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Meine Glieder waren schwer und wie starr, ich konnte mich nicht regen, schwer und wie starr war mein Haupt, ich konnte es nicht heben. Auch meine Augen vermochte ich nicht zu öffnen. Ich hörte Vogelgesang, Zwitschern und Pfeifen, leises Flöten und lautes Jubiliren. Ich erkannte jede Vogelart an ihrem Gesang und nannte sie bei den Namen, die Myrrha ihnen gegeben und mich gelehrt hatte. Das war eine Amsel, dieses eine Blaudrossel; jetzt pfiff eine Rohrdommel und jetzt schlug eine Wachtel. Und welchen Lärm machten die Schwalben!
Fernes vieltöniges Glockengeläut mischte sich mit den Vogelstimmen. Darauf lauschend, schlummerte ich nach einer Weile ein, Gesang und Glockenton bis in meinen Traum hinein hörend. Alsdann weckte mich das Krähen eines Hahns.
Es war wirklich ein Hahn gewesen, der gekräht hatte.
Nun versuchte ich meine Augen zu öffnen, schloß sie indessen sofort wieder, denn eine Welle von Glanz floß mir entgegen. Zugleich verspürte ich einen starken Wohlgeruch von frischen Steppenkräutern, als läge ich wie ehemals auf einem Grabhügel an der Via Appia, mitten unter Lavendel und blühender Menthe.
Ueber diese Vorstellung erschrak ich so sehr, daß ein Schauer mich durchrieselte und ich heftig atmen mußte. Dies verursachte mir in der Brust einen stechenden Schmerz, welcher mich zur Besinnung brachte. Aber noch – obgleich ich jetzt meine Augen weit offen hatte – glaubte ich zu träumen, oder sonst etwas zu erblicken, was nicht Wirklichkeit war.
Denn ich fand mich in einem hellen Stüblein im Bette liegen und mit weißen Tüchern zugedeckt. Und als ich mein Haupt ein weniges dem Lichte zuwandte – sehr viel vermochte ich nicht – blickte ich durch ein geöffnetes Fenster in einen Wirrwarr von durchleuchteten Reben, welche eine Menge blauer und goldigheller Trauben trugen.
Wie ich so mit offenen Augen dalag und alles voll Verwunderung betrachtete, ward leise die Thüre geöffnet und hereinkam eine ältliche Frau, gar sauber gekleidet, eine Witwenhaube auf und mit einem überaus freundlichen und behäbigen Antlitz. Diese würdige Matrone begab sich ans Fenster, woselbst sie sich niederließ und aus einem Korbe, der neben ihr stand, ihren Schoß mit scharlachroten Peperoni füllte, welche leuchtenden Früchte sie an einer Schnur zum Trocknen aufzureihen begann.
Nicht lange und viele große, schön gefiederte Tauben kamen geflattert. Sie setzten sich auf das Fenstersims, gurrten eifrigst, drehten die Köpflein, flogen sodann ins Zimmer und pickten an den roten Früchten, welche die Matrone als untauglich auf den Boden geworfen. Aber die Peperoni behagten den Täublein nicht. Die freundliche Frau zog ein Stück Brot aus der Tasche und streute es aus. Das war nun bessere Kost, welche die zutraulichen Vögel begierig aufpickten, wobei sie mit den Flügeln schlugen und sich zu einem bunten Haufen zusammendrängten.
Wie aber ward mir, als plötzlich vor dem Fenster, im Rahmen der Reben, ein wunderschönes bleiches Antlitz erschien: des Weibes mit der geretteten Seele. Sie schaute ins Zimmer und sogleich nach mir hin; zuerst ruhig forschend, alsdann in heftiger Bewegung. Sie beugte sich weit vor, zum Fenster hinein und sagte mit einer Stimme, darin es wie ersticktes Schluchzen klang:
»Ach, Tante, seht doch, ich glaube, er ist erwacht.«
Jetzt schaute auch die Matrone zu mir hin, sprang sogleich vom Stuhl in die Höhe, so heftig in ihrer Freude, daß sie den Korb mit den Peperoni umstieß, worauf die Tauben in großem Schrecken aufflogen, einige durch das Zimmer flatterten, andere zum Fenster hinaus. Im nächsten Augenblick stand die Donna im Zimmer und mit der Alten an meinem Bette und war es ein Glück über mein Erwachen, als wäre ich vom Tode erstanden.
Wie ich nun mit schwacher Stimme fragte, wo ich mich befände und was sich mit mir begeben hätte, begannen die beiden guten Frauen zu erzählen; die Matrone voll Eifers und in großer Redseligkeit, die Donna mitunter in die Rede der anderen ein Wort werfend, oder ihr auch nur mit einem Nicken, einem Lächeln beipflichtend.
