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Einer der ersten Eindrücke, den Michael Cibulas Sohn von den Erscheinungen des Lebens empfing, war die gewaltige Gestalt seines Vaters und dessen düsteres und schönes Gesicht, um das eine Mähne gelber Locken bis auf die Schultern herabhing. Mit beiden derben Händchen in dieses Geringel zu fassen, daran kräftig zu zerren und zu zausen, war höchstes Glück. Und der wilde Mann hielt seinem Knaben ganz still.
Es war ein kluger Junge, der mit dunkeln, blitzenden Augen scharf um sich sah; seine Sprache war noch ein Stammeln und Lallen, als er schon von mancherlei Kenntnis hatte. Er wußte, daß im Hause alle sich vor seinem Vater fürchteten, am meisten die Mutter; und er merkte, daß die Mutter den Vater sehr lieb hatte, aber diese Liebe ängstlich verbarg. Wenn Michael Cibula in seiner rauhen Weise mit seinem Weibe verkehrte, versetzte ein staunender, fragender Blick seines jungen Sohnes ihn häufig in heißen Zorn. Weil er sich nicht zu mäßigen vermochte, ging er alsdann gewöhnlich, die Türe hinter sich zuschmetternd, hinaus in den Wald, wo er sich mit der Axt an einem Baume austobte. Während er auf den mächtigen Stamm einhieb, daß die Splitter flogen, grübelte er über die Frage nach, die er in den Blicken des Knaben gelesen zu haben glaubte: warum tust du so wild gegen meine Mutter? Du bist ihr ja doch so gut!
Erst wenn der Stamm stürzte, fiel es wie eine Last von der Seele des Mannes: was konnte der Knabe davon wissen!
Urs liebte seine Mutter zärtlich; da Josepha ihn jedoch nur im geheimen liebkoste und in Gegenwart ihres Mannes mit ihrem Sohne nur scheu verkehrte, trotzte das Kind und lehnte sich gegen die heimliche mütterliche Zärtlichkeit mit solcher Heftigkeit auf, daß Josepha oft in Tränen ausbrach. Dann hätte der Knabe vor Herzeleid vergehen mögen und wäre doch eher gestorben, als seinen Kummer merken zu lassen. Er war seines Vaters echter Sohn, Zoll für Zoll ein Cibula.
Oft, wenn er des Nachts aufwachte, sah er einen goldigen Schein über sich. Das waren die langen losen Haare seiner Mutter, die an seinem Bette saß, sich über ihn beugte, seufzte und flüsterte. Urs starrte auf den Glanz, bis die Augen ihm wieder zufielen und er davon träumte. Später konnte er sich seine stille und blasse Mutter niemals ohne diese Gloriole vorstellen.
Auch die alte Russka liebte Urs zärtlich. Sie war die Amme von Michael Cibulas Vater gewesen, ein verwelktes, schemenhaftes Geschöpf mit einem unheimlichen, wirren Wesen. Diese greise Sibylle hielt den kleinen Urs auf ihren Knien, wie sie seinen Großvater und Vater auf den Knien gehalten. Betete sie nicht, so plapperte sie vor sich hin. Sie erzählte dem Knaben lange Geschichten, von denen er wenig verstand, die aber – wohl weil sie ihm meistens in dunkler Abendstunde geheimnisvoll zugeraunt wurden – einen mächtigen Eindruck auf ihn machten. Oft fürchtete er sich dabei entsetzlich, tat aber keinen Laut, aus Angst, daß seine Mutter Russka ihr Geschichtenerzählen verbieten könnte. Auch alte Balladen bekam er von seiner Wärterin zu hören; wenn diese den zahnlosen Mund öffnete, war's, als beginne eine Mumie zu reden. Urs Lieblingsgeschichten waren die von der schönen Helja Scarpa, welche einen Priester gern gehabt, und von der goldhaarigen Maria Cibula, welche um eines Juden willen Jüdin geworden. Kam zufällig der Vater oder die Mutter dazu, so brach die Alte ab, fing an über den Priester zu zetern und die Juden zu verwünschen. Priester und Juden wurden für Urs zu Schreckgestalten, vor denen er frühzeitig eine heftige Abneigung empfand.
