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Den Tag, an dem Doktor Fernow mein lieber Arzt und treuester Freund ward, möchte ich in der Geschichte meines Lebens mit Tränen niederschreiben, von denen ich nicht weiß: soll ich sie Freuden- oder Schmerzenstränen nennen. Ich glaube beides: die Schmerzenstränen geweint um ihn, die Freudentränen um mich. Noch heute kann ich stundenlang darüber sinnen und mich in Grübeleien verlieren: daß solch eine einzige Zufälligkeit, wie das Kennenlernen eines Menschen es ist, ein ganzes Leben umgestalten und wandeln kann, sei es nun zum höchsten Glück oder zum tiefsten Leid. Da lebt man in einem Gewühl gleichgültig dahin; Schar auf Schar führt das Leben an einem vorüber: jede Schar einer Welle gleich, vorbeifließend, ohne daß ihr nachgeblickt wird, ohne daß man das Rauschen vernimmt. Da kommt der eine. Er hätte ebensogut vorübergehen können, ohne daß er bemerkt worden wäre, oder bemerkt hätte. Ein Zufall läßt ihn aufsehen. Seine Augen begegnen dem Blick eines anderen Auges. Er bleibt stehen. Ein Wort wird gesprochen, eine Hand wird ausgestreckt, wird erfaßt – und unaufhaltsam muß sich das Schicksal erfüllen. Das nennt man dann je nachdem Vorsehung oder Verhängnis.
Niemals in meinem Leben bin ich einer ähnlichen Übereinstimmung von Beruf und Wesen begegnet, wie ich sie bei Fernow fand. Er war Arzt aus derselben innern Notwendigkeit, mit der ich Schauspielerin war. Wie einem Gegenstand diese und jene Eigenschaft innewohnt, ebenso naturgemäß mußte ich schauspielern, mußte er heilen. Hier waren wir uns völlig gleich.
Er haßte nichts so sehr wie Dämmerung, und gestattete verhüllte Fenster nur in ganz gewissen Fällen. Licht war ihm das schönste Himmelsgeschenk: Gestaltete sich doch alles im Licht, drängte sich doch alles zum Licht! Ein dunkles Zimmer und ein dunkles Menschengemüt waren ihm unerträglich. Ebenso unerbittlich verhielt er sich gegen Dumpfheit. Daß die Menschen so wenig über sich selbst nachsannen, erfüllte ihn mit Zorn. Er selbst dachte über sich bis zur Grübelei; und so war es denn einer seiner größten persönlichen Wirkungen auf seine Umgebung, daß er sie zum Nachdenken über sich selbst zwang.
Oft war er hartnäckig bis zur Starrheit. Für eine gefährliche Wunde dünkte ihm kein Mittel zum ätzen derselben zu scharf. Ehe er einen Schwerkranken aufgab, ward noch ein letztes Mal die gewagteste Kur versucht. Oft hat er so durch seine Kühnheit und seinen Trotz ein Leben dem Tobe abgerungen.
Übrigens mutete er einem Leidenden niemals größere Fähigkeit im Ertragen von Schmerzen zu, als seine Natur demselben erlaubte. Er persönlich hatte darin eine solche Stärke, daß er bei einer etwaigen Amputation an sich selbst sicher jedes Betäubungsmittel verschmäht haben würde. Dabei konnte er wieder so weich und innig sein, daß seine Hand war wie die einer zärtlichen Frau: heilend bei ihrer Berührung. Man fühlte sich in seiner Nähe so beruhigt, so sicher! Ich wüßte nicht, was ich nicht hätte ertragen können, mit seinem ruhigen Blick auf mir, welchen schwindelnden Pfad ich nicht hätte wandeln können, von seiner starken Hand geführt, welche Gefahr ich gefürchtet hätte, an meiner Seite den Freund.
