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Ich wurde zur Verbüßung meiner Strafe in die neue Strafanstalt Moabit überführt.
Es ist gewiß ein schwerer Augenblick, wenn sich einem Menschen die Tore der Freiheit schließen, und auch mich erfaßte bei dem Gedanken, wie sich nun mein weiteres Leben gestalten würde, die Verzweiflung.
Die erste Zeit verbrachte ich in dumpfem Hinbrüten. Ich hatte in einem ausführlichen Briefe die Vorgänge nach Hause berichtet, erhielt aber keine Antwort. Ich verzweifelte fast und glaubte auch, daß meine Eltern mir nie verzeihen würden.
Da übernahm der Geistliche der Anstalt, der mich übrigens konfirmiert hatte, die Vermittlung, und mit seiner Hilfe kam endlich die Versöhnung mit meinen Eltern so weit zustande, daß ich Briefe empfangen und abschicken konnte.
Dieser Briefwechsel war für mich mit großen Umständlichkeiten verbunden. Meine ältere Schwester hatte sich einige Jahre vor meiner Verhaftung verheiratet und war nach Rußland verzogen. Meine jüngere Schwester war noch im schulpflichtigen Alter; dazu die Scheu der Angehörigen, Briefe, die damals noch mit dem Strafanstaltsstempel versehen abgeschickt wurden, durch die Hand des Briefträgers zu erhalten. So ging die Korrespondenz erst durch die Hände meiner Geschwister, ehe sie in die Hände meiner Eltern gelangte.
War äußerlich mein Leben in enge Schranken gebunden, so hatte ich doch auf der anderen Seite die Möglichkeit, mein Innenleben etwas freundlicher zu gestalten.
Die Zuchthausverwaltung besaß in ihrer Bibliothek damals eine ausgezeichnete Sammlung von Geschichts-, Geographie- und Reisewerken. Außerdem wurden auch Zeitschriften gehalten und den Gefangenen, die imstande und willens waren, sie zu lesen, in bereitwilligster Weise zur Verfügung gestellt.
Als sich der erste Sturm meines Empfindens gelegt und ich mich in das Unvermeidliche gefügt hatte, fand ich bald Wohlgefallen an der Weiterbildung meines inneren Menschen.
Der damalige Lehrer Heinrich hatte sich mein Zutrauen zu erwerben gewußt, und er war mir ein wohlwollender Führer auf dem Wege zu meiner weiteren Ausbildung.
Zunächst war es die Geschichte, die im Anschluß an meine Schulausbildung mich besonders fesselte. Ich habe nacheinander die Werke von Schlosser, Raumer, Ranke, Becker und Menzel studiert, und da die einzelnen Geschichtsschreiber erheblich in der Auffassung derselben Tatsachen voneinander abweichen, so gewöhnte ich mich daran, mir über alle diese geschichtlichen Vorgänge ein selbständiges Urteil zu bilden.
Anschließend an die Geschichte ergab sich von selbst das Studium der Geographie. Hierin dienten mir die Lehrbücher von Schacht und Daniel zu Führern.
Um mir die Möglichkeit zu verschaffen, an der Karte selber die einzelnen Berichte zu prüfen, hatte ich mir einen Handatlas von Kiepert zugelegt, den ich von meinem Arbeitsverdienst, und zwar mit sechzehn Talern bezahlen mußte.
Enganschließend an das Studium der Geschichte, hatte ich auch die Reformationsgeschichten der verschiedenen Geschichtsschreiber zu meiner Verfügung. Und auch diese habe ich in meinen Mußestunden eifrig benutzt und mir daraus über religiöse Anschauungen ein ziemlich zutreffendes Urteil bilden können, was meinen in der Jugend empfangenen Religionsunterricht erheblich kräftigte und belebte.
Es ist selbstverständlich, daß bei dem regen Interesse, welches ich in der Jugend bereits für die Taten unserer Armee gewonnen hatte, mich ganz besonders die preußische Geschichte interessierte. Da waren es vornehmlich die letzten zwei Jahrhunderte, die ich zum Gegenstande meines Selbstunterrichts machte.
Die große Zahl markiger Persönlichkeiten, die in diesen zwei Jahrhunderten über die Weltbühne gegangen sind, fesselten mich ungemein, und ich habe alle die Führer und Helden in den Epochen des Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelms des Ersten und des Alten Fritz in ihrem Leben und Wirken mit dem größten Interesse verfolgt.
Daß ich damals eine bestimmte Absicht hatte, mir die Ergebnisse dieses Studiums zunutze zu machen, kann ich durchaus nicht sagen; es war eine Leidenschaft, die mich erfaßt hatte. Meine in Berlin wohnende Tante hatte mich zwar im Auftrage meiner Mutter mehrere Male besucht und mir jedesmal tüchtig den Kopf gewaschen. Auch meine ältere Schwester, die seitdem aus Rußland zurückgekehrt und in Berlin wohnte, besuchte mich einige Male. Aber bei den gedrückten Umständen, unter welchen Sprechstunden überhaupt abgehalten werden, war auch nach dieser Seite eine eingehende Unterhaltung ausgeschlossen.
Denkt man nun, daß gerade in der Jugend, in den Jahren der Entwicklung, jedem der Umgang mit gleichalterigen Genossen so nottut, daß alles, alles mir versagt war, so ist es nicht zu verwundern, daß sich meiner eine verbissene und gereizte Stimmung bemächtigte.
Mitten in diesem Ringen hatte ich noch einmal das Glück, meine gute Mutter zu sehen und zu sprechen. Den Inhalt dieser letzten Unterredung in Worte zu fassen, ist mir ganz unmöglich. All das Herzeleid, das ich ihr bereitet, die ganze Last ihres Leidens, die sie still duldend die langen Jahre getragen – ihre Mutteraugen sprachen davon so deutlich, während ihr Mund nur stammelte und das Herz vor Leid fast brach. Genug, auch diese Stunde ging vorüber, und der letzte Blick, den ich von meiner Mutter empfangen habe, war voll unendlicher Liebe und Güte.
Ich habe sie nie wieder von Angesicht zu Angesicht gesehen.
Meine jüngere Schwester, von welcher ich in Tilsit Abschied nahm (sie war damals elf Jahre alt), war, nachdem sie die höhere Töchterschule in Tilsit absolviert hatte, ebenfalls nach Köln zu meiner Cousine gezogen, und dadurch war auch für mich der Briefwechsel mit meiner Familie, besonders mit meinen Eltern, sehr erschwert.
Inzwischen war durch Gesetz festgelegt, daß die Isolierhaft für den einzelnen Gefangenen nicht länger als drei Jahre dauern dürfe. Auf Grund dieses Gesetzes fand meine Versetzung in die Strafanstalt Sonnenburg statt.
Aus meinen geschichtlichen Studien während meiner Haft ergab sich für mich als Resümee, daß Gewalt allemal vor Recht geht und daß der Begriff »Recht«, wie man ihn auffaßt, in Wirklichkeit eine reine Idee, d. h. illusorisch ist. So ergibt sich denn aus der erlangten Gewalt (wie z. B. in Amerika) allemal ein Rechtszustand, der so lange Geltung hat, als die gegenwärtige Gewalt besteht.