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Ein gehetztes Wild

Ich hatte mir vorgenommen, gar nicht erst eine Anstellung in einem Betriebe innerhalb des Deutschen Reiches zu suchen, sondern vielmehr direkt entweder nach Österreich-Ungarn oder Rußland zurückzukehren.

Um diesen Plan ausführen zu können, bedurfte ich eines Passes. Nach den mir bekannt gewordenen Bestimmungen hätte mir das Landratsamt Rawitsch einen Paß verabfolgen müssen.

Auf meine Eingabe dahin wurde ich ablehnend beschieden, ohne Angabe der Gründe.

Der Paß wurde mir verweigert!

Ich wandte mich nun weiter rückwärts an meinen letzten Aufenthaltsort in Posen. Auch das Polizeipräsidium in Posen verweigerte mir den Paß ohne Angabe eines Grundes.

Hierauf wandte ich mich an meinen Geburtsort in Tilsit. Und hier, ebenfalls ohne einen Grund anzugeben, verweigerte man mir den Paß zum dritten Male!

Ich suchte bei der Strafanstaltsdirektion um Auskunft darüber nach, warum mir denn der Paß verweigert würde, und die Direktion erklärte mir, sie könne sich den Grund auch nicht erklären.

Kurz vor der Entlassung suchte ich nun um die Fürsorge für »entlassene Gefangene« nach. Auch sie wurde mir abgelehnt!

Schließlich wandte ich mich an den Geistlichen der Anstalt, und durch diesen erhielt ich eine Stellung als Maschinenmeister im Betriebe des Hofschuhmachers Hillbrecht in Wismar in Mecklenburg.

Hierzu muß ich bemerken, daß vor der Entlassung ein behördlicher Briefaustausch zwischen dem Orte, an welchem der Gefangene eintrifft, und der Abgangsanstalt stattfindet.

Die Behörde in Wismar hatte also immer Zeit, wenn sie irgendwelchen Anstoß an meinem Zuzug in ihren Ort nahm, sich mit der Anstaltsdirektion in Verbindung zu setzen resp. den Zuzug abzulehnen. Nichts von alledem geschah.

Ich wurde mit den notwendigen Papieren für Wismar versehen und aus der Anstalt entlassen.

Am Morgen der Entlassung übergab mir der Hausvater der Anstalt die näheren auf meinen Prozeß bezüglichen Briefe und Entscheidungen, die mir so schweren jahrelangen Kummer und Sorgen bereitet hatten.

Ich stand vor der Entscheidung, ob ich den alten Streit begraben oder unversöhnt in die Freiheit zurückkehren wollte.

Das erstere zog ich vor!

Mit einem Schritt trat ich zum lodernden Ofen. Ein Wurf versenkte das Aktenbündel in die Flammen. Fünf Minuten später öffneten sich mir die Tore zur Freiheit.

Wohl kaum ist jemals ein Mensch mit festerem Entschluß, sich den Forderungen der Gesellschaft in allen Dingen anzubequemen, der Freiheit entgegengegangen!

Ich traf am 13. Februar 1906 in Wismar ein, betrat mit einem gewissen Zagen den Laden und die Geschäftsräume meines zukünftigen Brotherrn. In anheimelnder Weise wurde ich aufgenommen, zunächst mit Speise und Trank erquickt, mir ein eigenes Zimmer angewiesen und gleich die Mitteilung gemacht, daß ich mich vollständig als zur Familie gehörend betrachten sollte.

Nach einer guten Stunde besorgte ich die notwendigen Anmeldungen auf dem Polizei- und Gewerbeamt. Dabei wurde mir noch besonders erklärt, daß ich von Seiten Wismars keine Belästigung durch die Polizeiorgane erfahren sollte. So wurde mir wirklich leicht ums Herz.

Als ich nach Hause gekommen und mich umgekleidet, wurde ich durch meinen nunmehrigen Chef in die Geschäfts- und Fabrikräume geführt und dem Personal als Maschinenmeister vorgestellt.

Meiner wartete viel Arbeit, denn der Maschinenbetrieb stand dort noch in den Anfängen, und Herr Hillbrecht machte bald die Erfahrung, daß er in mir eine zuverlässige Kraft gefunden hätte.

Noch an demselben Abend besprachen wir im engen Familienkreise das weitere Geschäftliche, das zu beiderseitiger Zufriedenheit von uns in einem gesunden Abkommen festgelegt wurde. Somit war ich in den Arbeits- und Familienkreis aufgenommen.

