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Herons-Klub, der auf Befehl der Polizei zeitweilig geschlossen gewesen war, durfte nun wieder seine Pforten öffnen.
Ray nahm seinen Lunch fast immer bei Heron ein, wenn er die Mahlzeit nicht mit Lola teilte, die eine glänzendere Atmosphäre vorzog, als der Klub sie zu Mittag bot. Als er ankam, waren nur einige Tische besetzt. Die Erinnerung an die Polizeiuntersuchung war noch immer wach in den Gemütern, und die vorsichtigeren Kunden hatten noch nicht gewagt zurückzukehren. Es war allgemein bekannt geworden, daß Hagn, der Direktor, seit der Nacht der Aushebung nicht wieder gesehen worden war. Unbestätigte Gerüchte über seine Verhaftung liefen um.
Ray war nicht gewohnt, seine Post nach Herons-Klub adressiert zu erhalten, und war daher überrascht, als der Kellner, der seine Bestellung übernahm, ihm zwei Briefe, einen vielfach versiegelten und sehr schweren, und einen anderen, kleineren übergab. Ray öffnete den großen Umschlag zuerst und wollte den Inhalt herausziehen, als er gewahr wurde, daß das Kuvert nichts anderes als Geld enthielt. Er wollte die Noten selbst vor einem spärlichen Publikum nicht aus dem Umschlag nehmen und stellte nur zu seiner Freude die hohe Anzahl und den Wert der Scheine fest. Es lag keine schriftliche Mitteilung dabei.
Aber da war ja noch der andere Brief.
Ray riß ihn auf. Das Schreiben trug weder Anrede noch Datum, und der Inhalt in Maschinenschrift lautete wie folgt:
»Am Freitagvormittag werden Sie die Kleidung anziehen, die man Ihnen zustellen wird, und sich zu Fuß auf die Landstraße nach Nottingham begeben. Sie werden den Namen ›Jim Carter‹ annehmen, Legitimationspapiere, auf diesen Namen lautend, werden in den Taschen des Rockes zu finden sein, der Ihnen morgen durch einen besonderen Boten überbracht wird. Von nun an dürfen Sie sich nicht mehr rasieren. Sie dürfen nicht in der Öffentlichkeit erscheinen, Besuche machen oder solche empfangen. Ihr Geschäft in Nottingham wird Ihnen mitgeteilt werden. Vergessen Sie nicht, daß Sie zu Fuß reisen müssen und in Unterkunftshäusern – gelegentlich auch in Schlafstellen der Heilsarmee – nächtigen werden, wie sie Vagabunden mit Vorliebe suchen. In Barnett, auf der großen Nordstraße, in der Nähe des neunten Meilensteines, werden Sie jemanden treffen, den Sie kennen und der auf der übrigen Reise Ihr Begleiter sein wird. In Nottingham werden Sie weitere Befehle erhalten. Man wird wahrscheinlich Ihrer gar nicht bedürfen, und die Arbeit, die Sie zu leisten haben, wird Sie in keiner Weise bloßstellen. Vergessen Sie nicht, daß Ihr Name ›Carter‹ ist. Vergessen Sie nicht, daß Sie sich nicht rasieren dürfen. Vergessen Sie nicht den neunten Meilenstein und Freitag morgen. Wenn sich diese Einzelheiten Ihrem Gedächtnis eingeprägt haben, so nehmen Sie diesen Brief und den Umschlag, der das Geld enthielt, und verbrennen Sie alles im Kamin des Klubs. Ich werde Sie dabei beobachten.«
So war die Stunde gekommen, da die Frösche seiner bedurften. Er hatte sich vor diesem Tag gefürchtet und ihn dennoch erwartet. Er führte die Instruktionen getreulich aus, und vor den vielen neugierigen Augen der Gäste ging er mit Brief und Kuvert an den leeren Ziegelkamin, entzündete ein Zündhölzchen, verbrannte die Papiere und zertrat die Asche mit dem Fuß.
Sein Puls schlug schneller, als er sich an seinen Platz zurückbegab. Und ihm wurde bewußt, daß er diese Handlung in Anwesenheit des Frosches vollführt hatte. Ray sah scheu von einem zum andern der wenigen Gäste hinüber und begegnete den scharfen Blicken eines Fremden, die unablässig auf ihm geruht hatten. Das Gesicht schien ihm bekannt und doch wieder fremd.