Er war Arzt; aber er hatte ebensogut Philosoph, Naturforscher – Prediger sein können; oder auch nichts von allen. Wie er einmal war, schien er geschaffen, den Menschen Gutes zu tun.
Nur zum Schauspieler war er verdorben. Jamben und Verse las er schlecht, Prosa dagegen vortrefflich. Was Spiel war, wußte er nur an anderen. Aber hier war seine Kenntnis gerade erstaunlich. Trotz seines Untalents zur Darstellung wäre er doch ein großer Lehrer gewesen. Allerdings war seine Methode so eigenartig und absonderlich, daß er schwerlich viele Schüler gefunden. Was ich ihm in dieser Beziehung zu verdanken habe, wird der Leser dieser Aufzeichnungen zur Genüge Gelegenheit haben, kennen zu lernen und nach eigenem Ermessen zu beurteilen.
Unterdessen setzte mein lieber Arzt seine Kur fort.
Gleich am andern Tag nach jener ersten Unterredung begannen wir mutig zu zerstören. Ich kündigte der Akademie meinen sofortigen Austritt an und begab mich zum gleichen Zweck zu dem großen Mann.
Der Direktor jenes Kunstinstitutes war außer sich: ich hätte auf seiner Bühne mein Glück gemacht, ich wäre auf seiner Bühne die Rachel Deutschlands geworden! Als er mich die Rachel so gelassen aufgeben sah, machte er mir sogar das Anerbieten einer Gage, eine für das Akademietheater unerhörte Sache. Ich dankte höflichst und ging.
Noch denselben Tag kam er zu meiner Mutter, die ihm jedoch nur bedauernd sagen konnte, daß ihre Tochter ihren eigenen Willen habe.
Viel peinlicher war der Austritt bei dem großen Mann. Er machte mir eine förmliche Szene, bei der das Spiel sehr ernst war.
Ich erfuhr, daß es mir nur durch ihn möglich wäre, Künstlerin zu werden. Alles, was ich bereits sei, habe ich nur durch ihn gelernt, habe ich nur ihm zu verdanken. Ich mußte hören, wie bescheiden und demütig ich zu ihm einst gekommen, wie er sich mit mir geplagt, mich vor allen anderen bevorzugt – – wie er von mir das geringste Honorar erhalten.
Da verließ ich das Zimmer. Zu Hause angelangt, setzte ich mich hin, schrieb ihm einen höflichen Brief und schickte mich mit schweren Herzen eben an, zur Mutter zu gehen, diese um eine goldene Einlage zu bitten, als der Diener des großen Mannes kam mit einem langen Briefe von diesem.
Es war kläglich! In einem fast weinerlichen Tone wurde ich um Verzeihung gebeten, wurde ich mit höchstem Pathos beschworen, seine Schülerin zu bleiben. Von Honorar dürfte nicht mehr die Rede sein. Er beteuerte, daß er mir einen wahren Triumphzug über die Bühnen Deutschlands bereiten werde und machte sich anheischig, für mich den Ruhm vom Himmel herabzureißen.
Ich ließ den Diener warten, tat den schweren Gang zur Mutter, fügte meinem Brief ein Postskriptum bei, schickte ihn fort. Daß ich es niederschreiben muß! Kaum war eine Stunde vorüber, als der große Mann selber kam. Da er wieder ging, hatte ich mir einen Todfeind gemacht.
Wenn Luise mich für »rein toll« erklärte, so war die Mutter tief besorgt und betrübt. Hatte sich doch bereits alles so günstig gestaltet! Und nun sah sie mich alles aufgeben und hinwerfen, und wieder mit dem Anfang zu beginnen. Selbst Fernows ruhige und klare Auseinandersetzung bewirkte nur, daß sie uns – daß sie ihm vertraute, gramvoll genug!
Fernow bezeigte sich mit allen diesen Ergebnissen ungemein zufrieden; ich war heiter und zuversichtlich.
Das Niederreißen war geschehen; jetzt mußte aufgebaut werden.
