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Rolla.

Erster Teil.

Erstes Kapitel.

Schwankende Gestalten.

Heute, beim Kramen in alten Papieren, fiel mir ein Paket Photographien in die Hände. Das vergilbte Seidenband, welches es zusammenhielt, löste sich, so daß die einzelnen Blätter sich vor mir ausstreuten. Gedankenlos nahm ich eines der Bilder auf: ein junges Mädchen im altmodischen, weißen Mullkleid, Blumen im Haar, mit großen, sehnsuchtsvollen Augen – –

Nachdem ich das Bild lange betrachtet, legte ich es fort, ohne eine der übrigen Photographien angesehen zu haben. Dann stand ich auf, trat zum Spiegel und blickte lange auch mein Spiegelbild an. Aber wie betäubt ließ ich endlich von der Totenschau ab. Beide Hände vor das Gesicht gepreßt, das solche Veränderung erlitten, versuchte ich darüber nachzudenken; und jetzt – es ist tief in der Nacht – sitze ich und beginne die Geschichte jener Wandlung niederzuschreiben.

 

Ich führe den ungewöhnlichen Namen Rolla, nach meiner Großmutter so genannt, einer schönen, stolzen, unerbittlich strengen Frau, die von meiner Mutter, obgleich ihrer Heirat wegen von ihr verstoßen, schwärmerisch geliebt wurde.

Mein Vater war Lehrer an einer Stadtschule und zwar in so bescheidener Stellung, daß er Zeit seines Lebens mit Sorgen zu kämpfen hatte. Er starb in seinen besten Jahren, kurze Zeit nach meiner Geburt. Kaum konnte er das kleine Geschöpf an sein Herz drücken, sich freuend, daß es die blauen, strahlenden Augen der Mutter hatte und allem Anschein nach den trotzigen Mund des Vaters bekommen würde.

Diesen frühen Tod des Gatten und Ernährers machten besondere Umstände noch trauriger.

Mein Vater hatte sich leidenschaftlich in meine Mutter verliebt, als er in der reichen, nordischen Patrizierfamilie dem schönen Mädchen Unterricht im Zeichnen erteilte. Seine Neigung geheim haltend, denn er war arm und stolz, suchte er eine Empfindung zu unterdrücken, die ihn unglücklich machen mußte. Er beschloß, zu gehen, ging auch, nachdem er beim Abschied erfahren, daß er wieder geliebt werde.

Lange Zeit widerstand meine Mutter den Bitten, Vorwürfen und Drohungen der Ihrigen. Ihr Vater starb unterdessen, ebenso einer der Brüder; während ihre einzige Schwester, die eine Konvenienzheirat geschlossen, sich von ihrem Manne scheiden lassen wollte. Doch nichts konnte meine Großmutter erweichen. Sie sah ihre zarte Tochter hinwelken, die Ärzte sprachen sogar von Auszehrung: aber das Rettungsmittel, das so leicht hätte gegeben werden können, wurde der Ärmsten verweigert.

Ebenso unerschütterlich blieb ihr Verlobter. Er war ein Handwerkerssohn und besaß keine großen Fähigkeiten, wenigstens nicht zum Lehrberuf. Mit seinem kräftigen Wesen und seiner freien, zuweilen wild ausbrechenden Natur hätte er besser zum Landmann oder Jäger gepaßt. Zu hartnäckig, um aufzugeben, was er einmal angefangen (ein kleines Zeichentalent und drückende Verhältnisse gaben die erste Veranlassung zu seiner Wahl), bekleidete er in der Hauptstadt die Stellung an einer guten Volksschule. Hoffnungslos, jemals das heißgeliebte Mädchen sein Weib nennen zu dürfen, beschwor er dieses, ihn aufzugeben.

Er erwartete gerade ihren letzten Brief; da kam sie selber: eine Ausgestoßene, eine Verlorengegebene – eine Gerettete! Aber es dauerte lange, bis Liebe und Glück diese, in ihrem innersten Sein zerrüttete Natur wiederherzustellen vermochten, und erst nach vielen Jahren wurde das erste Kind geboren. Der glückliche Vater sah es und starb.