Es hatte sich aber folgendermaßen mit mir zugetragen:
... Ich ward an jenem Morgen, nahe der Rotonda, auf der Gasse liegend gefunden und für tot aufgehoben. Da man mich davontrug, gewahrte man noch Spuren von Leben in mir und brachte mich eiligst zum nächsten Spital. Dort indessen wollte man mich nicht aufnehmen, man sollte mich in ein Franziskanerkloster schaffen. Darüber gerieten die Spitalleute in Streit mit den Männern, die mich gebracht hatten und die sich weigerten, mich weiter zu tragen. Sie legten mich auf dem Flur des Spitals nieder und gingen ihrer Wege. Um mich kümmerte sich vorerst niemand.
Unterdessen verbreitete sich in der Gegend um die Rotonda und in der Via Campo Marzo das Gerücht, man habe in aller Frühe einen jungen Franziskaner erstochen gefunden, welcher Mord vermutlich aus Eifersucht begangen worden, als der Geistliche von seiner Geliebten gekommen.
Die blutige Begebenheit ward am Morgen auch der Donna erzählt, und ich lag noch nicht lange in dem Flur des Spitals, als ein junges Weib gelaufen kam und beim Pförtner unter strömenden Thränen fragte, ob dem Spitale kein verwundeter Franziskaner gebracht worden wäre? Der Mann erwiderte: im Flur läge einer, wenn er sonst noch lebe; und sei bis zur Stunde noch von keinem Kloster eine Anfrage ergangen. Was der Verwundete oder Tote sie angehe? Er sei wohl ihr Liebhaber?
Nein, ihr Bruder.
Und das Mädchen bat und flehte, man möchte ihr um Christi Barmherzigkeit willen ihren jungen Bruder herausgeben, damit sie ihn, wenn er noch lebe, pflegen könne; sei er aber bereits gestorben, so wolle sie ihn christlich begraben lassen.
Nun hätte man mich am liebsten ohne weiteres ausgeliefert; dennoch thaten sie, als läge ihnen daran, mich, sei es lebendig oder tot, zu behalten. Aber das Weib, das sich meine Schwester nannte, steckte ihnen Geld zu, und so überließen sie mich ihr, gaben ihr sogar noch Träger mit, die mich in das Haus des nächsten Arztes schafften. Was hier geschehen, erfuhr ich erst später: die Donna zahlte auch dem Arzt eine Summe Geldes. Dafür gelobte dieser Schweigen, untersuchte und verband meine Wunde und half meiner Schwester, mich spät am Abend heimlich aus der Stadt zu schaffen, vor die Porta del Popolo in die Vigna der Tante am Mario.
Dort lag ich drei Tage, ohne von mir zu wissen; jetzt war ich erwacht.
Ich sollte also wiederum leben, das Leben wiederum von neuem beginnen: als Christ, als Mönch, als Sünder, als falscher Priester!
Das goldene Tageslicht brannte mir gleich Flammen in die Augen, der Vogelgesang und die freudigen Stimmen der beiden Frauen, die mir das Leben gerettet, verursachten mir im Gehirn einen Schmerz, ärger als die Schmerzen in meiner Brust, nahe dem Herzen. Ohne den Samariterinnen für die Erhaltung meines Lebens zu danken, schloß ich die Augen, wandte das Haupt mit Mühe ab und lag in einer Verzweiflung, tief wie ein Abgrund und dunkel wie das Grab, welches mir Gottes Barmherzigkeit verweigert hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich in solchen Qualen gelegen, als ich die Donna, wie aus weiter Ferne, mit unsäglicher Trauer sagen hörte:
»Ach, hasse nicht Dein Leben, welches auf Erden mein einziges Glück und meine einzige Hoffnung ist. Denke, was aus mir hätte werden sollen, wenn Du um meinetwillen auf der Gasse ermordet worden wärst! Ich hätte ja wieder morden müssen: denn eine Sabinerin rächt ihre blutigen Toten.«
Da mußte ich denken:
Wenn du allein durch dein bloßes Dasein irgend einem Menschen – und wäre es auch nur eine ehemalige Buhlerin – irgend welches Glück bereiten kannst, so ist dein Leben nicht dermaßen wertlos und unnütz, daß du wünschen dürftest zu sterben. Also lebe! Krümme dich in Qualen, aber lebe! Und zwar lebe, ohne den Himmel anzuklagen: denn dieser hat dir mehr gegeben, als Millionen anderen, die das Leben auch ertragen müssen.