Eines Morgens, noch in derselben Woche, da dies alles sich begeben, trat Fernow bei mir ein. Er konnte seine Aufregung kaum verbergen.
»Was haben Sie?« rief ich ihm entgegen, über eine solche ungewohnte Erregung heftig erschrocken.
»Gutes, Bestes! Ich sprach mit dem Intendanten der königlichen Schauspiele über Sie und – Sie werden höchstwahrscheinlich an die Hofbühne kommen!«
Ich war bleich geworden, ich zitterte.
»An die Hofbühne?« stammelte ich. »Das ist ja nicht möglich!«
»Pah, es ist nur das vornehme Wort, das Ihnen den Atem versetzt. Wir sind durchaus nicht schlechter als andere, welche die erhabenen Mitglieder jenes majestätischen Institutes sind. Im Gegenteil! Wir wollen ihnen und uns selbst zeigen, was wir werden wollen: eine ehrliche Künstlerin, kleine Freundin. – Aber jetzt beben Sie nicht, frohlocken Sie auch nicht, sondern jetzt arbeiten Sie! Und das ohne jede Hast, mit aller Ruhe und Gelassenheit. Ich werde mir erlauben, von meinem Rechte, tyrannischer Hausarzt zu sein, den umfassendsten Gebrauch zu machen und mich sogar um das Rollenstudium meiner jungen Primadonna kümmern. Das ist zudringlich, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Fangen wir gleich an. – – Sie studierten, als ich kam; was studierten Sie?«
Ich reichte ihm das aufgeschlagene Buch hin; er schaute hinein, gab es mir wieder zurück.
Dann, nachdem er sich gesetzt, begann er: »Vor allen Dingen, liebe Freundin, legen Sie jetzt Ihren Schiller beiseite. Wie Sie gegenwärtig noch beschaffen sind, kann von Schiller nimmermehr Gutes für Sie kommen. Ich hätte Ihnen Ihren Liebling nennen sollen, als ich damals so eifrig über Natur und Unnatur dozierte. Denn würde mich zum Beispiel irgendein widerwärtiger Kerl fragen: Um Gottes willen, wie kommt Fräulein Rolla zu jenem unerquicklichen Pathos? (Es ist ein unangenehmer Mensch, liebe Freundin), so müßte ich zerknirscht stottern: Durch Friedrich von Schiller, mein Verehrter! – So soll man doch diesen Schiller gleich – hübsch fortlegen.«
Damit stand er auf, nahm mein liebes Buch, stellte es in den Schrank zurück.
»Er kommt bald wieder zu Ihnen,« suchte er mich zu trösten; »für Sie viel zu bald. Denken Sie doch an Ihre sechzehn Jahre! – Wie, es sind wirklich schon siebzehn? – – Aber ich sehe an Ihrem ernsthaften Gesicht, daß ich auch ein solches machen muß.«
Er setzte sich wieder.
»Daß Sie viel zu früh mit Schiller begonnen, gehört auch mit zu jenem ›Unglück‹ weswegen ich Sie damals bedauern mußte. Kein Dichter hat so großartig auf das Schauspiel gewirkt, keiner so schädlich auf die Schauspieler.
Daß in den Theaterschulen so schrecklich einmütig Schiller bereits im ersten Kursus verbraucht wird, daß die erste, schüchterne Versuchsvorstellung unter zehn Malen neunmal ›Kabale und Liebe‹ ist, erscheint mir äußerst bedenklich. Ich muß mich stärker ausdrücken. Mit Schiller wird ein wahrer Unfug getrieben; man schändet ihn!
Jedes jugendliche Talent äußert sich am stärksten in der Emphase, im Pathos. Anstatt, daß nun diese gefährlichen Anlagen von den Lehrern unterdrückt würden, wie Keime zu sittlichen Krankheiten, werden sie durch die gewaltigsten und gewaltsamsten Mittel entwickelt und ausgebildet. Wie heißen dieselben? Schiller!