Gottesglaube und Mutterliebe machten es der Witwe möglich weiterzuleben; aber ihr Dasein, das sich eben erst zu einer spaten Blüte hatte entfalten wollen, war für immer geknickt. Solange sie lebte, blieb sie zart und kränkelnd, für ihre schwärmerisch angelegte Tochter in ihrer himmlischen Güte und Holdseligkeit eine fast unirdische Gestalt.

Denke ich an meine ersten, schattenhaften Erinnerungen zurück, so sind das Bild meines Vaters und das Grab meines Vaters die ersten starken Eindrücke, auf die ich mich besinnen kann. Wenn ich noch das schöne, stille Antlitz meiner angebeteten Mutter und das freilich minder liebliche unserer getreuen Magd nenne, so habe ich damit die vier großen Empfindungen meiner Kindheit bezeichnet.

An sonnigen Sommernachmittagen ging die Mutter, die immer ein schwarzes Gewand trug, zuweilen mit mir zum Tor hinaus. Wie ich mich jedesmal darauf freute! Ich hatte mein Sonntagskleid an und beide Händchen voll Blumen. Wir kamen in einen großen Garten – wie war es da schön! Unter dunklen Bäumen standen viele weiße, schimmernde Steine, viele blasse Bilder, um welche Rosen und Lilien blühten. An kleinen, umgitterten Blumenbeeten knieten Frauen, alle schwarz gekleidet wie die Mutter. Einige weinten. Ringsum war's geheimnisvoll, lautlos und feierlich! Wenn ich über einen Schmetterling, der im Sonnenschein über die Blüten gaukelte, aufjubeln wollte, so ward mir das gleich verwiesen. Dann mußte ich meine Blumen auf einen Stein niederlegen, der ganz voll hübscher, goldiger Zeichen war.

Zu Hause spielte ich dann: »Das Grab meines Vaters«.

Selbst ein Grab zu haben war damals meine höchste Sehnsucht. Ein solches dünkte mir schöner, als die rosigen Abendwolken und der Sternenhimmel. Seltsam ist, daß jetzt, da ich dieses schreibe, meine heftige Kindersehnsucht wieder zurückkommt: ein Grab mir lieber ist und mir schöner deucht, als der Himmel mit all seinen Seligkeiten.

Ich war ein äußerst phantastisches Kind. Leicht konnte ich mir vorstellen, daß die Steine Lichter seien, die allabendlich von den Engeln angezündet wurden. In meinen Träumen sah ich das ganze Firmament mit lichten Gestalten bevölkert. Aber trotz meiner glühenden Vorstellungskraft gab es ein Wesen, dem ich keine Gestalt zu verleihen vermochte; das war Gott.

Daß ich mir diesen großen und guten Geist gar nicht denken konnte, verursachte mir seltsamem Kind bereits damals heftigen Schmerz; denn bereits damals hatte ich das dringende Bedürfnis, mir alles, wovon ich hörte und was mich lebhaft beschäftigte, zu verkörpern und dann in diese leuchtenden Erscheinungen mein eignes kleines Ich hineinzuphantasieren.

Da mag man sich denn vorstellen, was für mich die Märchen waren. Meine feinsinnige Mutter, tief erschrocken über die heftige Aufregung, in die ich durch jede Geschichte versetzt wurde, versuchte ängstlich, mich vor solchen Erschütterungen zu bewahren. Dennoch wußte ich mir die verbotenen Genüsse zu verschaffen, deren gefährliche Wirkung durch die Heimlichkeit, mit der ich sie genoß, nur verstärkt wurde. Ich sehe mich noch, ein ganz kleines Ding, zitternd vor Erregung, in die Küche schleichen, Luisen, die gute Seele, die mir nichts abschlagen konnte, beschwörend: mir aus »Barmherzigkeit« die Geschichte von dem armen Aschenputtel oder dem lieben Schneewittchen nur »noch ein einziges Mal« zu erzählen. Es bedurfte stets eines großen Aufwands von Liebkosungen und Schmeichelworten, bis ich Luisens Zaudern und Zweifeln überwunden und sie dazu vermocht hatte, mir unter Brummen und Schelten einige Brosamen von ihrem Märchenschatz zuzuwerfen. Die Mutter war vielleicht gerade ausgegangen oder in der Dämmerstunde ein wenig eingenickt.