Er winkte den Kellner herbei.
»Sehen Sie nicht sofort hin«, sagte er leise. »Aber sagen Sie mir, wer jener Herr in der zweiten Loge ist.«
Der Kellner wendete sich nachlässig um.
»Das ist Herr Joshua Broad«, sagte er.
Fast im Augenblick, da der Kellner diesen Namen aussprach, erhob sich Joshua Broad von seinem Sitz und kam auf Ray zu.
»Guten Morgen, Herr Bennett. Ich glaube nicht, daß wir uns schon früher gesprochen haben, obwohl wir beide Mitglieder des Klubs sind, und ich Sie hier schon oftmals gesehen habe. Mein Name ist Broad.«
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Es fiel Ray ein wenig schwer, seine Stimme zu meistern. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Broad. Wollen Sie vielleicht mit mir speisen?«
»Nein«, antwortete der Amerikaner, »ich habe schon gegessen. Aber wenn es Sie nicht stört, werde ich meine Zigarette weiterrauchen. Ich bin der Nachbar Ihrer Freundin. Fräulein Bassano hat die Wohnung inne, die der meinen vis-à-vis liegt.«
Ray entsann sich nun auch des sonderbaren Amerikaners, über dessen Verhältnisse Lola und Lew Brady sich schon oftmals den Kopf zerbrochen hatten.
»Kennen Sie Brady schon lange?« fragte Broad.
»Lew? Ich könnte es nicht genau sagen. Er ist ein sehr netter Kerl«, urteilte Ray ohne Begeisterung. »Und er ist befreundet mit einer mir bekannten Dame.«
»Eben mit Fräulein Bassano«, sagte Broad. »Sagen Sie, sind Sie nicht einmal bei Maitlands gewesen?«
»Ja, vor Zeiten«, sagte Ray gleichmütig. Aus seinem Ton hätte man entnehmen können, daß er bloß als interessierter Zuschauer den Bankpalast aufgesucht hatte.
»Er ist ein sonderbarer Bursche, der alte Maitland, was?«
»Ich weiß nicht viel über ihn«, sagte Ray. »Aber er hat einen sehr netten Sekretär.«
»Sie meinen Johnson? Den kenne ich gut.«
»Der arme, alte Philo, er hat seine Stellung verloren.«
Broads Gesicht veränderte sich. –
»Johnson? Wann ist denn das geschehen?«
»Heute morgen traf ich ihn, und er teilte es mir mit.«
»Ich wundere mich, daß Maitland den Mut gehabt hat.«
»Den Mut?« fragte Ray verdutzt. »Da gehört doch nicht viel Mut dazu, seinen Sekretär zu entlassen.«
Ein flüchtiges Zucken ging über das Gesicht des Amerikaners.
»Ich meine damit, daß für einen Mann von Maitlands Charakter viel Mut dazu gehört, einen Menschen zu entlassen, der so viele Geheimnisse weiß. Doch was gedenkt Johnson jetzt anzufangen?«
»Er sieht sich nach einer Stellung um«, sagte Ray kurz.
Die hartnäckigen Fragen des Fremden begannen ihn zu irritieren. Broad schien dies sogleich zu merken, er ließ das Gesprächsthema fallen und plauderte noch eine Weile über alltägliche Dinge, ehe er sich empfahl.
Ray blieb allein zurück, und der Gedanke an den erhaltenen Auftrag nahm ihn gänzlich gefangen. Das Abenteuer, die Verkleidung waren für einen romantischen jungen Mann äußerst verführerisch, und Raymond Bennett fehlte es nicht an Romantik. In seinen Instruktionen lag eine hinreißende Ahnung von Gefahr verborgen.
Und es war von Vorteil für seine Gemütsruhe, daß er nicht in die Zukunft zu sehen vermochte. Denn hätte er diese Gabe besessen, so wäre er in diesem Augenblick gepeitscht von Entsetzen entflohen, um einen einsamen Ort zu suchen, ein Versteck, eine Höhle, sich darin zu verkriechen, zu schaudern und zu beten.