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Harry Rhodes und Hartlepool, auf deren Schultern während der Abwesenheit des Kaw-djer alle Verantwortung ruhte, hatten keinen Augenblick verloren, um die Stadt in Verteidigungszustand zu setzen, während der Kaw-djer ihren Vormarsch nach Möglichkeit aufhielt.
Zwei tiefe und breite Gräben, hinter denen sich ein Erdwall erhob, der keine Kugeln durchließ, mußten jeder Überrumpelung vorbeugen. Der eine dieser Wälle, der im Süden lag, war zweihundert Schritte lang und ging vom Flusse aus, umfaßte die Stadt im Halbkreis, bis er den Sumpf erreichte, der allein ein unübersteigbares Hindernis bildete. Der andere, im Norden der Stadt, maß kaum fünfhundert Schritte und verband gleichfalls den Fluß mit dem Sumpf; er kreuzte die Straße, die Liberia und Neudorf verband.
So war die Stadt von allen Seiten beschützt. Im Norden und Nordosten durch den Sumpf, in dem ein Pferd bis an den Leib einsinken mußte, im Nord- und Südwesten bis nach Osten durch die aufgeworfenen Gräben und Dämme, im Westen durch den Fluß, der auch ein Hindernis für die Angreifer war.
Neudorf war verlassen worden. Die Bewohner waren mit aller Habe nach Liberia geflohen; sie wußten, daß sie ihre Häuser der sicheren Zerstörung anheimgaben.
Schon am ersten Abend, noch ehe die Arbeiten beendet waren und die Gefahr noch nicht aus nächster Nähe drohte, hatte man scharf Wache gehalten. Fünfzig Mann waren dazu erforderlich. Aus dreißig Meter Entfernung standen sie auf dem Walle und dem Flußufer und hielten fleißig Umschau in der nächsten Umgebung, bereit, die Stadt beim ersten Anzeichen einer Gefahr zu alarmieren. Einhundertfünfundsiebzig Männer, welche mit den noch übrigen Gewehren bewaffnet und im Herzen der Stadt postiert waren, hielten sich bereit, um sofort zur Hand zu sein, wenn das Alarmsignal gegeben würde. Die übrige Bevölkerung schlief während dieser Zeit. Alle Bürger mußten sich in diesen drei Beschäftigungen ablösen.
Die Verteidigung konnte nicht besser organisiert sein. Ganz vorne standen die fünfzig Wachtposten, welche in bestimmten Zwischenräumen von den einhundertfünfundsiebzig Mann der Reserve abgelöst wurden; dann blieben noch die Liberier, welche auch beim ersten Lärm auf ihrem Platze sein würden. Diese letzteren waren allerdings schlecht bewaffnet, außer Hacken, Messern und Stangen besaßen sie nichts, aber diese Waffen wären in einem Kampfe, wenn es zum Handgemenge kommen sollte, durchaus nicht zu verachten.
Niemand konnte sich von der allgemeinen Wachtpflicht ausschließen. Patterson mußte auch seinen Dienst tun, so gut wie jeder andere. Wie er auch darüber denken mochte, er hatte sich willig gefügt und überhaupt waren seine innersten Gedanken so verwirrter Natur, daß er selbst nicht imstande gewesen wäre, zu sagen, ob er befriedigt oder geärgert war.
Während ihm die Wache oblag, stellte er Betrachtungen darüber an; zum ersten Male in seinem Leben analysierte er seine Gedanken.
Die feindseligen Gefühle, die er gegen seine Mitbürger, gegen die Stadt Liberia, gegen die ganze Insel Hoste gefaßt hatte, waren immer noch lebendig in seinem Herzen und es erschien ihm doppelt hart, jetzt gezwungen zu sein, etwas zur Rettung der Stadt beitragen zu müssen. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, waren ihm die Nachtstunden unerträglich.
Aber der Haß fiel erst in dritter Linie bei Patterson ins Gewicht. Der ehrliche Haß wie die wahre Liebe suchen sich offene, weite Herzen, aber in der engen Seele eines Geizhalses finden solche groß angelegte Leidenschaften keine Wohnstätte.
Erst kam bei ihm die Habgier an die Reihe, in zweiter Linie aber die Furcht.
