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Sechstes Kapitel

Der Harmlose läuft zu seiner Geliebten und wird rasend

Sofort nach seiner Ankunft fragte der Harmlose eine alte Dienerin nach dem Zimmer ihrer Herrin. Er stieß die schlecht geschlossene Tür kräftig auf und stürzte auf das Bett zu. Fräulein von Saint-Yves erwachte jäh und schrie: »Wie! Sie sind es? Ach! halten Sie ein! Was tun Sie?« Er antwortete: »Ich heirate Sie« – und in der Tat, er würde sie gleich geheiratet haben, wenn sie sich nicht mit dem ganzen Anstand einer Person, die Erziehung hat, gewehrt hätte.

Der Harmlose verstand keinen Spaß; er fand all diese Manieren außerordentlich lästig. »Meine erste Geliebte, Fräulein Abacaba, benahm sich ganz anders. Sie sind nicht ehrlich; Sie haben mir die Ehe versprochen, und Sie wollen das Versprechen nicht halten. Das heißt die ersten Gesetze der Ehre verletzen. Ich werde Ihnen zeigen, wie man sein Wort hält, und Sie wieder auf den Weg der Tugend bringen.«

Der Harmlose besaß männliche Kraft und Unerschrockenheit, würdig seines Schutzpatrons Herkules, dessen Namen er seit seiner Taufe trug. Gerade schickte er sich an, diese Tugenden in ihrem ganzen Umfange auszuüben, als auf die durchdringenden Schreie des immer verschlossener tugendhaften Fräuleins der weise Abt von Saint-Yves, seine Haushälterin, ein alter, frommer Diener und ein Priester des Kirchspiels herbeieilten. Dieser Anblick mäßigte den Mut des Angreifers. »Wie, mein Gott, lieber Nachbar,« rief der Abt, »was tun Sie da?« – »Meine Pflicht,« versetzte der junge Mann, »ich erfülle meine heiligen Versprechungen.«

Fräulein von Saint-Yves ordnete errötend ihr Nachtkleid. Man führte den Harmlosen in ein anderes Zimmer. Der Abt erklärte ihm das Ungeheuerliche seines Verhaltens. Der Harmlose berief sich auf das Naturrecht, das er ausgezeichnet kannte. Der Abt suchte ihm zu beweisen, daß das staatliche Recht vorgehe; ohne menschliche Vereinbarungen würde das Naturgesetz fast immer ein Naturraub. »Man braucht«, sagte er, »Notare, Priester, Zeugen, Kontrakte und Dispense.« Der Harmlose antwortete mit dem Einwand, den die Wilden von jeher vorgebracht haben. »Ihr seid, wie es scheint, sehr unehrliche Leute, da ihr so viele Vorsichtsmaßregeln braucht, um euch vor einander zu schützen.«

Es war mühsam für den Abt, diese Schwierigkeit zu lösen. »Es gibt,« sagte er, »ich muß es gestehen, viele Unbeständige und Schurken unter uns; es würde ebensoviele unter den Huronen geben, wenn sie in einer großen Stadt zusammen wohnten. Aber es gibt auch weise, ehrliche und erleuchtete Seelen, und diese haben die Gesetze gemacht. Je besser man ist, desto eher muß man sich ihnen unterwerfen: man gibt damit den Lasterhaften ein Beispiel; sie schätzen den Zwang, den sich die Tugend selbst auferlegt.«

Diese Antwort verblüffte den Harmlosen. Man hat schon bemerkt, daß er Gerechtigkeitssinn besaß. Man besänftigte ihn mit schmeichelhaften Ausdrücken; man machte ihm Hoffnung: dies sind die zwei Fälle, in denen sich die Menschen beider Hemisphären fangen lassen. Man zeigte ihm sogar Fräulein von Saint-Yves, nachdem sie ihre Toilette beendigt hatte. Alles ging mit dem größten Anstand vor sich. Trotz dieses Anstandes brachten die funkelnden Augen des harmlosen Herkules es fertig, daß die seiner Geliebten sich senkten; die ganze Gesellschaft zitterte.

Es machte die größte Mühe, ihn zu seinen Verwandten zurückzuschicken. Wieder mußte der Einfluß der schönen Saint-Yves zu Hilfe kommen. Je mehr sie ihre Macht über ihn fühlte, desto mehr liebte sie ihn. Sie brachte ihn dazu, daß er fortging; aber sie war selbst betrübt darüber. Der Abt war nicht nur der viel ältere Bruder des Fräuleins, sondern auch ihr Vormund. Er faßte, nachdem der Hurone gegangen war, den Entschluß, sein Mündel den Zudringlichkeiten dieses schrecklichen Liebhabers zu entziehen. Er suchte den Amtmann auf, um mit ihm zu beraten. Dieser, der immer noch seinen Sohn für die Schwester des Abtes bestimmt hatte, riet, das arme Mädchen in ein Kloster zu bringen. Das war ein furchtbarer Schlag: schon eine Gleichgültige, die man ins Kloster bringt, würde verzweifelt den Himmel anrufen. Aber eine Liebende und dazu solch eine kluge und zärtliche Liebende! Das genügte, um sie niederzuschmettern.

Der Harmlose erzählte bei seiner Rückkehr dem Prior alles mit seiner gewöhnlichen Unbefangenheit. Er begegnete denselben Vorhaltungen, die zwar auf seinen Verstand, doch gar nicht auf seine Sinne wirkten. Am nächsten Tag jedoch, als er zu seiner schönen Geliebten zurückkehren wollte, um mit ihr über Naturgesetze und gesellschaftliche Formen zu sprechen, erklärte ihm der Amtmann mit beleidigender Freude, sie sei in einem Kloster. »Nun,« sagte er, »ich werde mich im Kloster mit ihr unterhalten.« – »Das ist unmöglich«, sagte der Amtmann. Er erklärte ihm lang und breit, was ein Kloster oder ein Konvent sei, und daß dieses Wort von dem lateinischen conventus käme, das Versammlung heiße. Der Hurone konnte nicht verstehen, warum er nicht zu dieser Versammlung zugelassen werden könne. Sobald er erfuhr, daß diese Versammlung eine Art Gefängnis sei, in dem man Mädchen eingeschlossen hielte, verfiel er über diese furchtbare Tatsache, die weder Huronen noch Engländer kennen, in helle Wut. Es ging ihm wie seinem Schutzpatron Herkules, dem Eurytus, der König von Öchalia – nicht weniger grausam als der Abt von Saint-Yves – seine schöne Tochter Jole verweigerte, die ebenso schön war wie die Schwester des Abtes. Er wollte das Kloster in Brand setzen und seine Geliebte entführen oder mit ihr zusammen verbrennen. Das erschrockene Fräulein von Kerkabon gab immer mehr die Hoffnung auf, ihren Neffen als Unterdiakon zu sehen. Sie meinte unter Tränen, er habe, seit er getauft sei, den Teufel im Leibe.


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