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XV. Allein!

Beim ersten Sonnenstrahl öffnete Dick, welcher dem ihm gestellten Zeitpunkt auch nicht um eine Minute voreilen wollte, das Schriftstück, das ihm der Kaw-djer übergeben hatte.

Es lautete:

»Mein Sohn!

Ich bin des Lebens müde und sehne mich nach Ruhe. Wenn Du diese Zeilen liest, werde ich die Kolonie bereits verlassen haben, um sie nie wieder zu betreten. Ihr Schicksal lege ich in Deine Hände. Du bist noch sehr jung für diese wichtige Aufgabe, aber ich kenne Dich und weiß, daß Du ihr gewachsen sein wirst!

Halte treu den Vertrag ein, den ich mit Chile abgeschlossen habe, aber fordere strenge Reziprozität. Wenn die Goldlager erschöpft sein werden, bezweifle ich nicht, daß die chilenische Regierung selbst auf eine rein nominelle Oberherrschaft verzichten wird.

Dieser Vertrag kostet für kurze Zeit den Hostelianern den Besitz der Insel Hoorn, die mein persönliches Eigentum wird. Nach meinem Tode aber gehört sie ihnen wieder. Dorthin will ich mich jetzt zurückziehen, dort will ich die mir noch vergönnten kurzen Lebenstage verbringen und auf diesem freien Boden will ich sterben.

Sollte Chile seine Versprechungen nicht halten, dann weißt Du, wo ich zu finden bin. Diesen einen Fall ausgenommen, wünsche ich, daß Du meinen Aufenthaltsort vergißt. Es ist keine Bitte, die ich an Dich richte, sondern ein Befehl – der letzte, den ich ausspreche.

Lebe wohl! Habe immer ein Ziel vor Augen: die Gerechtigkeit! Hasse nur eines: das Sklaventum! Und der einzige Gegenstand deiner Liebe sei – die Freiheit!«

Zur selben Stunde, als Dick, bis ins Innerste erschüttert, das Testament des Mannes las, dem er so unendlich viel verdankte, entfloh dieser mit sorgenvoll gefurchter Stirne als kaum wahrnehmbarer Punkt auf der weiten Wasserfläche. An Bord der Wel-kiej hatte sich nichts verändert; er stand am Steuer und hielt das Rad mit fester Hand.

Jetzt übergoß die Morgenröte den Horizont mit rosigem Schimmer und bald zitterten die ersten Sonnenstrahlen auf der glatten Oberfläche des ewigen Meeres. Der Kaw-djer hob den Kopf, seine Blicke suchten den Süden. In dem immer heller werdenden Morgenlichte tauchte die Insel Hoorn langsam empor. Mit leidenschaftlicher Freude hingen die Augen des Kaw-djer an den verschwommenen Nebelmassen, die über dem Ziele seiner Reise schwebten; nicht derjenigen, die in dieser Stunde ihrem Ende nahte, sondern der langen Reise seines Erdenwallens.

Gegen zehn Uhr morgens landete er an einer kleinen Bucht, die gegen die Brandung Schutz bot. Sogleich sprang er ans Land und barg die Ladung der Wel-kiej an dem Strande. Dieses Geschäft erforderte eine halbe Stunde.

Dann – hastig wie ein Mensch, welcher eine ihm schwer fallende Pflicht mit einem Schlage abtun will – hob der Kaw-djer die Axt, um sie mit voller Wucht in die Flanken der Wel-kiej niedersausen zu lassen. Das Wasser drang gurgelnd in die Bresche ein und die Wel-kiej, zum Tode verwundet, erzitterte in allen Fugen, neigte sich langsam auf die Seite, schwankte noch ein wenig und dann hatten sie die Wogen verschlungen ... Ernst blickte ihr der Kaw-djer nach. Es tat ihm im Inneren sehr weh. Er schämte sich der Zerstörung der treuen Schaluppe, der Gefährtin vieler Jahre und empfand heftige Vorwürfe wegen seiner Tat; es war ihm, als ob er einen Mord begangen habe. Aber mit diesem Morde war die Vergangenheit getötet worden. Jetzt war der letzte Faden, der ihn mit der Welt verknüpft hatte, endgültig durchschnitten.

Den ganzen Tag beschäftigte er sich damit, die mitgebrachten Gegenstände zum Leuchtturm hinaufzutragen und seinen künftigen Aufenthaltsort genau zu untersuchen. Alles war vollendet, die Maschinen in bester Ordnung, der Wohnraum mit allem Nötigen versehen. Vom materiellen Standpunkt aus betrachtet, mußte es ihm leicht werden, hier zu leben: die Vorratskammern waren wohl gefüllt, außerdem konnte er sich Seevögel schießen, so viel er begehrte, und der Samen, den er in den geschützten Stellen der Felsen aussäen wollte, würde auch aufgehen und hundertfältige Frucht tragen.

