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Der Hurone namens Harmlos wird von seinen Verwandten erkannt
Nach seiner Gewohnheit wachte der Harmlose mit der Sonne auf, beim Krähen des Hahnes, den man in England und Huronien die »Trompete des Tages« nennt. Er war nicht wie die Menschen der guten Gesellschaft, die im Faulbett herumlungern, bis die Sonne die Hälfte ihres Weges gemacht hat; die weder schlafen noch aufstehen können; die die kostbarsten Stunden in einem Übergangszustand zwischen Leben und Tod verbringen und dann noch klagen, das Leben sei zu kurz.
Zwei oder drei Meilen hatte er schon hinter sich und dreißig Stück Wild mit der Flinte getötet, als er bei seiner Rückkehr den Herrn Prior Unserer lieben Frau vom Berge und seine schüchterne Schwester in der Nachtmütze beim Spaziergang in ihrem kleinen Garten traf. Er bot ihnen seine ganze Jagdbeute an; dann zog er aus seinem Hemd eine Art Talisman, den er immer am Halse trug. Er bat sie, dies als Dank für den guten Empfang anzunehmen. »Es ist mein kostbarster Besitz,« sagte er; »man hat mir versichert, solange ich dieses kleine Ding bei mir trüge, würde ich glücklich sein. Ich gebe es Ihnen, damit Sie stets glücklich sein mögen.«
Der Prior und das Fräulein lächelten zärtlich über die Unschuld des Harmlosen. Das Geschenk bestand aus zwei kleinen, ziemlich schlecht gemalten Porträts, die durch einen fettigen Riemen zusammengehalten wurden.
Fräulein von Kerkabon fragte, ob es Maler im Lande der Huronen gäbe. »Nein,« sagte der Harmlose, »diese Kostbarkeit stammt von meiner Amme; ihr Gatte nahm das Kleinod an sich beim Plündern einiger kanadischer Franzosen, mit denen wir im Kampf lagen. Das ist alles, was ich darüber weiß.«
Der Prior betrachtete die Bildnisse aufmerksam. Er wechselte die Farbe; er verlor alle Fassung; seine Hände zitterten. »Bei Unserer lieben Frau vom Berge,« rief er, »ich glaube wirklich, dieses ist das Gesicht meines Bruders, des Kapitäns, und dies hier das seiner Frau!« Das Fräulein betrachtete die Bilder mit derselben Erregung und war ebenfalls dieser Meinung. Beide ergriff eine schmerzliche Freude, die mit Staunen gemischt war; beide überwältigte Rührung; beide weinten. Ihr Herz schlug laut. Sie riefen erregt durcheinander und nahmen sich gegenseitig die Bilder zwanzigmal in der Sekunde aus den Händen. Sie verschlangen abwechselnd den Huronen und die Porträts mit den Blicken, fragten, an welchem Ort, zu welcher Zeit die Miniaturen in die Hand seiner Amme gekommen seien. Sie verglichen, berechneten die Zeit seit der Abfahrt des Kapitäns und erinnerten sich der Nachricht von seiner Ankunft im Lande der Huronen. Seit dieser Zeit hatten sie nichts mehr von ihm gehört.
Der Harmlose hatte ihnen gesagt, er habe weder Vater noch Mutter gekannt. Der Prior, der ein denkender Mann war, bemerkte, daß er einen kleinen Bart trug. Er wußte, daß dies sonst bei Huronen nicht üblich ist. »An seinem Kinn ist Flaum, er ist also der Sohn eines Europäers; mein Bruder und meine Schwägerin kamen von der Expedition gegen die Huronen im Jahre 1669 nicht zurück. Mein Neffe muß damals im Säuglingsalter gewesen sein: die huronische Amme hat ihm das Leben gerettet und ihm die Mutter ersetzt.« Kurz – nach hundert Fragen und Antworten kamen der Prior und seine Schwester zu dem Resultat, daß der Hurone ihr leibhaftiger Neffe sei. Sie umarmten ihn unter Tränen. Der Harmlose lächelte; er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Hurone der Neffe eines niederbretonischen Priors sei.
Allmählich kam die ganze Gesellschaft herunter. Herr von Saint-Yves, der ein großer Physiognomiker war, verglich die beiden Porträts mit dem Gesicht des Harmlosen. Er machte die sehr kluge Bemerkung, daß er die Augen von der Mutter, Nase und Stirn vom seligen Herrn Kapitän von Kerkabon habe, die Backen aber ebensogut vom einen wie vom andern sein könnten.
