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In der »Sonne«

Ehe ich nun von meinen Leiden und Freuden in der »Sonne«, d. i. das Zuchthaus Sonnenburg im Verbrecherrotwelsch, weitererzähle, muß ich hier noch etwas über den Geist des Hauses, den ich in der Strafanstalt Moabit vorgefunden hatte, sagen. Dort war das Beamtenpersonal damals vom »Rauhen Hause« bestellt, und es herrschte im großen und ganzen ein humaner Geist, der unnötige Quälereien der Gefangenen ausschloß, ohne doch den Ernst hintenanzusetzen, der unbedingt den verschiedenen Geistern gegenüber herrschen muß, die da zusammenkommen. Ich will glauben, daß auch da Strafen verhängt worden sind, wenn sie sich als notwendig erwiesen, meine aber doch, daß im allgemeinen die Beamten ihre Handlungsweise dem einzelnen gegenüber so eingerichtet haben, daß sie der Ordnung und Zucht des Hauses genügten, ohne den Gefangenen selbst unnötigerweise zu reizen oder zu verletzen.

Ganz anders war der Geist, der damals unter den Beamten in der Strafanstalt Sonnenburg herrschte, der ich nun überwiesen wurde. Nach dem, was ich während meines Aufenthaltes von den Gefangenen und Beamten als erwiesen in Erfahrung gebracht habe, war dort tatsächlich das vorhanden, was man eine »Hölle« nennt. Nur Roheit und brutale Gewalt waren in der Tagesordnung.

Der Direktor selbst, ein Unikum in seiner Art, war als Straßenjunge 1813 mit der Armee nach Frankreich gelaufen, war dann als Trommeljunge eingestellt worden und hatte es schließlich zu einer subalternen Stellung in der Armee gebracht.

Er pflegte selber, wenn ihm Leute zur Untersuchung und Bestrafung vorgeführt wurden, mit einem gewissen Stolz zu sagen: »Ich bin früher Straßenjunge gewesen wie du!«

Als Direktor genoß er beim Regierungspräsidenten in Frankfurt/Oder ein gewisses Ansehen, weil er es fertigbrachte, die Verwaltung so nutzbringend als nur möglich für die Kasse zu gestalten; und die Klagen über sein brutales Auftreten gegenüber den Gefangenen fanden damals kein Gehör.

Unter den körperlichen Züchtigungen, die die Gefangenen in überreichlichem Maße unter diesem Regiment erhielten, riefen sie in ihrem Schmerze aus: »Ach Gott, ach Gott!« Dann antwortete er ihnen höhnisch: »Du hast hier keinen Gott, hier bin ich dein Gott und dein Teufel!«

Es widerstrebt mir, all das, was ich in den ersten Jahren meines Aufenthaltes in Sonnenburg über ihn und sein Treiben in Erfahrung gebracht habe, niederzulegen. Ich behalte mir vor, später noch im einzelnen auf das System, das damals hier geübt wurde, einzugehen. Heute will ich nur sagen, daß nach dem alten Sprichwort: »Wie der Herr, so 's Gescherr!« das Beamtenpersonal, das unter diesem Anstaltsleiter arbeitete, wie er selber war.

Wurde irgendein neuer Beamter auf Probedienst eingestellt und besaß er wirklich etwas Herz, so verließ er den Dienst so schnell als möglich. Es blieben nur solche zurück, die ihrer inneren Gesinnung nach mit dem Direktor auf einer Stufe standen oder denen die Dienstanstellung der letzte Rettungsanker war.

Kurz bevor ich in die Anstalt überführt wurde, hatten doch die fortgesetzten Klagen über den Direktor bei der Regierung Gehör gefunden; er war seines Amtes enthoben und ein neuer Direktor, Herr Gollert, an seine Stelle getreten. Ihm war der Auftrag geworden, diese verseuchte Anstalt zu heben. Wie ich mit großer Genugtuung sagen kann, hat Herr Direktor Gollert dem in ihn gesetzten Vertrauen der Regierung nach Möglichkeit zu entsprechen versucht und sich bemüht, diesen Augiasstall auszukehren.

Er hat 14 Tage lang von morgens acht bis abends sieben Uhr unausgesetzt Audienz für die Gefangenen abgehalten. Er suchte auch ihren Klagen, die sie mit Recht vorzubringen hatten, soviel wie möglich gerecht zu werden.

Eine große Anzahl der Beamten wurde schlankweg entlassen, andere versetzt, wieder andere, die sich nicht mehr halten konnten, gingen freiwillig. Allein der Geist, der einmal in die Beamtenschaft eingedrungen war, wirkte noch wie ein Sauerteig auf das Gebaren der Neueintretenden nach. Es ist ja eine alte Erfahrung, daß ein Tyrann in jedem Menschen wohnt, der sich unter solchen Verhältnissen wie hier natürlich besonders ausleben und entwickeln wird.