Sein bester Freund war der junge Knecht Simo. Dieser kam niemals aus dem Walde nach Hause, ohne ihm etwas zu bescheren: glatte bunte Steine, schimmernde Kristalle, einen Vogel oder sonst ein Getier. Einmal brachte er einen jungen Bären mit, dessen Mutter Michael Cibula im schwarzen Grunde erlegt hatte. Sein kleiner zottiger Namensvetter ward Urs Cibulas liebster Spielgefährte, Daß der kleine Vierfüßler seinem Kameraden im Eifer des Vergnügens weidlich das Gesicht zerkratzte, tat der guten Freundschaft keinen Abbruch. Auch der zweibeinige junge Bär blieb nicht sanft, und oft durchtönte das Jammergeheul des zerbläuten Petzlein das Haus.
Weniger rasch befreundete sich Urs mit Ilja Dozana. Ihre Mutter hatte sie eines Tages zum Besuche bei Josepha mitgebracht, und das Kind, fein und zierlich wie eine Puppe, stand erschrocken in dem fremden Zimmer, unter den fremden Leuten. Als man es gar zu sehr musterte und bewunderte, zog es weinend ein Mäulchen und steckte, da es sich nicht anders zu helfen wußte, schleunigst das Fingerchen hinein. Urs staute von einem Winkel aus das kleine wunderbare Wesen an; jedoch kaum sah er des Mädchens mächtige schwarze Augen sich mit Tränen füllen, als er fortlief und das Kostbarste herbeischleppte, was er besaß: seinen Petz, mit dessen zottigem Fell und kalter Schnauze er dem Kinde plötzlich ins Gesicht fuhr, welche Bärenliebkosung ein lautes Angstgeschrei zur Folge hatte. Während der ganzen Zeit ihres Besuches sah Urs die kleine Ilja nicht mehr an, so verachtete er sie. Aber auch seine heiße Liebe zu seinem wilden Freunde kühlte sich von diesem Tage an in bedenklicher Weise ab.
Später, als Urs sich herabließ, an den Spielen auf der Dorfgasse und im Walde teilzunehmen, und sich sogleich zum Tyrannen von Klein-Piatra emporschwang, nahm er großmütig Ilja Dozana unter seinen Schutz. Übrigens bedurfte die kleine Waldprinzessin keines Kavaliers. Denn obgleich sie eher einer Elfe als einem Menschenkinde glich, wußte sie sich gegen die neckenden Bösewichter und plumpen Gesellen der Dorfjugend von Piatra so würdevoll zu benehmen, daß ihr von dieser öffentlichen Macht allgemeine Schonung gezollt wurde. Aber Urs Cibula hatte sie einmal schwach gesehen und bewahrte das in so guter Erinnerung, daß er am liebsten den Blumen verboten hatte, Ilja Dozanas reizendes Gesichtchen zu streifen. Flog ein Schmetterling oder Käfer gegen sie an, so ruhte er nicht eher, als bis der Arme seine Todsünde mit dem Leben bezahlt hatte.
Oft schlich er von den Spielen fort und kletterte mit Maurus den Ziegen und Schafen nach. Maurus war der Hirtenknabe des Dorfes. Dieser junge Wildling lehrte Urs allerlei Wissenschaften der Natur: auf die Stimme des Waldes lauschen und sie verstehen, er lehrte ihn den Flug der Vögel und die Fährten des Wildes erkennen, auch sonst manches Geheimnis, das Feld und Wald vor den Menschen bewahren. In solchen Offenbarungen gingen dem Knaben die Mysterien der Natur auf; sie belebte sich für ihn, gewann Gestalt und Antlitz. Jetzt verstand er auch das Raunen der alten Sibylle Russka. Zwischen Begierde und Grausen kämpfend, stahl er sich des Abends an die Seite der alten Wärterin und flehte sie flüsternd an:
»Erzähle, Russka, erzähle!«
Und Russka erzählte.
