Richard Voß
Die Rächerin und andere römische Novellen
Richard Voß

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17.

Selbst mein neues Leben in Rom und eine Sturmflut von neuen Eindrücken konnten die Erinnerung an das Molarathal, an die Familie Latini und alles, was ich zusammen mit ihr erlebt hatte, nicht verblassen machen. Fiammetta war nicht nach Rom gekommen, auch Raffaelo sah ich nicht wieder. Aber im Atelier stand mein Bild, von dem ich mich nicht trennen konnte. Und aus dem Rahmen blickten die dunklen Augen der schönen Sabinerin unverwandt in die Ferne, als müßte von dorther – nicht mehr der Geliebte kommen, sondern der Rächer.

Ich erkundigte mich bei den übrigen Modellen nach den beiden, erfuhr jedoch nichts; ich wollte selbst ins Molarathal, wo die Latini jetzt wieder ihre Herden weiden und im Grabmal der Furier hausen mußten, kam jedoch niemals dazu, mein Vorhaben auszuführen. Jeden Morgen kaufte ich mir den »Messagero« und suchte in diesem etwas bedenklichen Volksblatte nach den Unglücksfällen und Verbrechen, die wie Titel von Schauerromanen lauten. Jeden Morgen befürchtete ich lesen zu müssen: »Die Blutrache der schönen Fiammetta oder der verbrannte Sabiner im Molarathal«. Übrigens war ich überzeugt, daß ihre Rache schließlich doch jenen Sergeanten aus dem Molarathal treffen würde.

Inzwischen hatte sich der Krieg der Italiener in Afrika in erschreckender Weise mehr und mehr als ein Abenteuer im größten und gräßlichsten Stil, als ein Verbrechen gegen das italienische Volk erwiesen. Wenn ich die Nachrichten las, so fragte ich mich, ob ich nicht träumte? Wir sollten im neunzehnten Jahrhundert leben und Italien sollte ein Kulturstaat sein? Die Römer saßen im Café Aragno, standen auf der Piazza Colonna, promenierten im Corso und auf der Via Nazionale, debattierten über die Affaire in Afrika, erhitzten sich und – ließen immer neue Massen von Schlachtopfern hinübersenden. Wie hätten sie es auch verhindern sollen? Das würde nur eine Revolution vermocht haben und die Italia Unica war trotz allem und allem gut monarchisch. Es kam der Tag von Adua: die Italiener erlitten die schimpflichste Niederlage. Die Römer saßen im Café Aragno, standen auf der Piazza Colonna, promenierten im Corso, auf der Via Nazionale, debattierten, erhitzten sich und – – ja, und einige schämten sich sogar.

Andere rotteten sich zusammen, stießen Verwünschungen aus gegen den heldenhaften General Baratieri und den großen Staatsmann Crispi und zogen vor den Quirinal, darin das zitternde Königspaar saß und – bereits seine Koffer packen ließ.

Aber das war ein kleines Häuflein Unzufriedener, welches Carabiniers und Soldaten auseinander trieben. Vor dem Quirinal ward es wieder ruhig, die königlichen Koffer wurden ausgepackt, im Café Aragno debattierte man weiter, unterdessen das geduldige italienische Volk noch immer nicht wußte, welche von seinen ärmsten Söhnen bei Adua geschlachtet, verstümmelt oder gefangen worden waren?

Die schwergeprüfte Nation sollte – im neunzehnten Jahrhundert! – die Opfer des Krieges nach Monaten und Monaten noch nicht erfahren haben ...

Aber der große Staatsmann fiel. Das bei Adua vergossene Blut forderte ein Sühnopfer und Francesco Crispis schöne Tage von Rom gingen zu Ende: der getreue »Checco« des guten Lorenzo Latini wurde abgethan – einfach abgethan!

In diesen, selbst für den Fremdling aufregenden Zeiten war's, daß ich aus dem Molarathal einen Besuch erhielt; und zwar kam mein wackerer Lorenzo selbst.

Wie alt er geworden war, wie müde er aussah! Als ob er sich noch immer nicht erholen könnte von der Mattigkeit, die ihn auf seiner sommerlichen Wanderung nach Rom befallen hatte, als der »Checco« den alten Freund von der Via Appia nicht wieder erkannte. Er ließ sich sogleich schwerfällig auf den ersten besten Sitz nieder, seufzte tief auf, daß es wie ein Stöhnen klang, und starrte abwesenden Geistes vor sich hin. Ich schenkte ihm Wein ein und gab ihm das Glas in die Hand. Doch trank er nicht und saß da, als wüßte er von meiner Gegenwart nichts. Dann versuchte ich, ihn seinem Brüten zu entreißen:

»Wie steht's im Molarathal, alter Freund?«

Wie sollte es stehen? Wie es immer stand. Ja, ja, genau so wie immer.