Da hockte ich nun auf meinem kleinen Fußschemel, die Händchen gefaltet, wie ich es beim Gebet tun mußte, mit großen staunenden Augen an den unlieblichen Lippen der Erzählerin hängend. Für meinen heißen Durst erhielt ich wirklich nur tropfenweise gespendet. Nichts weniger als ein weiblicher Cicero, stammelte Luise die einfachen Geschichten so verwirrt her, wie auf der ganzen Welt nur sie allein es fertig bekam. Schon beim drittenmal kannte ich sie besser als meine Fatima selbst. Eine Weile ertrug ich's, bis ich – Luise befand sich vielleicht gerade in einer hoffnungslosen Konfusion über das verwandtschaftliche Verhältnis Schneewittchens zu ihrer Stiefmutter – flehentlich bat: »Willst du es mir nicht sagen, liebste, beste Luise?«

Sie sagte mir's, aber gräßlich falsch! Das hielt ich nicht aus. Ich sprang auf.

»Ach, Luise, das ist ja nicht wahr!«

»So!« rief diese, höchlichst entrüstet, »willst du's besser wissen, kleines Ding? Will das Küchlein schon jetzt klüger sein als die Henne?«

»Sei mir nicht böse; aber es war ganz gewiß anders.«

Nun erzählte ich das Märchen, wobei ich die Personen stets selbst sprechen ließ. Hatte Dornröschen oder Aschenputtel etwas zu sagen, so stellte ich mich vor Luisen hin, bewegte meine Ärmchen und ließ meine kleinen Heldinnen mit rührender Stimme ihr Leid klagen. Kam es zum Sterben, so konnte ich oft vor Schluchzen nicht weiter; wachte jedoch Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg wieder auf und wurde Aschenputtel zuletzt gar Prinzessin, so war die Freude grenzenlos.

Luise, die, zuerst auf das tiefste beleidigt, mächtig mit ihren Tellern und Schüsseln geklappert, war allmählich ganz still geworden. Von Zeit zu Zeit brach sie in begeisterte Ausrufe aus, womit sie mir immer förmlich weh tat. Hatte ich geendet, pflegte sie niederzuknien, mich zu küssen und an sich zu drücken, bis es mir den Atem benahm. In stillem Glück ging ich fort, hinaus in den Garten, wo ich mich unter einem Strauch niederkauerte und noch eine gute Weile Aschenputtel oder Schneewittchen weitererlebte.

Ich müßte jetzt von meiner Mutter sprechen – als ob sich's von einer Mutter sprechen ließe! Ich will erzählen, wie sie aussah, was sie tat, wie sie mich liebte. Wie sie aber war, was sie war, das kann ich so wenig erzählen, als sich's erzählen läßt, was Liebe und Güte ist. Ich sehe sie vor mir. Sie trägt ihr schlichtes, dunkles Kleid. Ihr lichtbraunes Haar ist tief über Stirn und Wangen gelegt. Wie blaß diese sind! Oft fährt sie mit ihrer zarten, weißen Hand über den Scheitel hin, den weichen Glanz mit leichter, leiser Bewegung glättend. Was ist's für eine sanfte, gütige Hand! Außer einem, der längst im Grabe ruht, weiß das nur ihr Kind.

Während mir die Mutter wie eine meiner Märchengestalten selbst erschien, sah ich sie viele Stunden des Tages eine Arbeit verrichten, die mir, die ich staunend zuschaute, ein Wunder deuchte. Die Blumen, die draußen aufsproßten und dufteten, erblühten vor meinen Augen auf ihrem Schoß, ein ganzer Garten von Knospen und Kelchen!

Mit ihrem zarten Gesicht und ihrer schmächtigen, zierlichen Gestalt, sah sie fast jugendlich aus; und das selbst dann noch, als ihr brauner Scheitel bereits zum reinsten Weiß erbleicht war. Das kam allerdings sehr früh. Wie sie später nicht mehr zu sorgen und zu sparen brauchte, vertauschte sie ihr schwarzes Kleid mit einem lichten. Als käme ihr mit dem späten Glück noch einmal die Jugend zurück, sah ich die geliebte Gestalt von da an immer gleichsam von Schimmer umflossen. Und so erblicken meine Augen sie jetzt, wo ich nicht mehr zu dem heiligsten Platz, den der Mensch auf der Welt hat, flüchten kann, zu der Brust der Mutter, um dort auszuruhen und Frieden zu finden.

 


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