Frühzeitig wurde Urs Cibula mit der Gewalt der Elemente und den Schrecken der Wildnis vertraut; er kannte nichts anderes auf der Welt als Felsen und Wald. Schaurig war's, wenn der Sturm Piatra umtobte, wenn Schnee die Häuser halb vergrub, wenn im Frühling die Lawinen und Gießbäche niederdonnerten, ringsum die Wälder verheerend und die Felsen in die Tiefe reißend. In strengen Wintern wagten sich die hungrigen Wölfe bis in die Gassen von Piatra, dann tönte des Nachts ihr belferndes Geheul um die Häuser. Urs war Zeuge, wie sein Vater manchen Isegrimm vom Fenster aus niederschoß.
Dafür waren Frühling und Sommer um so heiterer. Dann standen die Felsen der Verrös in Blumen gehüllt, Blumen schmückten den Moosboden der Wälder, Blumen säumten das Bett des Wildbaches, Blumen blühten vor den bunten Heiligenbildern und in Ilja Dozanas hellem Haar. Fröhlich klang das Geläute der Herden und fröhlich war's, durch Wald und Feld zu streifen, den Forellen im Bache nachzustellen und den Horst des Falken aufzuspüren. Gute Zeit war's auch, im Sonnenschein auf dem Rücken zu liegen und über sich zu schauen, tief, tief hinein in den leuchtenden Himmel, der zwischen den grauen Felsen ruhte wie – –
Aber Urs wußte nichts von Bildern und Metaphern, wenn er sich auch über alles seine besonderen Gedanken machte.
Nichts jedoch verursachte solchen Eindruck auf das leicht erregbare Gemüt des Knaben, wie das hölzerne Frauenbild in der großen Kammer des Hauses, vor dem Tag und Nacht ein Lämpchen brannte, und dem von allen auf geheimnisvolle Weise tiefe Verehrung gezollt wurde – am meisten von seinem Vater. Die Gestalt dieser Frau war hager und starr, hager und starr war das Gesicht; es war von bräunlicher Farbe und hatte einen feindseligen, grausamen Ausdruck. Die fremde Frau trug ein prächtiges Kleid, bunt und golden, auf ihrem Haupte glänzte eine Krone und sie hielt in den steifen Händen einen blutigen Kranz.
Vor diesem Bilde fürchtete Urs sich mehr, als vor allen Geschichten Russkas; es schien ihn mit seinen bösen Augen anzusehen, als wollte es ihm etwas zu leide tun. Als seine Mutter ihn zum ersten Male zu dem heiligen Bilde aufhob, damit er es küsse, schrie er entsetzt auf. Grade trat Michael Cibula in die Kammer. Die Furcht und, den Abscheu des Knaben vor dem Bilde gewahrend, entriß der Vater in heftigem Zorn das Kind seiner Mutter und mißhandelte es. Aber Urs wollte das häßliche Bild nicht küssen.
Er tat es erst, als er hörte, wie die Mutter, seines Starrsinns wegen, hart von dem Vater angefahren wurde; von da an küßte er das Bild, so oft es von ihm verlangt wurde. Aber er tat es mit fest geschlossenen Augen, aufeinander gepreßten Lippen und mit einem Ausdruck in seinem Gesicht, der dieses seinem Vater ähnlich machte, wenn Michael Cibula »wild« war.
Daß sein Vater jeden Tag vor der häßlichen Frau den Kopf neigte und lange Zeit mit leiser Stimme zu ihr sprach, sich sogar vor ihr auf den Boden warf, erfüllte die Seele des Knaben mit Staunen und Grausen. Wer war die bunte Frau mit den bösen Augen? Was sagte ihr sein Vater? Wollte sie ihm etwas zu leide tun?