Besonders gut verstand ich mich schon nach kurzer Zeit mit dem ältesten Sohn meines Brotherrn, der seinen Vater in jeder Beziehung vertrat. Er hatte auch schon sein Brot in der Fremde gesucht, war, was Fabrikation und Betrieb anbetrifft, sehr gut ausgebildet und erfreute sich in seinem Heimatorte eines vorzüglichen Rufes. Seinem Vater gegenüber hatte er einen sehr schweren Stand. Dieser war, was man einen Selfmademan nennt, und wenig geneigt, die modernen Umänderungen in seinem Betriebe vorzunehmen, wie sie ein flotter amerikanischer Betrieb notwendig macht. Er wollte meist am unrechten Orte sparen. Wenn durch seine Hartköpfigkeit etwas vorbeigelang, so schob er stets die Verantwortung dafür auf die Schultern seines Sohnes.

Ich konnte dem Vater nun aus Gründen der Wahrhaftigkeit und Nützlichkeit durchaus nicht immer recht geben, sondern mußte mich oft auf die Seite seines Sohnes stellen. Und es ist gewiß ein gutes Zeugnis für alle Beteiligten, daß diese sachlichen Auseinandersetzungen niemals zu persönlichen Mißhelligkeiten führten.

Wir legten gewissermaßen, wenn wir abends die Geschäftsräume verließen, alles, was zum Geschäft gehörte, ab, und es entspann sich dann ein schönes, heiteres Familien- und Gesellschaftsleben, wie es in den besseren mecklenburgischen Familien so sehr geschätzt wird.

An mich trat bald auch, wie überall, die Kommunalbehörde mit ihren Steuerforderungen heran. Zunächst die Stadt mit ihrer Stadtkommunalabgabe, dann auch der Staat mit seiner Staatskontribution. Ich habe die Forderungen stets in ordnungsmäßiger Weise berichtigt, die Staatssteuer sogar bis einschließlich 30. September 1906.

Die Polizeibehörde hat indessen ihr Versprechen, das sie mir gegeben, nicht gehalten, sondern ist durch ihre unnötigen Nachfragen bei meinem Chef sehr lästig geworden.

Nur das gute Verhältnis, in dem ich zu der Familie und den übrigen Bewohnern Wismars stand, hatte es verhindert, daß nicht rein aus diesen Nachfragen eine Störung meines Aufenthaltes in Wismar stattfand.

Während meines Aufenthaltes habe ich auch an meine Schwester nach Köln geschrieben. Ihr Geburtstag fiel gerade in diese Tage, und obwohl sie von Köln verzogen war, hat mein Brief sie doch erreicht.

In ihrem Antwortschreiben bewegten Inhalts teilte sie mir in gedrängter Kürze mit, wie es ihr in der Zeit, wo wir uns nicht mehr gesehen und geschrieben hatten, ergangen war. Ein weicher, warmer Ton durchwehte ihren Brief. Die alte, dreißig Jahre schlummernde Geschwisterliebe war doch wieder zum Durchbruch gekommen, und der Brief hat mir damals sehr wohl getan.

Auch jetzt bin ich meiner Schwester nicht durch Darlegung meiner Leiden lästig gefallen. Ich wünschte durchaus nicht, sie in den Augen ihres Mannes und ihrer Kinder durch den Inhalt meiner Briefe und durch die daraus sich ergebenden Schlüsse herabzusetzen. Mir war genug, daß ich noch eine Schwester hatte und daß sie an mich dachte.

Wohl hoffte ich im stillen auf eine Unterstützung durch meine Cousine, die unverheiratet geblieben und, wie ich glaubte, im Besitz eines beträchtlichen Vermögens war. Aber ich scheute mich, sie um etwas anzugehen.

Ich glaubte mich ja in Wismar geborgen. Und da meine Bedürfnisse verhältnismäßig gering sind, lag bei mir auch eigentlich keine Veranlassung vor, irgend eine Hilfe zu erbitten.

Da kam, allen unerwartet, plötzlich mein Ausweisungsbefehl aus Wismar!

Meine Aufführung in Wismar war, wie ja auch später von behördlicher Seite bekundet, durchaus einwandfrei.

Dessenungeachtet erfolgte meine Ausweisung aus Wismar und den mecklenburgischen Staaten.

Verkündet wurde mir dieselbe nicht durch den Polizeisekretär, sondern durch einen uniformierten Beamten ohne Angabe des Grundes.


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