Diese stolzen, prächtigen Jamben, die wie Tonwellen dahinwogen, das muß ja berauschen! Schiller von einem Anfänger ohne ganz übertriebenen – lächerlichen Pathos deklamiert, deucht mir eine Unmöglichkeit. Bei Schiller schwelgt unsere Sprache in Melodie und Wohllaut. Nichts ist leichter, als mit der Deklamation von Schiller einen gewissen Erfolg zu erzielen; nichts ist schwerer, als Schiller wirklich gut zu sprechen. Wie dieser Dichter stets sich selbst von der Gewalt seines eigenen Genius fortreißen läßt, so reißt er wiederum mit seiner dämonischen Schönheit den jungen Schauspieler fort. Da sind nun diese Scharen von sogenannten Kunstjüngern: alle mit leerem Herzen und leerem Hirn; und alle deklamieren sie Schiller! Ihnen darf ich es ja wohl vertrauen: es ist fürchterlich! Und es ist überdies – ich muß es noch einmal sagen – eine Mißhandlung unseres lautersten Genius. Um Schiller mit Würde zu spielen, braucht es des Meisters, der die glühendsten Stoffe beherrscht, so ruhig wie ein Gießer sein feurig flutendes Metall. Der Schüler soll sich achtungsvoll in möglichster Entfernung davon halten: er kann sich damit ernstlichen Schaden antun.
Schiller zwingt geradezu zur Emphase und zum Pathos. Beide aber werden nur zu leicht zur Unnatur. Schiller vorsichtiger – respektvoller behandelt, und wir würden mehr Natur auf unseren Bühnen besitzen. Sehen Sie sich doch seine Gestalten an: Schöne Erscheinungen sind es, aber nicht Menschen, die auf Erden wandeln. Sie schweben in Lüften und strecken ihre Arme nach der Sonne aus. Lichte Geister, die sie sind, gebärden sie sich nur wie Menschen, deren verklärte Gestalten sie angenommen haben. Schillers Gebilde kommen mir vor wie wundervolle, unirdische Formen, die der Künstler nur deshalb geschaffen hat, um in sie seine erhabene Seele zu legen. Sie scheinen mir schönen Marmorbildern zu gleichen. Wenigstens stehe ich mit der Empfindung vor ihnen, daß ich Idealbilder bewundere, die wir in Wirklichkeit niemals erleben. Es sind eben Dichtungen und nicht Wahrheiten. So sehr man auch dagegen protestieren mag: der Psycholog und Menschenkenner sieht sich den Gestalten unseres lieben Dichters gegenüber nur allzu oft in Verlegenheit.
Denken Sie an Lessing, Goethe und Shakespeare, so werden Sie verstehen, was ich meine. Bitte, sprechen Sie mir doch einmal den Monolog der Maria.«
Ich stand ohne weiteres auf, kreuzte, wie das bei Zimmerdeklamationen meine Gewohnheit war, die Arme über der Brust und sprach die gewünschte Stelle.
»Besser als auf der Bühne,« urteilte mein Freund. »Haben Sie wohl bemerkt, wie Sie im Klang schwelgten, wie Sie melodiös waren, empathisch, pathetisch! Sagen Sie mutig: ja!«
»Es kommt mir heute wirklich so vor, als ob ich den ganzen Monolog eben deklamiert hätte.«
»Sehen Sie!« triumphierte der Freund. »Und deklamieren sollen Sie nicht. Sie sollen reden!«
»Also, mein lieber Dichter, Ade. Ist deine Freundin verständiger geworden, sehen wir uns wieder.«
Ich nickte der kleinen Gipsbüste auf meinem Schreibtisch – sie war mein Heiligtum – freundlich zu und dann ebenso meinem lieben Arzt.
»Und was an seiner Statt?«
»Lessing,« ward mir erwidert.