Diese Fragen und Ängsten, denen Urs niemals Worte verlieh, reizten die lebhafte Einbildungskraft des Knaben und füllten seine Seele mit verworrenen Vorstellungen, mit phantastischen Bildern. Und das Kind haßte die Frau im goldenen Kleide, die es jeden Tag küssen mußte.
Wie erschrak der Knabe, als er eines Tages in den Händen seines Vaters ein anderes Holzbild sah: auch eine Frau, mit einem ebenso starren Gesicht und ebensolchen Augen. Der Vater hielt ein Messer in der Hand, als wollte er die Frau totstechen. Urs lief fort, und als er seinen Vater wieder sah, blickte er scheu auf dessen Hände, ob diese wohl blutig wären. Nach einigen Tagen schlich er sich wieder in die Kammer; da stand neben dem ersten Holzbilde ein zweites.
Erst später verstand er, daß der Vater eine Menge solcher Holzbilder schnitzte, eines genau so wie das andere, daß in Piatra alle Madonnenbilder von seinem Vater gemacht worden waren, und daß dieser im Frühjahr mit den anderen Tauschwaren auch viele seiner Frauen in die Städte zu den fremden Menschen brachte. Daß sein Vater vor einem Bilde, welches er selbst verfertigt hatte, auf die Knie fiel, waren für den Knaben Rätsel, für die seine Begriffe nicht ausreichten. Aber auch als er es später begriff, überkam ihn stets von neuem ein Grausen, daß alle diese Bildwerke mit den starren Augen aus seines Vaters Händen hervorgingen und in die weite Welt gesandt wurden.
Auch die Juden haßte der Knabe. Seine Mutter hatte ihn noch nicht lehren können, die Gottesmutter und die Heiligen zu lieben, als er schon vom Vater gelernt hatte, die Juden zu hassen; denn Michael Cibula ließ es sich angelegen sein, dem Kinde seine Leidenschaften einzuflößen, Leidenschaften, mit denen er geboren worden, die sein Vater von seinem Vater empfangen. Er gab für seinen Haß keinen Grund an; es mußte Urs genügen, daß er hassen sollte.
So wurden für Urs die Juden nach und nach zu Geschöpfen, die wie die wilden Tiere des Waldes verfolgt, gequält und vertilgt werden mußten. Er wunderte sich, daß sein Vater Wölfe und Bären schoß und nicht Juden: er, wenn er erst groß geworden, wollte auch Juden schießen.
Kein Tag verging, an dem Urs seinen Vater nicht rufen hörte: »Die Juden! Die vermaledeiten Juden!« Aber einmal hörte er ihn murmeln: »Der Priester, der vermaledeite Priester!« Josepha stand neben ihrem Sohne und ward bei diesen Worten bleich wie eine Sterbende. Niemals vergaß Urs den Blick, den der Vater auf die Mutter warf; der Blick war wie eine Flamme gewesen.
Als dann die Juden in die Verrös geflüchtet kamen und sich auf dem Kryvan anbauten, warf der Sohn bald dieselben bösen Blicke zu ihnen hinüber wie der Vater.
*
Im gleichen Alter mit Urs Cibula und Ilja Dozana standen Asarja und Makkabea Kolon, die Kinder Jehudas und Dozias.
Asarja war ein feiner, zarter Knabe, mit einem Gesicht, wie Christus gehabt haben mochte, als er vor den Rechtsgelehrten im Tempel sprach. Er war bleich und hatte lange, tiefschwarze Locken. Zuweilen bekamen seine dunklen Augen einen Blick, groß, weit und leuchtend, als sähe er Dinge, die nicht wirklich waren.
Noch schaute der Knabe mit diesem Seherblick nicht voraus in die Zukunft, sondern zurück in die Vergangenheit: Er sah wieder die Flammen lodern, welche die Häuser der Seinen verzehrt hatten; er sah das schreckensbleiche Gesicht des Vaters, das tränenvolle Antlitz der Mutter, als der Patriarch Kolon in die Kemenate trat, mahnend, daß es Zeit sei zu flüchten. Er sah sich und die Seinen fliehen in der dunkeln Nacht, am Tage sich in den Wäldern verkriechen, viele Nächte, viele Tage lang. Und die schwermütigen Augen des Judenknaben schienen an Himmel und Erde die Frage zu stellen:
Warum?