Gegen Abend, als seine Einrichtungen beendet waren, trat er hinaus. In der Nähe der Türe lag ein Haufen Steine, die man seinerzeit beim Aufführen der Grundmauern entfernt und hier liegen gelassen hatte.

Ein solcher Stein fesselte seine Aufmerksamkeit, er war bis an den Rand des Plateaus gerollt. Ein Fußstoß genügte, um ihn ins Meer zu schleudern.

Der Kaw-djer näherte sich und ein Ausdruck des Hasses und der Verachtung belebte seine Züge ...

Er hatte sich nicht getäuscht. Glänzende Adern durchzogen das Gestein – es war goldführender Quarz. Vielleicht enthielt er ein Vermögen und die Arbeiter waren achtlos daran vorbeigegangen. Nun lag er da wie ein ganz wertloses Objekt.

Selbst bis hierher verfolgte ihn das verfluchte Metall! ... Vor seinen Blicken erstanden wieder die Greuelszenen, die sich auf der Insel Hoste abgespielt hatten, der Wahnsinn der Kolonisten, das Herbeiströmen von Abenteurern aus allen Teilen der Erde ... der Hunger ... das Elend ... das Verderben ...

Mit einem heftigen Tritt schleuderte er den kostbaren Block ins Wasser, zuckte gelassen die Achseln und wanderte dann bis zur äußersten Spitze des Vorgebirges.

Hinter ihm ragte die gewaltige Eisenkonstruktion in die Luft, die an ihrem höchsten Punkte die Laterne trug, welche heute, zum ersten Male mächtige Lichtgarben über die Meere werfen und den Schiffen auf ihrem Weg leuchten sollte.

Des Kaw-djers Blicke überflogen den weiten Horizont. Er stand nicht zum ersten Male auf dieser Stelle, am Ende der bewohnten Welt. Vor dreizehn langen Jahren hatte er auch von hier aus in die Ferne geschaut ... es war Abend gewesen und der Notschuß des »Jonathan« drang unheilverkündend durch das Heulen des Orkans an sein Ohr. Welch eine Erinnerung! ...

Heute war kein Schiff auf der Wasserfläche vor ihm zu sehen, der Blick erschaute nur das unendliche Meer. Und hätte sein Auge auch die Scheidewand durchdringen können, die das auf den Wassern ruhende Firmament ihm gezogen, er hätte auch kein Leben entdeckt. Dort lag in weiter, weiter Ferne – die von Rätseln umschleierte antarktische Welt, eine kalte Eisregion, in der kein Lebewesen gedeihen konnte.

Er stand an der äußersten Grenze, das Ende war erreicht. Ein dunkler Weg hatte ihn hergeführt. Und doch hatte er nicht die gewöhnlichen kleinlichen Sorgen und Leiden, die das Menschenleben mit sich bringt, erduldet. Er war der Urheber und das Opfer seiner Qualen. Es war in seiner Hand gelegen, einer der Glücklichsten auf dieser Erde zu sein, einer der Mächtigen, vor denen sich die Stirnen vieler beugen – und er hatte vorgezogen, seine Tage auf einem in einer Wasserwüste verlorenen Felsen zu beschließen! ...

Aber er hätte übrigens nirgends die Kraft gehabt, die Lasten des Lebens zu ertragen. Die ergreifendsten Dramen spielen sich im Gedankenkreis, im Empfinden jedes einzelnen ab. Für denjenigen, der sie durchgemacht hat, der ermattet und mutlos aus dem Kampfe hervorgeht, gibt es keinen anderen Ausweg als den Tod oder das Kloster. Der Kaw-djer hatte das letztere gewählt. Dieser Felsen war eine Zelle mit unübersteigbaren Mauern.

Er hätte ein besseres Schicksal verdient! Wir sterben, aber unsere Taten sterben nicht, sie überleben uns in ihren Folgezuständen. Wir sind Wanderer, deren Schritte auf dem Lebenspfade unverwischbare Spuren zurücklassen. Nichts geschieht, was nicht infolge der Vorbedingungen geschehen mußte, und die Zukunft baut sich auf den Ausläufern der Vergangenheit auf.

Wie immer diese Zukunft sein mochte, wenn auch das Volk, das er geschaffen hatte, nach einer ephemeren Existenz von der Erde verschwinden sollte, wenn die Erde selbst zerstört werden und in der Unendlichkeit des Kosmos aufgehen sollte – das Werk des Kaw-djer konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden, es lebte für ewige Zeiten fort ...

Wie eine hohe Säule stand der Kaw-djer regungslos auf der Höhe der Klippe, die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten seine edle Gestalt in leuchtendes Rot, eine leichte Brise spielte in seinen langen, schon weißen Haaren und dem wehenden Barte: er betrachtete den unendlichen Raum vor sich und träumte; träumte – wie er, entfernt von allen, aber allen nützend, hier ein einsames Dasein führen wollte, frei und allein – für immer und ewig! –

 

Ende.


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