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Elftes Kapitel

Wie der Harmlose seinen Geist entwickelt

Lesen weitet die Seele, und ein kluger Freund tröstet sie. Unser Gefangener genoß diese beiden Vorteile, die er bis dahin nicht gekannt hatte. »Ich bin versucht,« sagte er, »an Umwandlungen zu glauben, denn ich bin aus einem Tier ein Mensch geworden.« Er schaffte sich eine gewählte Bibliothek an von einem Teil des Geldes, über das er verfügen durfte. Sein Freund ermutigte ihn, seine Gedanken schriftlich niederzulegen. Hier folgt, was er über die alte Geschichte schrieb: »Ich glaube, daß die Völker lange wie ich gewesen sind, daß sie sich erst spät ausgebildet, jahrhundertelang nur mit ihrer jeweiligen Gegenwart, sehr wenig mit der Vergangenheit und gar nicht mit der Zukunft beschäftigt haben. Ich bin fünf- oder sechshundert Meilen durch Kanada gereist, ich habe nirgends ein Denkmal gefunden; niemand weiß dort, was sein Urahne getan hat. Könnte dies nicht der natürliche Zustand des Menschen sein? Die Rasse dieses Kontinentes hier scheint mir der andern überlegen. Sie hat ihr Dasein seit mehreren Jahrhunderten durch Kunst und Wissenschaft gesteigert. Kommt es daher, daß sie Bärte am Kinn haben und Gott den Amerikanern den Bart versagt hat? Ich glaube es nicht: denn ich sehe, daß die Chinesen fast keinen Bart tragen, und daß sie doch seit mehr als fünftausend Jahren die Künste pflegen. Wenn sie wirklich mehr als viertausendjährige Geschichtsurkunden besitzen, muß das Volk schon länger als fünfzig Jahrhunderte vereinigt und blühend gewesen sein.

Etwas überrascht mich besonders an dieser alten chinesischen Geschichte, nämlich: daß beinahe alles wahrscheinlich und natürlich zugeht. Ich bewundere sie, weil sie nichts mit Wunderbarem zu tun hat.

Warum haben sich alle anderen Völker einen sagenhaften Ursprung zugeschrieben? Die alten Chronisten der Geschichte Frankreichs, die gar nicht so alt sind, lassen die Franzosen von Francus, einem Sohne Hectors, abstammen. Die Römer bezeichneten sich als Abkommen eines Phrygiers, obgleich in ihrer Sprache nicht ein einziges Wort auf Verwandtschaft mit der phrygischen Sprache hinweist. Die Götter wohnten zehntausend Jahre in Ägypten und die Teufel in Skythien, wo sie die Hunnen gezeugt haben. Ich sehe vor Thukydides nichts als Romane, die dem Amadis gleichen, nur sind sie weniger unterhaltend. Überall sind Erscheinungen, Orakel, Wunder, Zaubereien, Verwandlungen, Traumauslegungen, die das Schicksal der größten Reiche und der kleinsten Staaten entscheiden. Hier sprechende, dort angebetete Tiere; Götter in Menschen- und Menschen in Göttergestalt. – Ach! wenn wir schon Fabeln brauchen, so seien sie wenigstens Sinnbilder der Wahrheit! Ich liebe die Fabeln der Philosophen, ich lache über die der Kinder, und ich hasse die der Betrüger.«

Eines Tages fiel ihm die Geschichte des Kaisers Justinian in die Hände. Darin stand, daß die Apädeuten Die Unwissenden. Eine Anspielung auf die Zensur der Pariser Theologischen Fakultät gegen den »Belisar« von Marmontel. von Konstantinopel in sehr schlechtem Griechisch ein Edikt gegen den größten Führer des Jahrhunderts erlassen hatten, weil dieser Held in der Hitze des Gesprächs die Worte gesagt hatte: »Die Wahrheit leuchtet durch ihr eigenes Licht. Geister lassen sich nicht durch Scheiterhaufenflammen erhellen.« Die Apädeuten versicherten, dieser Satz sei ketzerisch, er rieche nach Ketzerei; der entgegengesetzte Standpunkt sei der katholische, universelle und griechische: »Man erleuchte die Geister einzig durch die Flammen der Scheiterhaufen; die Wahrheit vermöge nicht durch ihr eigenes Licht zu strahlen.« Diese leinenbekleideten Doktoren verdammten so mehrere Schriften des Führers und erließen ein Edikt.

»Wie?« rief der Harmlose, »solche Leute erlassen Edikte?«

»Es sind keineswegs Edikte,« versetzte Gordon, »es sind Gegenedikte, über die sich jedermann in Konstantinopel lustigmachte, der Kaiser vor allem: er war ein kluger Fürst, der die leinenbekleideten Apädeuten dazu gebracht hatte, nur Gutes zu tun. Er wußte, daß diese Herren und mehrere andere Pfaffenröcke die Geduld seiner kaiserlichen Vorfahren in viel wichtigeren Dingen durch Gegenedikte erschöpft hatten.«

»Daran tat er recht,« sagte der Harmlose, »man muß die Pfaffen erhalten und zurückhalten.«

Er schrieb darauf noch einige Gedanken nieder, die den alten Gordon überraschten. »Wie!« sagte er zu sich selber, »ich habe fünfzig Jahre gebraucht, um mich zu unterrichten, und muß fürchten, daß ich dem Verstand dieses Naturkindes nicht gewachsen bin. Der Gedanke läßt mich erzittern, daß ich mit all meinem Fleiß nur Vorurteile verstärkt habe. Er dagegen hört nur auf die einfache Natur.«

Der gute Mann besaß eine jener kritischen Schriften, eines jener periodischen Blätter, in denen Männer, die nicht imstande sind, selbst etwas hervorzubringen, die Leistungen anderer herabsetzen: in denen die Visé die Racine und die Faydit die Fénelon beleidigen. Der Harmlose durchblätterte einige Hefte. »Ich vergleiche sie«, sagte er, »mit gewissen Fliegen, die ihre Eier in den Hintern der schönsten Pferde legen; das hindert diese jedoch nicht, zu laufen.« Kaum ließen sich die beiden Philosophen herab, diesen Exkrementen der Literatur einen Blick zuzuwerfen.

Kurz danach lasen sie die Grundlagen der Astronomie; der Harmlose ließ einen Himmelsglobus kommen; dieser großartige Anblick begeisterte ihn. »Wie hart ist es,« sagte er, »daß ich den Himmel erst in dem Augenblick kennen lerne, da man mir das Recht nimmt, ihn zu betrachten! Jupiter und Saturn durchrollen diese ungeheuren Räume; Millionen Sonnen erleuchten Milliarden Welten. Und in dieser Ecke der Erde, in die ich geworfen wurde, gibt es Wesen, die mich, ein sehendes, denkendes Geschöpf, aller dieser Welten, die mein Blick erreichen könnte, und des Weltteils, in dem ich geboren bin, berauben! Das Licht ist für die ganze Erde geschaffen – für mich ist es verloren. Man gönnte es mir unter dem südlichen Himmelsstrich, der meine Kindheit und meine Jugend sah. Ohne Sie, mein teurer Gordon, würde ich hier im Nichts versinken.«


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