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Zehntes Kapitel.

Ein Erwachen

Es ist Nacht geworden. Alles schläft und ruht. Gestern haben sie mich begraben. Die Schollen poltern noch immer auf meinen armen Kopf herab. Es ist recht traurig!

 

Kann es ein Nichts geben? Alles Vernunftlose muß ein Nichts sein, alles was kein Bewußtsein ist. Das unvernünftige Tier lebt und ist nichts. Der vernünftige Mensch lebt und leidet und legt sich dann hin und stirbt: geht ein in ein Nichts, wird zu nichts. Darin liegt auch kein Sinn und Verstand. Ist diese Schöpfung denn toll?

 

Warum ist mein Fenster vergittert? Warum umschleichen sie mich? Warum belauern sie mich? Ich bin nicht verrückt. Ich kann denken: Gott hat die Welt geschaffen, ich bin sein Geschöpf, der Mensch soll seinen Schöpfer loben und preisen, wir sind sündig vom Mutterleib an. Sie sehen, lieber Doktor, ich begreife das Unbegreifliche. Soll ich mit Ihnen über die Unsterblichkeit disputieren? Über Glück oder über Liebe? – – Sie müssen kein solch ernstes Gesicht dazu machen, übrigens muß ich Sie kennen. Wo habe ich dieses Gesicht schon einmal gesehen? In meinen Träumen, als ich noch lebte. – – Ach, da ist die dunkle Nacht wieder da! Sie wälzt sich über meinen Kopf, über meine Gedanken; sie zermalmt mich.

 

Alles ist riesengroß! Meine armen, winzigen Begriffe können an nichts heran. Aus dem Boden wachsen Wolkenwände auf, strahlen Flammen aus. Alles glüht und loht! Die Sonne rast um den Himmel und in meinem Gehirn kreisen wirbelnd alle Planeten. Wer mag mir meinen Kopf mit Rosen geschmückt haben? Wie sie duften! Mein Geist versinkt in Wohlgeruch.

 

Still, da wird sein Name gerufen! – – Ach, warum ließet ihr die Nachtigallen so laut schluchzen?! Nun habe ich nichts gehört. – – Laßt mich hinaus! Ich will hinauf in die Sonne und dem Gesang der Sphären lauschen. Wer gab euch das Recht, meine göttliche Seele in Fesseln zu legen?!

 

Welche Leere in meiner Erinnerung! Wenn ich vor Angst versuche, sie auszufüllen, so sinkt es wie unendlicher Nebel auf mein Gedächtnis herab. Ein dichter Schleier scheint ein geheimnisvolles Bild zu verhüllen. Was für eine Gestalt ist es, welche Züge trägt es? Wenn ich darüber nachdenken will, so empfinde ich an dem Schauer, der mich überläuft, daß es etwas Furchtbares sein muß. Ich stehe entsetzt davor. Aber wie ich auch mit gelähmten Lebensgeistern taste und taste, die undurchdringliche Decke zu heben, bleibt es doch bleischwer darüber gelagert. Es mag mein Glück sein. Wo bin ich?

 

Auch das empfinde ich sonderbar traumhaft. Wenn ich an mein Fenster trete, so sehe ich es vor mir wie das riesengroße Gemälde einer Alpenlandschaft. Bis zum Himmel steigt es empor: schwarze Wälder, graue Felsen, weiße, weite Schneefelder. Jetzt lagert purpurfarbenes Abendgewölk darüber. Im Tale, dicht am Flusse, lang hingestreckt, erkenne ich ein graues Dorf, von einem schlanken Kirchturm überragt; auf den Höhen wenige einzelne Häuser, jedes einsam für sich, mit einem Fleck spärlichen Ackerlandes, einem Streifen Wiese, einem Stücklein Tannenwaldes. Eine einzige Landstraße führt, immer an dem Felsenbett des wildflutenden Stromes entlang, vom Kamme des Gebirges her, zu dem Hügel hin, darauf sich ein Schloß erhebt. Hier hört der Weg auf, indessen der Strom noch eine Weile weiterbraust, bis er in Sumpf und zu zahllosen kleinen Bächen verrinnt.

 

Noch immer lagert unverrückbar das Wolkengebirge. Der Himmel lastet darüber wie der Deckel eines Sarges, der sich über die sterbende Erde herabsinkt. Ich höre sie ächzen, sehe ihr blasses Antlitz entstellt von Wahnsinnszügen. Über ihren heiligen Leib kriecht die Nacht und würgt alles Licht. Wenn sie tot ist, wollen wir sie unter dunklen Violen und blassen Narzissen begraben. Ob sie wohl wieder aufwachen wird, wenn die Sterne erblassen, der Morgen dämmert und der leuchtende Sonnenjüngling durch den Rosenvorhang in die stille Brautkammer bringt? Mir ist so bang um sie! Wie kann sie je wieder auferstehen mit diesen Felsenmassen auf der Brust? Es erstickt mich!