Für mich brachte diese Überführung, abgesehen von der bangen Erwartung, die so ein neues, unbekanntes und verrufenes Haus in einem Gefangenen erweckt, doch auch manches, das für mein späteres Leben von großer Wichtigkeit wurde. Wenn auch die Disziplin im Hause im großen ganzen unnötig »rauh« war, so hatte ich doch weniger darunter zu leiden, weil ich meinen Mitgefangenen gegenüber stets eine gewisse Zurückhaltung beobachtet habe und mich nicht leicht in ihr zum Widerstreben neigendes Gebaren hineinziehen ließ. Dadurch bin ich vor manchem Zusammenstoß mit der Verwaltung bewahrt geblieben.

Wenn ich auch zunächst manches Unangenehme vorfand, so begegnete mir doch auch wieder Erfreuliches. Da vor allem der schöne, wohlgeschulte Sängerchor, der sowohl in der Kirche den Gottesdienst verschönte wie auch unter Umständen im Hofe den Gefangenen musikalische Genüsse bereitete, die so manchem Freien versagt sind. Der Direktor Gollert war ein ganz besonderer Freund und Beschützer des Gesanges, ebenso wie seine Gemahlin, die, wie ich glaube, ursprünglich Erzieherin gewesen war. Diese war selbst musikalisch und unterstützte durch ihren Einfluß die Neigungen des Herrn Gollert.

Da ich mit einer ziemlich guten Stimme begabt bin, so wurde ich bald in den Sängerchor eingeführt und bildete mich in den Jahren zu einem Sänger aus, der so ziemlich jede Partie, die nicht allzu schwer war, »Prima vista« sang. Ich wurde auch später Solist im zweiten Baß, noch später gewissermaßen die ausschlaggebende Persönlichkeit in den Gesangschören, denen ich in der Freiheit angehört habe. Ich besitze nämlich außer den Kenntnissen, die ich mir erworben habe, auch das, was man musikalisches Gehör nennt.

Zum Beweis dessen diene ein kleines Rencontre mit einem Orgelstimmer von Fach, der eine eben abgestimmte Orgel übergeben hatte. Nachdem ich ihn eine Viertelstunde hatte spielen hören, sagte ich: »Die Orgel ist nicht rein gestimmt!« Er wollte die größte Wette auf das Gegenteil eingehen. Als er sie nun aber nachprüfte, da war er sehr verblüfft, daß ich doch recht behalten hatte und zwei Register nicht richtig abgestimmt waren.

So brachte mir die Musik dort wie im späteren Leben nur Freude, Erholung und Erhebung. Und noch etwas anderes, das mir später im Leben von großem Nutzen war, durfte ich ausüben. Mehr als der Hälfte der Gefangenen fiel das Korrespondieren mit ihren Angehörigen sehr schwer; sie wurden um so schlechter damit fertig, als die ausgehenden Briefe von den Vorgesetzten gelesen wurden und sie sich daher scheuten, ihre mangelhaften Elaborate abzusenden.

Damals war es erlaubt, sich der Hilfe derjenigen Mitgefangenen zu bedienen, die am befähigtsten waren, die in Frage kommenden Wünsche zu verstehen und in gefällige Form zu kleiden.

Ich genoß in dieser Hinsicht besonderes Vertrauen. Es drängten sich zunächst einzelne an mich heran und baten mich, ihnen ihre Briefe zu schreiben. Anfangs waren es nur Familienangelegenheiten, die ich zu erledigen hatte, später auch Briefe, die an Behörden gerichtet wurden. Ausgeschlossen für mich waren Klagesachen, denn ich hatte bald die Erfahrung gemacht, daß jeder, der sich in prozessuale Händel einläßt, seine Sachen nur vom parteiischen Standpunkt ansieht und die Unbefangenheit des Urteils über sich in dieser Angelegenheit vollständig verliert, ja offenbare Unwahrheiten, an die er selbst nicht glaubte, niedergeschrieben wissen will, weil er denkt, dadurch seinem Prozesse eine günstige Wendung zu geben.

Ich habe es mir stets zum Grundsatze gemacht, nur das niederzuschreiben, von dem ich annehme, daß es der Wahrheit entspricht.

Späterhin bemühten sich auch solche Gefangene zu mir, die selbst recht gut ihre Briefe schreiben konnten, zu mir aber das Vertrauen hatten, daß ich die Sache doch noch klarer auslegen könne als sie selber.