Nachdem sein Schicksal mit dem seiner Mitbürger zusammenhing, riet ihm die Furcht, seinen Haß zu vergessen. Wenn es ihm auch angenehm gewesen wäre, eine Stadt, die er verabscheute, in Flammen aufgehen zu sehen, so war doch dabei die Bedingung zu stellen, daß er sich vorher retten konnte. – Aber es gab keine Möglichkeit, sie zu verlassen. Im Inneren der Insel streiften die wilden Horden der Patagonier, deren Grausamkeit zur Genüge bekannt war und die bald vor Liberia erscheinen mußten. Indem Patterson die Stadt verteidigen half, verteidigte er sich schließlich nur selbst!
Also zog er vor, die Wache zu beziehen, obwohl sie für ihn eine Quelle der unangenehmsten Empfindungen war. Er fand durchaus kein Vergnügen daran, allein zu bleiben, in der ersten Reihe, manchmal auch während der Nacht, und Gefahr zu laufen, vom Feinde überrascht zu werden. Die Furcht machte aus ihm sogar eine ausgezeichnete Schildwache. Mit welcher Anstrengung er seine Blicke in die Finsternis bohrte! Mit welcher Gewissenhaftigkeit er die Schatten der Nacht durchforschte, das Gewehr schußbereit zur Hand, um beim geringsten verdächtigen Geräusch den Alarmschuß zu geben.
Die ersten vier Tage verliefen ohne Zwischenfall, nicht so war es am fünften. Gegen Mittag hatte man die Patagonier sich nähern sehen und gleich darauf schlugen sie im Süden der Stadt ihr Lager auf. Jetzt wurde das Spiel bitterer Ernst. Der Feind war in bedrohlicher Nähe da.
An diesem Abend hatte Patterson seine Wache am nördlichen Wall anzutreten, zwischen dem Fluß und der Straße nach Neudorf. Da sah er plötzlich ein helles Licht in der Richtung des Hafens aufblitzen. Jetzt war keine Illusion mehr möglich, die Patagonier begannen den Tanz. Vielleicht kam es gleich zum Angriff und wahrscheinlich gerade vor ihm, nachdem ihm sein Unstern den Posten an der Straße zugewiesen hatte.
Wie groß war sein Schrecken, als wenige Minuten nachher auf eben dieser Straße lauter Lärm losbrach. Eine nicht unbedeutende Truppe kam herbeigelaufen und näherte sich rasch. Nun wußte Patterson genau, daß quer durch die Straße ein Graben gelegt war, den eine Abzweigung des Flusses mit Wasser gefüllt hatte. Diese Verteidigungsmittel schienen ihm sehr beruhigend am lichten Tage, jetzt, in finsterer Nacht aber sehr ungenügend! Er sah schon den Graben übersetzt, den Wall erklommen, die Stadt eingenommen ...
Aber die mutmaßlichen Eindringlinge waren am Rande des Grabens stehen geblieben. Patterson, obwohl er die einzelnen Worte nicht hören konnte, verstand, daß man sich beriet. Dann kam es zu einem Tumult. Man schleppte Bretter, Bohlen, Stangen herbei, um einen Notsteg zu schaffen. Wenige Augenblicke später sah Patterson von weitem die Ankömmlinge vorbeidefilieren. Sie waren wirklich in großer Menge gekommen und ihre Gewehre blitzten in den fahlen Strahlen des Mondes, der eben sein letztes Viertel begonnen hatte. An ihrer Spitze schritt ein Mann von großer Gestalt, um den sich alles drängte, dessen Name von Mund zu Mund lief: es war der Kaw-djer.
Patterson war gleichzeitig sehr erfreut und zornig erregt. Er war zornig, weil der Kaw-djer gekommen war, den er über alles haßte. Er empfand Freude, weil ihn diese eingetroffenen Verstärkungen beruhigten.
Der Kaw-djer war von Neudorf herübergekommen. Als er bei der Ankunft den Feuerschein in dem Vororte erblickte und wußte, daß dieser ein Raub der Flammen sei, hatte er rasch einen Plan erdacht. Er hatte, wie die Patagonier, den Fluß drei Kilometer stromaufwärts mit seiner kleinen Armee übersetzt und sich, durch die helleuchtende Flamme geführt, durch die Felder nach Neudorf geschlichen.
Aus der Anzahl der Lagerfeuer im Süden schloß er, daß der große Teil der Patagonier sich dort befinden mußte. Deshalb konnte man in der Nähe des Vorortes höchstens kleinen Abteilungen begegnen, die leicht zu überwältigen waren. Auf diese Weise wollte er Liberia von der Straße aus erreichen.
