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Ich hatte zu unserm Richterstande ein großes Vertrauen, obgleich ich durch seine gegen mich gefällten Urteile sehr schwer betroffen war; auch durch die mir so oft entgegentretenden Anschauungen meiner Leidensgefährten hatte ich mich darin durchaus nicht beirren lassen, das um so mehr, da ich die breite Erfahrung hatte, daß, wo wirklich scheinbar ungerechtfertigte Urteile vorlagen, dieselben nicht durch Verschulden der Richter, sondern der Zeugen, die ihre manchmal ganz unmöglichen Beobachtungen und Erfahrungen dem Richter in der glaubwürdigsten Weise vortragen, herbeigeführt waren.
Aus diesem Grunde glaubte ich auch, daß der Gerichtshof in meinem Falle durch die von den Zeugen in der Voruntersuchung gemachten Aussagen zu seinem Urteil gelangt sei.
Mein größter Wunsch war, eine Revision meines Prozesses herbeizuführen; aber wie?
Aus meiner Abgeschlossenheit heraus hatte sich meiner allmählich eine Stimmung bemächtigt, die mich für die Außenwelt ganz absterben ließ. Der Gedanke, was fernerhin aus mir werden sollte, kam mir kaum noch. Und wenn's geschah, so erschien er mir als etwas, das ich weit von mir wies.
Da trat eine Begebenheit ein, die mich aufrüttelte.
Es wurde von Liegnitz bis zur russischen Grenze eine Bahn gebaut, und eine Abteilung Soldaten des Eisenbahnregiments besorgte den Oberbau für die Strecke.
Sie wurde während dieser Zeit in Rawitsch einquartiert. Eines Sonntags machten die Offiziere einen Rundgang durch die Räume der Anstalt; auch der Saal, worin ich mich aufhielt, wurde von ihnen betreten.
Einer der Offiziere, ein Oberleutnant, den zunächst die vielen Maschinen interessierten, zwischen denen ich stand, trat an mich heran und unterhielt sich einige Zeit mit mir.
Ich weiß nicht, was ihn eigentlich veranlaßte, mir seine Teilnahme zuzuwenden. Er fragte mich, wie lange ich noch hätte?
Heute noch sehe ich den entsetzten Blick des Offiziers, mit dem er mich maß, als ich ihm sagte: »Fünfzehn Jahre!«
»Ja, mein Gott, was haben Sie denn eigentlich verbrochen?«
Und als ich ihm in kurzen Zügen den Sachverhalt erklärte, dachte er einen Augenblick nach. Dann gab er mir den Rat, noch einmal den Weg des Rechtes zu versuchen.
Tagelang dachte ich darüber nach. So lag ich auch sinnend eines Abends auf meinem Bette, als die Mannschaften des Eisenbahnregimentes von ihrem Arbeitsplatze heimkehrten und aus voller Kehle und frischer Brust heraussangen:
»Wie ein stolzer Adler schwingt sich auf das Lied!«
Ach, ich hatte es auch so oft in der Freiheit, im Kreise froher Menschen gesungen ... und nun? ...
Wie ein Blitz weckte mich dieser Gesang aus meiner Lethargie. All das Schöne, was die Freiheit einem Menschen bringt und dem Gefangenen versagt, zog im Fluge an meinem Geist vorüber. Und ich beschloß, dem Rate des Leutnants zu folgen und zu kämpfen! Vielleicht könnt' ich mir noch einen Teil des Verlorenen zurückgewinnen! ...
Schüchtern, tastend tat ich die ersten Schritte in dem Prozesse, der sich jahrelang hinzog.
Es ist nichts ermüdender als das Hangen und Bangen im Kampfe gegen rechtskräftige Strafurteile, besonders wenn dieser Kampf von einem des Rechts Unkundigen geführt wird!
Mitten in dieser Kampfeszeit besuchte mich der Oberstaatsanwalt für die Provinz Posen. Ich weiß nicht, von welcher Seite er von meinem Prozeß Kenntnis hatte, genug, er ließ mich vorführen.
Ich sehe noch das eigentümliche Gesicht, als ich ihm auf seine Frage, wofür ich bestraft sei und in welcher Höhe, meinen Fall vorlegte und mit dem Schlusse »15 Jahre« endete.
»Na, da habt ihr wohl einen dabei totgeschlagen?« war die weitere Frage.