Dieses Brief schreiben, mit den sich daran knüpfenden Erzählungen und Berichten, war für mich sehr lehrreich, weil ich dadurch mit den Bedürfnissen, den Wünschen und Hoffnungen, den wirtschaftlichen Verhältnissen einer großen Masse der Bevölkerung, welche den verschiedensten Schichten angehörte, vom Fabrikanten und Rittergutsbesitzer bis herunter zum bescheidensten Arbeiter, bekannt und vertraut wurde. Wenn es mir in meinem späteren Leben verhältnismäßig leicht wurde, mich sofort in die Umstände und den Gedankengang der vor mir Stehenden hineinzufinden, so muß ich das immer auf diese Jahre schwerer Geistesarbeit zurückführen.

Durch diese Tätigkeit gewann ich aber auch einen gewissen Einfluß sowohl nach oben wie nach unten, und es würde sich wirklich ein ganz angenehmes Verhältnis herausgebildet haben, wenn nicht der Verlust der persönlichen Freiheit immer wie ein schwerer Druck auf mir gelastet hätte.

Kurz nach Antritt meiner Strafe in Sonnenburg hatte ich auch einen Besuch meines Vaters, der bei meiner Schwester in Köln gewesen war und auf dem Rückwege bei mir vorsprach.

Stand ich auch in diesem Augenblicke gedemütigt vor ihm mit einem gewiß schweren Verschulden, so konnte ich doch auch jetzt nicht über das hinwegkommen, was meine Jugend zerstört hatte und woran er erheblich mitbeteiligt war.

Auch diese Stunde ging, wie viele in meinem Leben, vorüber. Für mich ist sie für mein ganzes Leben eine traurige geblieben.

Wenige Jahre später traf mich nun das herbste Geschick, was einen Menschen in meiner Lage treffen kann – der Tod meiner Mutter! Und zwar ein Ende unter ganz besonderen Umständen.

Ich hatte an dem ersten Freitag im Monat März des Jahres 1878 mir durch Überanstrengung eine heftige Lungenentzündung zugezogen, die meine sofortige Überführung ins Lazarett notwendig machte; am Sonnabend zeigte das Fieberthermometer bereits über 42 Grad Blutwärme.

An diesem selben Sonnabend starb meine Mutter abends 11 ½ Uhr, angeblich an einem Gehirnschlage.

Auf die telegraphische Nachricht an meine Schwester in Köln eilte diese sofort an das Totenbett der Mutter, und eine ihrer ersten Handlungen war, mich vom Ableben der Teuren in Kenntnis zu setzen. Dieser Brief kam zwar in die Anstalt; der Inhalt desselben durfte mir auf Anordnung des Arztes aber nicht mitgeteilt werden. Der Anstaltsgeistliche kam mit dem Brief in der Tasche an mein Krankenbett, auf welchem ich besinnungslos und phantasierend lag.

Angehörige werden in solchen Fällen oder wurden damals jedenfalls nicht benachrichtigt. So wartete meine Schwester vierzehn Tage auf meine Antwort, während sie sich in Tilsit aufhielt, und als auch dann noch kein Brief von mir eintraf, reiste sie, empört über meine Handlungsweise, ab.

So hatte sich ohne mein Verschulden eine Kluft zwischen uns aufgetan, die fünfundzwanzig Jahre nicht haben überbrücken können. Sie hat damals unter dem Eindruck gelebt, daß, wenn ich so herzlos wäre, daß mich selbst der Tod meiner Mutter nicht rührte, an mir Hopfen und Malz verloren wäre. Sie hatte mich aufgegeben. Erst sechs Wochen nach Eingang des Briefes wurde mir unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln die Mitteilung von dem Tode meiner Mutter gemacht. Was der Arzt zu verhüten gesucht hatte, ein Rückfall, trat trotzdem ein, und ich habe dreizehn Wochen gebraucht, ehe ich das Bett verlassen konnte.

Von den ganzen schauerlichen Begleitumständen bei dem Tode meiner Mutter hatte ich damals keine Ahnung, sonst wäre ich wohl mit dem Leben nicht davongekommen.

Wie ich später erfuhr, hatte meine Mutter in der liebevollsten Weise für mich gesorgt, um mir das Leben nach meinen Eintritt in die Freiheit, soweit es Mutterhände können, freundlich zu gestalten. Leider habe ich die Früchte ihrer Liebe nicht genießen können.

Als ich wieder das väterliche Haus aufsuchte, hatte alles das, was meine Mutter in den Jahren für mich bereitet und geschaffen, bereits andere Besitzer gefunden, und ich habe nicht das kleinste Andenken für mich behalten.

Inzwischen rückte der Tag meiner Freiheit heran.

Einer ungewissen Zukunft ging ich entgegen, und ich machte mir durchaus keine Illusionen darüber, wie schwer mir das Leben von Seiten meiner Mitbürger gemacht werden würde. Hatte ich doch durch die aus- und eingehenden Unglücklichen meiner Bekanntschaft genug gehört, um die ganze Schwere dessen, was einem Entlassenen droht, klar zu erkennen.


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