Ich sehe das alles vor mir, aber – seltsam! Es gelingt mir nicht, mich der Wirklichkeit dieses Bildes völlig bewußt zu werden. Eine Welle jenes grauen Nebelmeeres scheint auch hier alles zu überrieseln. Noch wunderbarer ist, wie ich mir selbst ein fremder Gegenstand geworden bin; gerade, als ob außer meinem einen Ich noch ein zweites da wäre, das ich wie ganz von mir losgelöst betrachten und anschauen kann. Alles, was ich empfinde, scheint von diesem gespenstischen Wesen auszugehen und in meine Seele zu dringen. An der Seite dieser Genossin, die mein eigenes Gesicht hat, verbringe ich die Tage, die Wochen, die Monate, in grauenvollem Zusammenleben mit meinem eigenen Selbst, von dem ich mich nicht lossagen kann, was ich auch tue, um diesem Spuk zu entrinnen. Ich bin zu zwei in meinem Zimmer, ich durchwandle zu zwei die Säle. Wenn ich mich bewege, wenn ich gehe, rede, sehe, denke – was ich so denken nenne – so weiß ich ganz genau, daß ich es bin und doch wieder nicht bin, die alle diese Daseinsfunktionen verrichtet. Betrachte ich mich im Spiegel, so rede ich den einen Teil meines Doppelwesens an: »Arme Rolla, wie blaß bist du! Was fehlt dir? Wie – nichts! Es geht dir ganz gut? Du bist glücklich? – – Was sagst du? Du wüßtest es nicht? Gott behüte deinen armen Verstand!

 

Was ist mit mir geschehen? Wo war ich so lange? Wie komme ich hierher? Ich bin schon einmal hier gewesen; aber wann war das? Alle diese Säle und Gemächer, diese Galerien und Gänge kenne ich. Alle Gegenstände darin sind mir vertraut. Diese Vertäfelungen, diese Malereien, diese Stoffe und Möbel, diese Vasen und Statuen; sogar diese Blumen sah ich schon einmal. Wundersam!

Ach, lieber Freund, kannst du mir's nicht sagen?

 

Ja, dich kenne ich! Wenn du bei mir bist, meine Hand fassest, oder mit der deinen leise und leicht über mein Haar fährst, mit deinen klaren, ernsthaften Augen mich ansiehst – wenn du zu mir redest; dann, ja, dann weiß ich, daß ich bei dir bin, wohl aufgehoben, geborgen, gerettet! Dann weiß ich, daß du immer bei mir warst, auch in jener großen Öde, von der ich alle Erinnerungen verloren. Dann weiß ich, daß wo du bist, der Mensch nie ganz unglücklich sein kann. Aber, liebster Freund, sage mir nur – –

Nein, er sagt mir nichts. Nun, er muß es wissen. So will ich denn weiter leben Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr und nichts denken, nichts denken wollen. Es ist alles so öde, draußen die Welt und in mir meine Seele. Ob das wohl noch einmal anders wird? Ob auf den Alpen wohl noch einmal die Schnee- und Eisfelder hinwegschmelzen und ich dort Blumen pflücken kann?

 

Wenn ich nur wüßte, weshalb ich stundenlang am Fenster stehe und unverwandt hinaussehe, hinab auf den Weg, den einzigen, den ein Wanderer ziehen kann, der von weit, weit her aus der Welt kommt, in dieser Einsamkeit jemand zu suchen. Wen wohl?

 

Wer seufzte so tief? – – Gewiß, lieber Freund. ich will nicht darüber nachdenken? aber wenn ich nur wüßte – –

 

Ich muß in meinem Kopf immer nach etwas Verklungenem suchen. Ist es eine Melodie, ist es ein Name? Ich möchte immer Briefe schreiben; aber an wen? Ich möchte immer etwas sagen; aber was? Kann man erleben und vergessen? Führt das Schicksal des Menschen eine so leichte, flüchtige Hand, daß seine Schriftzüge aus unserem Gedächtnis verschwinden könnten, als wären es die schwankenden Buchstaben eines Kindes, die von der Schiefertafel weggelöscht werden? Ach, es gibt so vieles, was Vernunft und Verstand nicht zu fassen vermögen. Vernunft und Verstand – sind dies so festgefügte Kräfte, daß kein Sturm sie erschüttern kann? Sind Vernunft und Verstand nicht zu zerstören und können wir sie wieder finden, wenn wir sie einmal verloren? Es gibt Irrenhäuser, also muß es Wahnsinnige geben, also auch Schicksale, die den Menschen um seine Vernunft bringen. Man hat Beispiele davon. Wenn ich mich nur auf eins besinnen könnte: wenn mir nur jemand die verklungene Melodie, den verklungenen Namen wieder sagte. Ich werde mich noch um den Verstand grübeln!

 

Um mich wird's lichter. Wenn ich die Augen schließe, so schaue ich bunten Glanz: der Tag bricht an! Wer hat mir von meinem Kopf die Schollen herabgewälzt? Soll ich wieder leben – – Ach, lieber Freund, bist du da? Wir wollen glücklich sein.

 

Aus dem Nebel tauchen allerlei Gestalten auf, allerlei Gesichter. Ach, meine Mutter!

 

Wer ist das weiße Antlitz? Wie das blonde Haar daran klebt, wie es auf den grauen Wellen dahintreibt! – – Jetzt taucht es hinab. Margarete. Margarete! – – Unbarmherziger Gott, Frank, du bist es gewesen?

 

Der Schleier zerreißt; jetzt weiß ich's. Meine Mutter ist tot, Anna hat sich ertränkt, Frank ist fort, ich bin wahnsinnig gewesen.


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