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Achtzehntes Kapitel

Sie befreit ihren Geliebten und einen Jansenisten

Bei Tagesanbruch eilt sie nach Paris, in der Hand den Befehl des Ministers. Es ist schwer, zu schildern, was in ihrem Herzen während dieser Fahrt vorging. Man stelle sich diese Seele vor: tugendhaft, edel, gedemütigt von ihrer Schmach, von Zärtlichkeit berauscht, von Reue zerrissen, daß sie ihren Geliebten verraten habe, von der Freude durchdrungen, ihn, den sie liebte, befreien zu können! Ihre Leiden, ihre Kämpfe, ihr Erfolg – alles drängte sich in ihrer Seele zusammen. Das war nicht mehr das einfache Mädchen, dessen Denken verarmt war durch die Provinzerziehung. Die Liebe und das Unglück hatten sie entwickelt. Das Gefühl hatte in ihr dieselben Fortschritte gemacht wie die Vernunft im Geiste ihres unglücklichen Geliebten. Mädchen lernen leichter fühlen als Männer denken. Ihr Abenteuer war lehrreicher als vier Jahre Kloster.

Ihre Kleidung war von äußerster Einfachheit. Sie dachte mit Entsetzen an die Gewänder, die sie geschmückt hatten, als sie zu ihrem unheimlichen Wohltäter gegangen war; sie hatte die Brillantohrringe ihrer Gefährtin überlassen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Verwirrt, entzückt, den Harmlosen vergötternd, sich selbst verachtend, kommt sie endlich an das Tor »des grausen Schlosses, des Palastes der Rache, der Unschuld und Verbrechen, beide, oftmals birgt« Voltaire, Henriade, 4. Gesang, Vers 456/457..

Als sie aus dem Wagen steigen sollte, fehlte ihr die Kraft; man half ihr; sie trat ein; das Herz zuckend, die Augen feucht, die Stirne bedrückt. Man stellt sie dem Gouverneur vor; sie will sprechen, ihre Stimme versagt; sie zeigt den Befehl und bringt kaum ein paar Worte hervor. Der Gouverneur liebte seinen Gefangenen; er freute sich über seine Befreiung. Sein Herz war nicht so verhärtet wie das einiger anderer ehrenwerter Kerkermeister. Nicht wie jene dachte er nur daran, sein Einkommen auf die Extragebühren der Opfer zu gründen. Er wollte nicht vom Unglück anderer leben und hatte keine geheime Freude über die Tränen der Unglücklichen.

Er läßt den Gefangenen in sein Zimmer kommen. Die beiden Liebenden sehen sich; beide fallen in Ohnmacht. Die schöne Saint-Yves blieb lange ohne Bewegung und Leben: ihr Gefährte erlangte bald das Bewußtsein wieder. »Das ist offenbar Ihre Frau Gemahlin,« sagte der Gouverneur, »Sie haben nicht erwähnt, daß Sie verheiratet seien. Man sagt mir, daß Sie einzig ihren edelmütigen Bestrebungen Ihre Befreiung verdanken.« – »Ach! ich bin nicht wert, seine Frau zu sein«, rief die schöne Saint-Yves mit zitternder Stimme; darauf fiel sie wieder in Ohnmacht.

Als ihre Besinnung zurückgekehrt war, zeigte sie unter fortwährendem Zittern den Ausweis für die Belohnung und die schriftliche Zusage einer Kompagnie. Der Harmlose, ebenso erstaunt wie gerührt, erwachte aus einem Traum, um in einen andern zu stürzen. »Warum bin ich hier eingeschlossen worden? Wie konnten Sie mich befreien? Wo sind die Ungeheuer, die mich hierhergebracht haben? Sie sind eine Göttin, die vom Himmel zu meiner Rettung herabsteigt.«

Die schöne Saint-Yves senkte die Augen, sah ihren Geliebten an, errötete und wandte gleich darauf ihre von Tränen feuchten Augen ab. Sie teilte ihm dann alles mit, was sie wußte, und was sie erlitten hatte, ausgenommen das, was sie am liebsten vor sich selbst für immer verborgen hätte. Ein anderer als der Harmlose, einer, der die Welt besser gekannt und über die Hofgebräuche mehr unterrichtet gewesen wäre, würde es leicht erraten haben.