Da wandte ich mich von neuem dem Lichte zu, rief leise die Donna, streckte ihr die Hand entgegen und sagte:
»Liebe Schwester, ich danke Dir.«
*
Das Nächste, was ich sprach, war:
»Ist zum Kloster geschickt worden?«
Clelia stand am Fenster und hing die an eine Schnur gereihten Peperoni daran auf; sie schien meine Frage nicht gehört zu haben, aber die Tante erwiderte für sie:
»Freilich ist zum Kloster geschickt worden, gleich am ersten Tag. Sie ist selber hingegangen.«
»Clelia?«
Sie mußte glauben, daß ich sie gerufen hätte: denn sie ließ ihre Arbeit und kam zu mir.
»Was soll ich?«
»Ihr selbst seid zum Kloster gegangen?«
»Ich selbst. Wir hatten niemand zum Schicken und für meine Tante war es zu weit.«
»Was sagtet Ihr den Mönchen?«
»Was zu sagen war.«
»Und sie?«
»Sie hörten mich an«
»Ja, aber was sagten sie?«
»Nicht viel.«
»Ist schon einer von den Brüdern hier gewesen?«
»Nein.«
»Wie, es hat noch niemand nach mir gesehen? Sie wissen doch, wo ich bin?«
»Aber – –«
»Ihr müßt Euch ruhig verhalten. – – Die Mönche lassen Euch sicher bei mir. Sie wissen, daß Ihr am Leben seid und gut verpflegt werdet. Lieben thut im Kloster ja niemals einer den andern.«
Sie nahm den Korb, darin die Früchte gewesen, und ging damit aus der Kammer. Ihre Tante, die würdige Frau, schüttelte den Kopf hinter ihr drein, seufzte ein wenig, rückte den Stuhl an mein Bett und begann:
»Ist das ein wunderliches Geschöpf! Ihr Vater ist mein leiblicher Bruder gewesen: um den war's auch ein Jammer. Ich erzähle Euch wohl noch einmal davon. An der Clelia habt Ihr Großes vollbracht und muß es Euch allein deswegen gut gehen, auf Erden sowohl als im Himmel. Ihr tragt Euer geistliches Gewand in Ehren und werdet es bei so großer Tugend und Frömmigkeit sicher bis zum Bischof oder Kardinal bringen, wenn Ihr nicht gar heiliger Vater werdet. Wahrlich, Ihr bereitet Euren Eltern Freude über die Maßen und Eure Mutter muß stolz sein auf ihren frommen Sohn. – – Ich soll Euch nicht solche Dinge sagen? Nun, ich bin bereits still. Aber auch mir habt Ihr Wohlthaten erwiesen und auch ich möchte mich dafür dankbar erweisen und das von ganzem Herzen.
»Denn obschon ich die Clelia nicht gleich meiner Tochter halten konnte, ist mir's doch, als hättet Ihr die Seele meines Kindes gerettet.
»Seht, ich übergab sie der Gevatterin ihrer toten Mutter zum Aufziehen nach Subiaco; denn in Rom ging es nun einmal nicht an. Alle Jahre ließ ich mir von jenem schändlichen Weibe, das ich für eine rechtliche Frau hielt, schreiben, wie es dem Mädchen ergehe. Liefen auch alle Jahre die Briefe ein: der Clelia gehe es gut, sie sei ein seines Kind und werde von Tag zu Tag schöner an Gestalt und Antlitz, gerade wie ihre Mutter gewesen.
»Dies war nun just nicht eben das, was ich dem Mädchen wünschte; denn des Mädchens Mutter ist lediglich durch ihre übergroße Schönheit an Leib und Seele zu Grunde gegangen. Indessen ich tröstete mich, daß die Clelia nicht minder das Kind meines Bruders sei, der ein überaus herrlicher Jüngling gewesen. Was hätte ich auch dabei thun sollen?
»Fünfzehn Jahre ging alles gut. Ich besaß einen wackern Mann, vor dem ich außer der Geschichte mit der Clelia keinerlei Heimlichkeiten hatte, das Kindchen sollte trefflich gedeihen und weil der Himmel mich nicht mit Kindern gesegnet, hoffte ich im Herzen, trotz meines lieben, aber gestrengen Eheherrn, immer noch auf die Clelia als Tochter. Plötzlich kam die Ninetta nach Rom – mit der Clelia!