Auf der Flucht war es gewesen, eines Abends. Der Himmel hing voll wilden Gewölkes, das, einem ungeheuren Vorhänge gleich, über die glühende Abendsonne herabsank. Die Juden durchwanderten eine öde Gegend. Sie kamen an einem Hügel vorüber, der einsam in der Steppe aufstieg und sich wie eine düstere Kuppel gegen den flammenden Himmel abhob. Droben stand ein hohes Kreuz, daran ein nackter, blasser Leichnam hing.
Alle Juden wandten die Gesichter ab, Asarja aber stand von Entsetzen gelähmt, so daß seine Mutter ihn mit sich fortziehen mußte. Sich zu ihrem Knaben hinabneigend, raunte sie ihm zu, wer der Gekreuzigte sei: Jesus Christus, der Nazarener, ein Gottessohn. Nun begehrte der Knabe den Mörder zu wissen. Scheu um sich blickend, ob jemand sie hören könnte, flüsterte Dozia ihm zu: »Die Juden.«
Da entrang sich ein Weheschrei des Knaben Brust. Er flehte seine Mutter an, mit ihm zurückzukehren und dem Gemordeten zu helfen. Aber Dozia lächelte traurig und belehrte ihren Sohn, daß es ein Bild sei, welches die Christen zum Andenken an den gekreuzigten Gottessohn errichtet hatten. Als Asarja sich noch einmal umschaute, war ihm, als verbreite der feurige Himmel eine Blutlache um das Bild.
So behielt der Judenknabe das heiligste Zeichen der Christen unauslöschlich in seinem Gedächtnis.
Und nachdem Dozia ihm die Geschichte des heiligen Nazareners erzählt hatte, sah er Golgatha stets als den einsamen Hügel in der nächtlichen Steppe, über dem der trauernde Himmel zerriß, um über die Untat der Juden und den Tod des Gottessohnes blutige Tränen zu weinen.
Asarja war ein seltsam träumerisches Kind. Baruch Kolon schüttelte über den Knaben sein weises Haupt und sprach: »Der Herr hat die Seele des Knaben Asarja geschlagen mit Gedanken: sehet, wie sie sich nicht regen kann! Der Herr spende den Gedanken des Knaben Asarja Licht, auf daß sie, wenn er ein Mann geworden, sein Gemüt erleuchten, das voller Finsternis ist. Denn oft sind die Gedanken in eines Mannes Stirn gleich einer Quelle lauteren Wassers, darein geschüttet worden viele unheilvollen Säfte, so daß Übel trifft den, der davon trinkt. Lasset uns den Herrn anflehen, um der Gedanken des Knaben Asarja willen.«
Also der Patriarch. Jehuda aber und sein Weib beteten jede Nacht über dem Haupt ihres Knaben.
Es konnte vorkommen, daß Asarja stundenlang darüber nachsann, weshalb die Sonne nicht auch des Nachts scheine, und weshalb die eine Blume gelb, die andere rot blühe? Die leidenschaftliche Makkabea dagegen dachte über nichts nach. Sie hatte für alles eine scharfe Beobachtung, ein rasches Verständnis und ein unerbittlich gerechtes Urteil.
Oft unterhielten sich die beiden Kinder über die Christen. Bei diesen eigentümlichen Gesprächen übernahm Asarja die Fragen, Makkabea die Antworten.