Fräulein von Saint-Yves, die niemals seinen Vater und seine Mutter gesehen hatte, versicherte dem Harmlosen, die Ähnlichkeit sei vollkommen. Alle staunten über die Vorsehung und die Fügung des Schicksals. Schließlich war man so sicher, so überzeugt von der Herkunft des Neffen, daß er selber einverstanden war, der Neffe des Herrn Priors zu sein. Er sagte, es sei ihm ebenso recht, ihn zum Onkel zu haben als irgendeinen andern.
Man ging in die Kirche Unserer lieben Frau vom Berge, um Gott zu danken. Der Hurone blieb inzwischen gleichgültig im Hause und erfrischte sich durch einen kleinen Trunk.
Das Schiff der Engländer, mit denen er gekommen, war segelfertig; sie teilten ihm mit, daß es Zeit sei, abzufahren. »Ihr habt, wie es scheint, keine Onkel und Tanten hier gefunden,« rief er ihnen zu; »ich bleibe hier; ihr könnt nach Plymouth zurückkehren, ich schenke euch all meine Sachen. Ich brauche nichts mehr auf der Welt, weil ich der Neffe eines Priors bin.« Die Engländer gingen unter Segel. Es kümmerte sie wenig, ob der Harmlose in der Niederbretagne Verwandte hatte oder nicht.
Nachdem der Onkel, die Tante und die ganze Gesellschaft das Tedeum gesungen hatten; nachdem der Amtmann den Harmlosen nochmals mit Fragen überschüttet hatte; nachdem alles, was Staunen, Freude und Zärtlichkeit eingeben kann, gesagt worden war, beschlossen der Prior vom Berge und der Abt von Saint-Yves, den Harmlosen so schnell wie möglich zu taufen. Aber das war nicht so einfach bei einem erwachsenen Huronen von zweiundzwanzig Jahren wie bei einem Kind, das man über die Taufe hält, ohne daß es davon weiß. Er mußte unterrichtet werden, und das schien schwer: denn der Abt von Saint-Yves nahm an, daß ein Mann, der nicht in Frankreich geboren war, keinen gesunden Menschenverstand besitze.
Der Prior machte die Gesellschaft darauf aufmerksam, daß Herr Harmlos, sein Neffe, gewiß nicht weniger Geist besäße, wenn er auch nicht das Glück gehabt hatte, in der Niederbretagne geboren zu sein. Man könne dies aus all seinen Antworten schließen; die Natur habe ihn offenbar sowohl von väterlicher wie von mütterlicher Seite sehr begünstigt.
Man fragte ihn zuerst, ob er je ein Buch gelesen habe; er erwiderte: Rabelais in englischer Sprache und einige Stellen von Shakespeare, die er auswendig wisse. Er habe diese Bücher bei dem Schiffskapitän gefunden, der ihn von Amerika nach Plymouth gebracht hatte; die Lektüre habe ihm sehr zugesagt. Der Amtmann forschte ihn sogleich über diese Bücher aus. »Ich gestehe Ihnen,« sagte der Harmlose, »daß ich glaube, den Sinn einiger Stellen erraten zu haben; das andere habe ich nicht verstanden.«
Der Abt von Saint-Yves dachte bei dieser Unterhaltung, daß dies genau die Art sei, wie er selbst immer gelesen habe, und daß die meisten Menschen kaum anders läsen. »Sie haben zweifellos auch die Bibel gelesen?« sagte er zu dem Huronen. – »Keineswegs, Herr Abt; sie war nicht unter den Büchern des Kapitäns; ich habe niemals davon sprechen hören.« – »So sind diese verfluchten Engländer,« rief Fräulein von Kerkabon; »ein Stück von Shakespeare, ein Plum-Pudding und eine Flasche Rum sind ihnen wichtiger als der Pentateuch. Sie haben sich deshalb auch niemals um die Bekehrungen in Amerika bekümmert. Sicher wird Gott sie dafür strafen; wir werden ihnen Jamaika und die Virginischen Inseln wegnehmen, ehe sie sich's versehen.«
Mochte dies sein wie es wollte, man ließ den geschicktesten Schneider von Saint-Malo kommen, um den Harmlosen von Kopf bis Fuß einzukleiden. Die Gesellschaft trennte sich. Der Amtmann ging, um seine Fragen an andere zu stellen. Fräulein von Saint-Yves drehte sich beim Abschied mehrere Male nach dem Harmlosen um. Er verbeugte sich tiefer vor ihr, als er es je in seinem Leben vor irgend jemandem getan hatte.
Der Amtmann stellte noch vor dem Abschied dem Fräulein von Saint-Yves einen großen Tölpel von Sohn vor, der eben aus der Schule entlassen war. Sie beachtete ihn kaum, so sehr war sie mit der Höflichkeit des Huronen beschäftigt.