen!«

Diese Botschaft, die er dem Kranken überbringen ließ, hatte eine Einladung zur Folge.

»Worum handelt es sich?« fragte der Minister scharf, als Dick hereintrat. »Ich kann mich mit keinem, wie immer gearteten Geschäft befassen. Ich leide durch diesen höllischen Fuß die Qualen eines Verdammten. Sagen Sie schnell, worum es sich handelt!«

Gordon erzählte ihm rasch seine Entdeckung.

»Eine erstaunliche Geschichte!« sagte der Minister ächzend. »Wo ist denn der Film?«

»In London.«

»Aber ich kann doch nicht nach London fahren, es ist mir physisch unmöglich. Können Sie nicht jemanden im Ministerium dazu veranlassen, dies zu bestätigen? Wann soll Ihr Mann gehängt werden?«

»Morgen früh um acht, Exzellenz.«

Der Staatssekretär dachte nach und trommelte wütend auf die Tischplatte. »Ich wäre ja ein Unmensch, wenn ich mich weigerte, diesen gottverdammten Film zu sehen«, sagte er. »Aber ich kann nicht in die Stadt fahren. Es sei denn, Sie verschaffen mir einen Krankenwagen. Vielleicht rufen Sie eine Londoner Garage an, daß sie mir einen Wagen schickt, oder, noch besser, lassen Sie mir einen vom hiesigen Spital schicken.«

Alles schien sich gegen Dick verschworen zu haben. Das Krankenauto des Ortes war in Reparatur. Aber schließlich meldete man Dick aus London, daß ein Krankenauto sich in zehn Minuten auf den Weg begeben würde.

Aber zwei Stunden vergingen, bevor der Krankenwagen kam. Der Chauffeur hatte während der Fahrt zweimal die Reifen wechseln müssen. Mit großer Vorsicht und doch unter den wütenden Flüchen des Ministers, mit denen er das schmerzende Bein bedachte, wurde die Bahre in den Krankenwagen gehoben. Die Reise schien Dick kein Ende nehmen zu wollen. Er hatte an Selinski telefoniert und ihn gebeten, sein Büro so lange offenzuhalten, bis sie kämen. Es war acht Uhr abends, als der Minister in das »Theater« geleitet und der Film abgerollt wurde.

Herr Whitby verfolgte das Drama mit dem größten Interesse, und als es zu Ende war, schöpfte er tief Atem.

»So weit wäre das in Ordnung«, sagte er. »Aber wie soll ich mich davon überzeugen, daß es nicht mit Absicht gestellt wurde, um dem Mann einen Aufschub zu verschaffen? Und wie soll ich mich davon überzeugen, daß der Vagabund derjenige ist, den Sie meinen?«

»Diese Sicherheit kann ich verschaffen, Exzellenz«, sagte Elk. »Ich bekam heute nachmittag die Fotografien aus Gloucester.«

Er zog aus seiner Brieftasche zwei Bilder hervor, das eine im Profil, das andere en face, und legte sie vor den Minister hin.

»Führen Sie den Film noch einmal vor«, befahl dieser, und sie sahen die Tragödie von neuem sich abrollen.

»Aber was, um Himmels willen, hat denn der Operateur angestellt, um diesen Film aufzunehmen?«

»Er ging aus, um die Aufnahme eines Dachses zu machen. Ich weiß dies, Exzellenz, weil Herr Selinski mir alle zu seiner Verfügung stehenden Informationen mitgeteilt hat.«

Der Minister sah Dick an. »Sie sind aus dem Staatsanwaltsdepartement, ich erinnere mich jetzt sehr gut an Sie. Ich muß Ihrem Manneswort glauben. Dies ist kein Fall für einen Aufschub, sondern nur für eine Wiederaufnahme des Prozesses, zur Aufklärung sämtlicher Umstände.«

»Ich danke, Exzellenz«, sagte Dick und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Sie können mich jetzt in das Ministerium des Innern bringen«, brummte der dicke Mann. »Morgen werde ich ja wahrscheinlich Ihren Namen und Ihr Gedächtnis verfluchen, obgleich ich gestehen muß, daß ich mich seit dieser Fahrt beinahe besser fühle. Ich möchte diesen Film haben.«

Sie mußten warten, bis der Film in der Kassette gebracht wurde, und dann halfen Gordon und Elk dem Sekretär in das wartende Krankenauto. Um Viertel zehn lag der Urteilsaufschub zur Unterschrift des Königs bereits in Dicks Händen. Und das Wunder, das der Minister gar nicht zu hoffen gewagt hatte, begab sich. Er war imstande, mit Dicks und eines Stockes Hilfe nach seinem Auto zu humpeln.

Vor dem großen Palast standen Wagen um Wagen. Es war die Nacht des ersten Balles in dieser Saison, und die Halle bot ein unvergeßliches Bild.

Die fürstlichen Juwelen der Damen, das Scharlachrot, Blau und Giftgrün diplomatischer Uniformen, der Glanz der Orden, so unzählbar wie nächtliche Sterne, und mehr noch die Organisation dieser prächtigen Veranstaltung fesselten Dick, während er müde und verstaubt, eine sonderbar kontrastierende Figur, an einer Säule lehnte und das Gepränge an sich vorüberziehen ließ.

Der Minister war humpelnd in einem der Vorsäle verschwunden, kam aber fast gleich darauf zurück und winkte Dick mit dem Finger.

Dick folgte ihm, an weißhaarigen, scharlachroten und goldenen Dienern vorbei, bis sie an eine Tür kamen, vor der ein Lakai wartete.

Auf ein geflüstertes Wort klopfte der Lakai, und eine Stimme bat einzutreten.

Der Diener öffnete vor ihnen die Tür.

Von dem Tisch, an dem er gesessen hatte, erhob sich ein Mann, der die scharlachrote Uniform eines Generals trug. Quer über seine Brust schlang sich das blaue Band des Hosenbandordens. Aus seinen Augen blickte so viel Güte und Menschlichkeit, wie Dick sie hier kaum zu finden erwartet hatte.

»Wollen Sie Platz nehmen? Bitte erzählen Sie mir jetzt den Fall so schnell Sie es vermögen, denn ich habe noch eine andere Verabredung, und Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, lächelte er.

Er hörte aufmerksam zu und unterbrach Gordon hier und da mit einer kurzen Frage. Als Dick zu Ende war, nahm er die Feder und schrieb mit kühner, mannhafter Schrift ein Wort, löschte es ab und händigte das Dokument dem Staatssekretär aus.

»Hier ist Ihr Aufschub. Ich freue mich darüber«, sagte er.

Dick, der sich über die ausgestreckte Hand beugte, hatte das Gefühl eines ungeheuren Triumphes und vergaß für einen Augenblick die schreckliche Gefahr, in der Ray geschwebt hatte. Als er in das Ministerium des Innern zurückkehrte, verabschiedete er sich mit einem sehr ernsten Ausdruck der Dankbarkeit von dem cholerischen, aber gütigen Minister, flog die Stufen zu seinem eigenen Büro hinauf und riß das Hörrohr ans Ohr. »Verbinden Sie mich mit Gloucester 8585 Amt«, sagte er und wartete auf das Fernsignal. Es kam nach wenigen Minuten.

»Tut mir leid, keine Verbindung mit Gloucester, die Linie ist gestört. Die Drähte abgeschnitten.«

Dick legte langsam das Telefon nieder. Und in diesem Augenblick erst entsann er sich dessen, daß der Frosch noch lebte, wachsam, mächtig, rachsüchtig wie immer.


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