»Warum hassen sie uns?«
»Weil wir anders sind.«
»Warum sind wir anders?«
»Weil wir einen andern Gott haben.«
»Warum haben sie einen andern Gott als wir?«
»Weil ihr Gott von uns totgeschlagen ist.«
Asarja seufzte tief auf, ließ den Kopf hängen und blieb lange stumm. Plötzlich fragte er, seine traurigen Augen zur Schwester erhebend, leise und angstvoll:
»Wußten die Juden, als sie den Nazarener kreuzigten, daß er ein Gott sei?«
»Jehova wird es ihnen wohl gesagt haben.«
Asarja starrte seine Schwester mit Entsetzen an, begann zu zittern, so daß er ihr unheimlich wurde und sie ihn zu beruhigen suchte:
»Vielleicht hat auch Jehovah es nicht gewußt.«
Aber Asarja blieb verstört. Wenn er fortan einem Christen begegnete, wich er scheu vor ihm aus, als fühlte er sich gegen ihn eines Verbrechens schuldig. Während Makkabea den Spott und Hohn der Christenkinder wie eine junge gefangene Königin ertrug, senkte Asarja sein Haupt.
Sie sollten mich nehmen und auch totschlagen, dachte er oft und fragte nie mehr, warum die Juden von den Christen gehaßt wurden.
Eines Tages kam er zu seinem Vater gelaufen, dem er mit leuchtenden Augen sagte:
»Ich freue mich so sehr!«
»Warum freust du dich?«
»Weil die Juden die Christen nicht hassen.«
Jehuda streichelte liebreich seines Sohnes Locken und wachte fortan mit noch größerer Strenge darüber, daß in seiner Gemeinde die Christen nicht geschmäht wurden.
Auch für seine Enkelin Makkabea hatte der greise Baruch eine Weissagung: »In ihr lebt eine wilde Seele, die zertrümmern wird das Gefäß ihres Leibes, gleichwie gärender Most den Krug. Es wird ihr Geist dahinfahren wie eine Flamme im Sturmwind.«
Erschreckt durch diese Worte des Propheten waren die Eltern beständig bemüht, die Tiefen in der Natur ihrer Tochter mit sanften Regungen zu erfüllen und die Finsternis in diesem jungen Gemüt durch Lehren hoher Menschlichkeit zu lichten. Aber Makkabea wehrte sich dagegen, daß ihrem innersten Wesen Gewalt angetan werde und duldete in sich nichts Fremdes. Dabei liebte sie ihre Eltern abgöttisch, besonders ihre Mutter, der sie an Schönheit glich. Nur hatte Dozia Haare, schwarz wie das Gefieder des Raben, und in ihren dunkeln Augen brannte ein wilderes Feuer.
Nicht von dem sanften Geist ihrer Mutter hatte sie ihren Haß gegen die Christen geerbt; der lebte in ihrem jüdischen Blute seit mehr als zehn Generationen, die alle von den Christen verachtet und gehaßt, gequält und unterdrückt, verfolgt und gejagt worden waren. Es hätte der Hand eines Gottes bedurft, um dieser Kinderseele den Haß zu nehmen.
Die Juden von Tar hausten bereits im dritten Jahr in der Verrös auf dem Berge Kryvan; und noch konnte Makkabea nicht vergessen, daß ihre Mutter für den Tempel der Christen Steine getragen und daß sie selbst von einem Christenknaben ins Gesicht geschlagen worden war. Und sie hatte jenem nichts getan, nichts, als daß sie den Christenknaben mit den goldigen Locken und zornigen Augen schön gefunden.
Rings um den Platz, wo die neue Kirche der Christen sich erheben sollte, waren Gras und Blumen zertreten. Von den spielenden Dorfkindern kam keines hin; denn seitdem die Fremden nicht mehr Steine trugen, wurden sie von den Christen wieder sehr gefürchtet. Eifrig waren Mütter und Mägde beschäftigt, durch hundert Schauergeschichten von dem Heißhunger der Juden nach Christenkindern diese in ihrem heilsamen Entsetzen zu erhalten.
Nur Ilja Dozana sonderte sich häufig von den Gespielen ab und begab sich furchtlos an den gemiedenen Platz. Sie ging nicht gern dorthin und dennoch ging sie: grade als würde sie hingezogen.