»Ist es möglich, daß ein Elender wie dieser Amtmann die Macht gehabt hat, mir meine Freiheit zu rauben? Ach! ich sehe wohl, daß es Menschen gibt, die wie die schlimmsten Tiere sind; alle können schaden. Aber ist es möglich, daß ein Mönch, ein jesuitischer Beichtvater des Königs, ebenso wie dieser Amtmann zu meinem Unglück beigetragen hat, ohne daß ich mir ausdenken kann, unter welchem Vorwand dieser abscheuliche Schurke mich verfolgt hat? Hat er mich als einen Jansenisten hingestellt? Und wie kommt es, daß Sie sich meiner erinnert haben? Ich verdiente es nicht, ich war damals nur ein Wilder. Wie! Sie konnten ohne Rat und Beistand die Reise nach Versailles unternehmen? Sie sind erschienen; man hat meine Fesseln gelöst! Schönheit und Tugend haben also einen unwiderstehlichen Reiz, der eiserne Türen aufsprengt und Herzen aus Bronze schmilzt!«

Bei dem Wort »Tugend« seufzte die schöne Saint-Yves. Sie wußte nicht, wie tugendhaft sie war in dem Verbrechen, das sie sich vorwarf.

Ihr Geliebter fuhr fort: »Engel, der meine Ketten gebrochen hat, wenn Sie genügend Einfluß hatten (was ich noch nicht verstehe), um mir Gerechtigkeit zu verschaffen, so verwenden Sie diesen Einfluß auch, um diesen Greis zu befreien. Er hat mich zum ersten Male denken gelehrt, wie Sie mich lieben lehrten. Das Unglück hat uns vereint; ich liebe ihn wie einen Vater, ich kann weder ohne ihn noch ohne Sie leben.«

»Ich! ich sollte den Mann nochmals bitten, der ...«

»Ja, ich will Ihnen alles verdanken und will niemand etwas zu verdanken haben als Ihnen: Schreiben Sie diesem mächtigen Mann, häufen Sie Ihre Wohltaten, vollenden Sie, was Sie begonnen haben, vollenden Sie Ihre Wundertaten.« Sie fühlte, daß sie alles tun mußte, was ihr Geliebter verlangte: sie wollte schreiben, ihre Hand gehorchte nicht. Dreimal begann sie den Brief und zerriß ihn dreimal; endlich schrieb sie, und die beiden Liebenden gingen, nachdem sie den alten Märtyrer der wirksamen Gnade umarmt hatten.

Die glücklich-verzweifelte Saint-Yves wußte, in welchem Haus ihr Bruder wohnte; sie ging dorthin; ihr Geliebter nahm ein Zimmer in demselben Haus.

Kaum waren sie angelangt, als ihr Beschützer den Befreiungsbefehl für den guten Gordon schickte und sie um ein Stelldichein für den nächsten Tag bat. So wurde ihre Schande der Preis für jede ehrliche und großmütige Handlung. Sie sah mit Grauen diesen Brauch, Glück und Unglück der Menschen auf solche Art zu verkaufen. Sie gab ihrem Geliebten den Befreiungsbefehl und verweigerte das Stelldichein diesem Wohltäter, den sie nicht mehr sehen konnte, ohne vor Schmerz und Scham zu vergehen. Der Harmlose trennte sich nur von ihr, um den Freund zu befreien: er flog zu ihm. Er erfüllte diese Pflicht und dachte tief nach über die seltsamen Geschehnisse in dieser Welt. Er bewunderte die tapfere Tugend eines jungen Mädchens, welcher zwei Unglückliche mehr als das Leben verdankten.


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