»Freilich war sie ein schönes Geschöpf und freilich sah sie ihrer Mutter gleich – der Dionizia Baldi aus Olevano, von deren Herrlichkeit man noch heutigen Tages in Rom redet und das nicht nur auf der spanischen Treppe und in der Via Margutta. Aber mit der Gevatterin, der Ninetta, führte ich ein lustiges Tänzchen auf! – Wer sie mit dem Mädchen gerufen hätte? Wie sie sich das unterstehen könnte? Ob sie nicht wisse, was für ein schlimmer Ort Rom für eine solche schöne Kreatur sei? Ihre Mutter sei daselbst schlecht geworden und tausend andere und viele würden es noch heute jeden Tag: schlecht und schändlich! Sogleich sollte sie mit dem Kinde wieder nach Subiaco zurück und sich nicht mehr in Rom blicken lassen!
»Die Alte lamentirte und schwatzte: Auch in Subiaco seien die Menschen schlecht. Man habe erfahren, wessen Tochter die Clelia sei, und diese könne es jeden Tag auf der Gasse zu hören bekommen. Und erst die Männer! Im ganzen Kirchenstaat stelle kein Vogeljäger so einer Palombella nach, wie in Subiaco die Männer der Clelia nachstellten. Da seien die Herren von Subiaco, die Colonna. – – Nun, im ganzen Kirchenstaate wisse man, was die Colonna für Mädchenfänger wären. Vor denen sei keine sicher, vor denen könne kein Heiliger und keine Heilige ein Mädchen bewahren. Und gar eine so Wunderschöne! Aber auch die anderen seien nach der Clelia aus, wie der Fuchs nach den Trauben. Da sei besonders einer! Ein blutjunger, bildhübscher Mensch, ein Nachbarssohn, der zusammen mit ihr ausgewachsen, ein gewisser Terenzio Latin! Heilige Mutter Gottes – habe der für die Clelia ein heißes Herz! Gänzlich Feuer und Flammen! Es sei ein ansehnlicher Jüngling, der bereits sein väterliches Erbe angetreten und nach keinem auf der Welt zu fragen brauche. Aber für die Clelia sei er lange nicht ansehnlich genug, die könne mit ihrer Schönheit höher hinauf, die könne wohl gar eine Signora werden! Den Terenzio könne sie immer noch haben; denn so etwas von Liebe sei noch nicht dagewesen! Der junge Mensch wisse, wer und was die Mutter der Clelia gewesen, kümmere sich indessen nicht so viel darum und würde die Tochter der Dionizia Baldi auf dem Fleck heiraten, ohne einen Paol Mitgift. Aber, aber – –
»So schwatzte das schändliche Weib, und ich, dumme Kreatur, lasse mich beschwatzen, bringe die beiden in einem anständigen Hause unter, kann mich indessen im übrigen nicht viel um sie kümmern – ich erzähle Euch wohl noch einmal, warum nicht. Denn damals lebte noch mein guter Mann, der in solchen Dingen sehr apart und rabiat war; und es war eben doch die Tochter der Dionizia Baldi! Nun, anfangs ging alles zum Besten, und wenn ich die beiden sah, hatte ich meine Freude an dem jungen, schönen Geschöpf. Sie ging fleißig mit der Ninetta zur Messe und Beichte und ein geistlicher Herr kam jeden Tag zu ihnen ins Haus. Aber noch fleißiger führte die Gevatterin sie im Corso und auf dem Monte Pincio spazieren, fuhr wohl gar mit ihr in die Villa Borghese. Alsdann schalt ich wiederum, alsdann lamentirte wiederum die andere, alsdann ließ ich mich wiederum beschwatzen von dem schlechten Weibe. Und der Himmel hatte auch kein Einsehen!
»Da fiel mein lieber Eheherr in seine lange Krankheit, von der er nicht wieder aufstehen sollte. Kaum hatte ich ihn begraben lassen, als ich zu der Ninetta schickte: sie sollte sogleich mit der Clelia zu mir kommen und bei mir bleiben. Aber das schändliche Weib ließ zurück sagen: sie und die Clelia würden bleiben, wo sie wären und woselbst es ihnen beiden gar gut gefiele.
»Ich also hin. Da wohnten die zweie, die Kupplerin und die Buhlerin, in einem überaus prächtigen Hause, welches einem Herzog oder einem Prinzen gehörte. Ich konnte nicht einmal zu ihnen hineinkommen. Das war ein Jammer.
»Aber, was sollte ich thun?
»Dreimal lief ich hin und dreimal ward ich schimpflich behandelt und in Schanden vor dem Hause stehen gelassen – viele Stunden lang!
»Einmal traf ich die Clelia auf der Straße, hing mich an sie, weinte bitterlich und bat sie inständigst, mit mir zu kommen. Gerade so hatte ich mich einstmals auf der Gasse an ihre Mutter gehangen und ihre Mutter gebeten. Aber wie die Mutter mich nicht gehört und nicht mit mir gekommen, gerade so die Tochter. Da ließ ich sie – wie ich die Mutter gelassen; da verdarb sie vollends – wie ihre Mutter vollends verdorben. Nur daß die Tochter am Leben blieb, während die Mutter sich freiwillig einem blutigen Tode übergeben.