Sie stand gewöhnlich von ferne unter den Arven und schaute hinüber, wo die Hammerschläge erklangen und die hellen Mauern sich höher und höher erhoben.
Auch Asarja und Makkabea kamen häufig zu diesem Platze.
Die Juden hatten von ihrem Wohnort zu dem Dorfe der Waldleute einen Pfad durch das Geröll und den üppigen Pflanzenwuchs der Schlucht ausgetreten. Diesen klommen die beiden Kinder hinab und wieder empor, wenn sie ihrem Vater nachschlichen, der abwechselnd mit dem Patriarchen auf dem Bauplatze seinen Glaubensgenossen aus dem heiligen Buche vorlas: Psalmen und fromme Sprüche, Lehren einer tiefen und dunklen Weisheit, und hochherrliche Gesänge.
Beide Kinder kauerten hinter dem Gestein und hörten zu: Makkabea mit dem Antlitz einer jungen Sibylle, Asarja wie im Traum. Jeder Hammerschlag der Bauleute dröhnte ihm wie eines der Worte seines Vaters, so daß in seiner Phantasie der christliche Tempel mit jüdischen Glaubenslehren erbaut ward und selbst die Steine von der Macht und Herrlichkeit Jehovahs widerhallten.
Einmal erblickte Asarja hinter sich im Schatten des Waldes eine kleine, schlanke Gestalt, in ein faltiges weißes Hemd gekleidet, das am Saum mit roten und blauen Blumen bestickt war. Er starrte hin, als sähe er eine Vision, und stammelte:
»Sieh, Makkabea, ein Engel!«
»Ein Christenmädchen!«
Aber Asarja hatte sich bereits erhoben und langsam und scheu sich der Arve genähert, an deren leuchtendem Stamm das Mädchen stand.
»Wer bist du?«
»Kennst du mich nicht?«
»Ist es wahr, daß du eine Christin bist?«
Ilja nickte.
»Ich bin ein Jude, mein Vater heißt Jehuda,« sagte er leise. Dazu schwieg das Mädchen. Nach einer Weile kam es bebend von den Lippen des Knaben:
»Wenn du eine Christin bist, so hassest du mich.«
Ilja sah ihn an, sagte jedoch noch immer nichts.
Da seufzte Asarja tief auf, wandte sich ab und wollte gehen, als Ilja ihn anrief:
»Du, höre!«
Asarja blieb stehen und wandte sich um.
»Ist das deine Schwester?«
»Das ist Makkabea, meine Schwester.«
»Ich möchte sie um etwas bitten.«
Asarjas Augen strahlten auf; aber Ilja wurde verwirrt und senkte die ihren zu Boden.
»Ich mochte deine Schwester bitten, daß sie ihm vergibt.«
»Wem soll Makkabea vergeben? Was soll sie vergeben?« stammelte Asarja.
»Sie weiß es. Sage ihr nur: Ilja Dozana bittet sie, ihm zu vergeben, Willst du es ihr sagen?«
Dankbar lächelte Ilja den Judenknaben an und verschwand hinter der Arve.
Ganz verklärt kehrte Asarja zu seiner Schwester zurück.
»Ich soll dir sagen: Ilja Dozana bittet dich, daß du ihm vergibst. Es war gewiß ein Engel.«
Aber Makkabea lachte laut auf. Fortan schlich Asarja, so oft er konnte, allein und heimlich zu der Arve; doch Ilja wollte ihm nicht wieder erscheinen. Er dachte immerfort an
sie, und in die dunkle Seele des Knaben fiel ein Glanz, der vom Himmel war. Was das Gebet seiner Eltern und die segnende Hand des Patriarchen nicht vermochten, das wirkte an ihm ein Christenmädchen: von Iljas Kinderlippen vernahm der Judenknabe zuerst das große göttliche Wort, welches das Evangelium werden sollte, das er einstmals selbst Juden und Christen verkündigen würde: »Vergebt ihnen!«