Auch er konnte es nicht glauben, daß für diese eine Straftat 15 Jahre Zuchthaus verhängt werden konnten.
Ich will mich auf die einzelnen Phasen des von mir geführten Prozesses nicht einlassen. Aber es ist belehrend, wie die Strafkammer in Gnesen in jedem Schreiben, das sie als Antwort auf meine Eingabe mir zuschickte, immer auch gleichzeitig einen neuen Angriffspunkt gegen sich selbst und ihre Schlußfolgerung niederlegte und mir so ungewollte Aufklärung gab.
Ich habe sie tatsächlich von Position zu Position gedrängt und sie zu der Schlußsentenz genötigt, daß nur in einem Strafantrag gegen den Gerichtshof in corpore wegen bewußter Rechtsbeugung ein Ausweg für mich zu finden sei.
Es wird jedem einleuchten, wie schwer es ist, einen Gerichtshof auf diese Beschuldigung hin zur Verantwortung zu ziehen. Ich entschloß mich aber doch dazu, und so begann der Kampf noch einmal.
Auch hier habe ich die Gründe, die der Gerichtshof zu seiner Entschuldigung und Rechtfertigung vorbrachte, widerlegt, das Oberlandesgericht aber zu der Schlußschrift genötigt – die mir, vom Oberlandesgerichtspräsidenten und dem Oberstaatsanwalt unterzeichnet, zugestellt wurde –, daß mein Gesuch zur Erhebung eines Strafantrages gegen den Gerichtshof nicht genügend begründet sei.
Wie schwer muß eigentlich das Beweismaterial sein, um einen Gerichtshof wegen bewußter Rechtsbeugung zur Verantwortung zu ziehen?
Der Rechtsweg war für mich somit verschlossen, und ich konnte auf keine Hilfe rechnen. Da setzte sich in mir der bittere Entschluß fest, mich selbst an den Richtern persönlich zu rächen.
Mein Kampf, den ich gegen die Gerichtsbehörde geführt, hatte die Teilnahme vieler Ober- und Unterbeamten erweckt, und so blieb es ihnen nicht verborgen, in welche gereizte Stimmung ich mich hineingearbeitet hatte.
Da sie meine Tatkraft und Entschlossenheit aus dem langen Umgang mit mir zur Genüge kannten und mit Recht annehmen durften, ich würde meinen Entschluß nach meiner Entlassung auch ausführen, so gaben sie sich die erdenklichste Mühe, mich in Privatunterhaltungen von meinem Vorhaben abzubringen.
Ich wurde denn auch ruhiger und versöhnlicher gestimmt und begann, mich allmählich wieder mit meiner Zukunft zu beschäftigen.
Wie ich früher erwähnt, hatte ich die Verbindung mit meiner Familie nicht gesucht. Als ich aber etwa zehn Jahre verbüßt, fiel mir dieses Verlassensein doch schwer, so daß ich beschloß, mir wenigstens Nachrichten auf Umwegen von meinen Schwestern zu verschaffen.
Ich verzichtete von Haus aus darauf, mit ihnen in brieflichen Verkehr zu treten, und so beauftragte ich den Anstaltsgeistlichen, bei dem Einwohnermeldeamt zu Köln, wo, wie ich wußte, meine Schwester zuletzt polizeilich gemeldet war, Nachrichten einzuholen.
Der Versuch war nicht vergeblich, und ich bekam die genaue Adresse.
Darauf bat ich den Direktor der Anstalt, mir einen leeren Briefbogen, d. h. einen Bogen ohne Anstaltsstempel zu verabfolgen. Ich legte ihm die Gründe zu dieser Bitte klar, er schlug sie mir ab.
Ich meine, jeder Unbefangene wird diese Handlungsweise des Direktors unter solchen Umständen abfällig beurteilen.
Erst nach zwei Jahren, als der Direktor seinen Urlaub genoß, erfüllte mir sein Stellvertreter meine abermalige Bitte. So war ich in der Lage, meine Schwester wenigstens davon zu benachrichtigen, daß ich noch lebe.
Meine eigene Adresse hatte ich in dem Brief nicht angegeben, so war der Zweck meines Schreibens erreicht, ohne daß meine Schwester ihren Familienangehörigen gegenüber in Verlegenheit kam.