»Und die Herde?«

Gut, ganz gut. Er glaubte, daß es auch mit der Herde gut stände.

»Raffaelo?«

O der! Der weidete die Herde, würde groß und stark werden und – ja, und finge an, seinem Bruder ähnlich zu sein.

Damit stockte unser lakonisches Gespräch. Nach Fiammetta fragte ich nicht. Ich fand dazu nicht den Mut. Auf wiederholtes Nötigen trank er endlich und er trank wie ein Verschmachtender.

Jetzt belebte er sich. Er sah auf und sein erster Blick fiel auf mein Gemälde aus dem Molarathal. Als er die in regungsloser Erwartung dastehende Frauengestalt sah, durchlief ein Zittern seinen Körper.

Ein Ausbruch leidenschaftlicher Erregung erfolgte, bei dem ich alle Fassung verlor. Und jetzt erfuhr ich ... Wie eine Furie, wie eine Teufelin hatte Fiammetta in Cesares Vater gedrungen, den Tod seines Ältesten zu rächen; und zwar an dem Manne zu rächen, den sie für den Urheber des Krieges und den eigentlichen Mörder Cesares hielt und der kein andrer war als – Crispi. Tag und Nacht hatte sie den Alten aufgestachelt und gequält. Als dieser nicht hören wollte, hatte sie sich an Raffaelo gemacht. Sie hatte den Knaben für ihren tollen Racheplan gewonnen, hatte ihm ihre Mithilfe zugesagt. Die beiden waren nach Rom gegangen, wo sie sich verborgen hielten. Sie hatten Crispi aufgelauert wie ein Jäger seinem Wild; aber es war ihnen nicht möglich gewesen, ihm beizukommen: unverrichteter Dinge mußten sie Rom verlassen. Für einige Zeit wurde Fiammetta ruhiger; doch dann begann das dämonische Treiben von neuem und mit verstärkter Gewalt. Sie erzählte, wie der Geist Cesares ihr Nacht für Nacht erschien und sie mahnte, seinen Tod zu rächen und seiner Seele Ruhe zu schaffen. Mit verkohlten Gliedmaßen kam das gräßliche Gespenst Nacht für Nacht, wimmerte und winselte, klagte Vater, Bruder, Geliebte an, daß sie zauderten, ihre Pflicht gegen ihn zu erfüllen.

Fiammettas entsetzliche Schilderungen bewirkten schließlich, daß der alte Lorenzo sich bereit erklärte, selbst nach Rom zu gehen und dort zu bleiben, bis sich Gelegenheit fände, dem Checco das Messer ins Herz zu stoßen und sollte er selbst dabei umkommen. Als er nach Rom kam, hörte er, daß der große Staatsmann über Nacht ein toter Mann geworden. Mochte er jetzt ruhig weiter leben: für ihn, Lorenzo Latini, den Vater des getöteten Cesare, hatte der Himmel selbst die Rache in die Hand genommen.

Und Lorenzo Latini begann bitterlich zu weinen.


Einen Tag und eine Nacht behielt ich den Alten bei mir. Immer wieder kam er darauf zurück, daß die Leute ihm gesagt hätten: der Checco wäre ein toter Mann, – grade, da er im Sinn gehabt, den Checco zum toten Manne zu machen. In ganz Italien gab es sicher keinen Menschen, auf den der jähe Sturz des allmächtigen Ministerpräsidenten solchen Eindruck hervorgebracht hatte. Seine Thränen galten dem Freunde von der Via Appia, dem er doch trockenen Auges den Dolch ins Herz gestoßen hätte.

Auch das merkte ich: er scheute – mehr als das: er fürchtete sich, ins Molarathal zurückzukehren und mit unblutigen Händen Fiammetta wieder unter die Augen zu treten. Denn dieser Rachegöttin war der gestürzte Crispi sicher nicht tot genug. Aber nie und nimmer hätte Lorenzo sein Messer jetzt noch wider ihn erhoben – so viel Zartsinn neben solcher barbarischen Anschauung und solchem wilden Wahn!

Bevor er mich verließ, erfuhr ich – er teilte es mir nur so nebenbei mit – was mir viel zu denken gab: Fiammetta hatte in Erfahrung gebracht, daß ich an jenem Tage in Frascati von einem jungen Menschen beobachtet worden und daß dieser die Carabiniers auf meinen bepackten Esel aufmerksam gemacht und so Cesares Verfolger auf die richtige Spur gebracht hatte. Der Angeber hatte mich in Rom zusammen mit Fiammetta gesehen, die er als Cesares Verlobte kannte. So war er denn auf den Verdacht gekommen, ich könnte mit dem Deserteur in Verbindung stehen.

Der junge Mensch hieß Acciarico, ein Name, der bald eine traurige Berühmtheit erlangen sollte.



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