»Länger als ein Jahr sah und hörte ich nichts von der Clelia. Plötzlich – vor zwei Wochen war es – kam sie zu mir.
»Anstatt sie zu schmähen und zu verwünschen, mußte ich bei ihrem Anblick bitterlich weinen: sie war gar zu schön und dabei so schlecht und noch blutjung.
»Da sie mich so herzlich weinen sah, setzte sie sich nieder, seufzte und sprach endlich:
»›Nicht wahr, Ihr kanntet meine Mutter?‹
»›Freilich kannte ich Deine Mutter. Hätte Dein Vater das an Dir erlebt!‹
»Auf das hörte sie gar nicht. Am ganzen Leibe bebend fragte sie:
»›Nicht wahr, Muhme, meine Mutter war nicht das gewesen, was ich bin?‹
»Was sollte ich dem armen Geschöpf darauf antworten? Ich konnte ihr doch nichts Schlechtes von ihrer eigenen Mutter sagen! Sie saß vor mir in einer solchen atemlosen Angst, als hinge ihr Leben von meiner Antwort ab. Ich fuhr fort zu schluchzen und sagte unter heftigen Thränen:
»›Nein, Deine Mutter war eine wackere Frau.‹
»Da hättet Ihr dieses Gesicht sehen sollen; schier glückselig und ganz verklärt! Sie seufzte wiederum aus vollem Herzen, faltete die Hände, als ob sie beten wollte, sagte aber nur:
»›Meine Mutter! Ach, meine Mutter!‹ Und nach einer Weile noch einmal nichts, als: ›Mutter! Mutter!‹
»Ich trocknete eilig meine Thränen und fing an, eifrig in sie hinein zu reden: sie sollte an ihre Mutter denken, umkehren auf dem Wege des Lasters und – und was ich ihr eben alles sagte.
»Aber denkt Euch, daß sie zu allem lächelte, ganz still und heimlich vor sich hin. Ich wollte bereits zornig werden und sie in aller ihrer Lasterhaftigkeit ihrem zeitlichen und ewigen Verderben überlassen, als sie in einem ganz besonderen Tone mit großer Feierlichkeit sagte:
»›Meine gute Tante, Buße hat ein anderer mir gepredigt. Nicht darum bin ich zu Euch gekommen, sondern um von Euch über meine Mutter zu hören. Denn mit der Ninetta kann ich darüber nicht reden; die darf einen solchen geweihten Namen, wie den meiner Mutter, gar nicht in ihren schändlichen Mund nehmen. Nun habt Ihr mir's gesagt, nun kann alles noch gut werden.‹
»Damit stand sie auf, um wieder zu gehen. Ich wollte sie nicht fortlassen, bat und flehte, daß sie bliebe und der Sünde entsagte. Sie erwiderte:
»›Sobald ich in Eurem reinen Hause bleiben darf, komme ich zu Euch und flehe Euch alsdann an, mich aufzunehmen. Heute ist dafür noch nicht Zeit. Vielleicht morgen schon.‹
»Darauf bat sie mich um einige Früchte aus meinem Weinberge: für einen jungen Mönch, der so gut und fromm und tugendhaft sei, daß er verdiene, von den Früchten des Paradieses zu genießen.
»Nach drei Tagen kam sie wieder und ward von mir mit hellem Jubel begrüßt. Sie sagte jedoch:
»›Es ist auch heute noch nicht der Tag, von dem ich Euch gesagt habe; und ich komme nur, Euch nochmals zu bitten, mir von Euren Früchten zu schenken?
»Ich erkundigte mich:
»›Haben sie dem guten Jüngling geschmeckt?‹
»Er hat sie gar nicht verzehrt; denn er war noch nicht wieder bei mir. Heute indessen kommt er gewiß. Bitte, gebt mir für ihn neue Früchte.‹
»Das that ich.
»Noch ein drittesmal kam sie und bat um Früchte: der Mönch sei immer noch nicht dagewesen; ich möchte Geduld mit ihr haben.
»Endlich mußte wohl der rechte Tag gekommen sein, denn sie kam und brachte Euch her und blieb mit Euch bei mir.
»Gleich in der ersten Stunde erzählte sie mir voller Freude: Ihr hättet von den Früchten gegessen und dieselben höchlich gelobt.
»Ja, es ist ein wunderliches Geschöpf!«