Er hatte alles so ausgeführt. Die Brandstifter wurden im Hafen überrumpelt; sie waren sehr enttäuscht, dort nichts anzutreffen, was die Mühe des Plünderns gelohnt hätte, und in ihrer Wut, die sie taub und blind machte, zerstörten sie alles. Nachdem sie, ohne den leisesten Widerstand zu finden, bis zu diesen Häusern vordringen konnten, hatten sie alle Vorsicht für überflüssig gehalten und nicht einmal Wachen aufgestellt.
Wie ein Ungewitter fiel der Kaw-djer über sie her. Einige Schüsse wurden gewechselt, dann ergriffen die überraschten Patagonier die Flucht, nicht ohne den Siegern fünfzehn neue Gewehre und fünf Gefangene zurückzulassen. Man verfolgte sie nicht. Die Schüsse konnten am anderen Ufer vernommen worden sein und es stand vielleicht ein Angriff zu erwarten. Deshalb beeilten sich die Hostelianer, Liberia zu erreichen. Der Kampf hatte nur zehn Minuten gedauert.
Die unverhoffte Rückkehr des Kaw-djer war nicht die einzige Aufregung, die das Schicksal zu Pattersons Prüfung auserdacht hatte. Drei Tage später stand ihm eine größere bevor, deren Folgen viel ernsterer Natur waren.
Der Wachtdienst rief ihn diesmal von sechs Uhr abends bis zwei Uhr morgens an das Flußufer, zirka hundert Meter von der Stelle entfernt, wo der nördliche Wall es berührte. Zwischen ihm und dem Wall waren noch drei andere Schildwachen postiert. Der Platz war nicht schlecht. Man wurde selbst von allen Seiten bewacht.
Als Patterson seinen Posten erreichte, war es noch hell und die Situation schien ihm wenig besorgniserregend. Aber nach und nach sanken die Schatten der Nacht hernieder und mit ihnen ergriff ihn die Angst. Wieder lauschte er auf den geringsten Lärm, hielt fortgesetzt nach allen Richtungen Umschau, um sich ja keine verdächtige Bewegung entgehen zu lassen.
Er blickte weit in die Ferne, während die Gefahr in nächster Nähe auf ihn lauerte. Wie erschrak er, als er sich plötzlich mit halblauter Stimme anrufen hörte.
»Patterson!« murmelte jemand, der nur zwei Schritte von ihm entfernt sein konnte.
Er erstickte einen Schrei, der sich ihm auf die Lippen drängen wollte; im selben Augenblick sagte jemand in befehlendem Tone:
»Ruhe!«
Die erste Stimme flüsterte wieder:
»Erkennst du mich?«
Und als Patterson, unfähig ein Wort hervorzubringen, schwieg:
»Sirdey,« sagte man in der Finsternis.
Patterson atmete auf; der ihn ansprach, war ein Kamerad, allerdings der letzte, den er hier erwartet hätte.
»Sirdey? sagte er fragend und horchte auf.
– Ha ... Sei vorsichtig ... Sprich leise ... Bist du allein? ... Ist niemand in deiner Nähe?«
Patterson schien die Finsternis um sich durchbohren zu wollen.
»Niemand,» sagte er.
– Rege dich nicht! befahl Sirdey. Bleibe ruhig stehen ... daß man dich sehen kann ... Ich komme näher zu dir, aber wende dich nicht nach meiner Seite!«
Das Gras am Ufer des Flusses knisterte leise.
»Hier bin ich,« sagte Sirdey und blieb ausgestreckt am Boden liegen.
Trotz der erhaltenen Weisung warf Patterson einen Blick auf seinen unerwarteten Besucher und bemerkte, daß dieser ganz durchnäßt war.
»Woher kommst du, fragte er und nahm seine frühere Stellung, wieder ein.
– Aus dem Fluß ... ich bin bei den Patagoniern.
– Mit den Patagoniern? ... sagte Patterson mit dumpfer Stimme.
– Ja ... Vor achtzehn Monaten habe ich die Insel Hoste verlassen, Indianer haben mich über den Beagle-Kanal gesetzt. Ich wollte nach Punta-Arenas und von da nach Argentina und weiter gehen. Aber die Patagonier haben mich unterwegs aufgefangen.
– Was haben sie dir getan?
– Zum Sklaven haben sie mich gemacht.
– Zum Sklaven! ... wiederholte Patterson. Aber jetzt bist du ja frei, wie mir scheint!
– Sieh her!« antwortete Sirdey.
Patterson gehorchte der Einladung und glaubte eine Schnur zu unterscheiden, die an Sirdeys Gürtel befestigt schien. Aber als dieser die Schnur schüttelte, rasselte sie wie eine Eisenkette.
»Du siehst, wie frei ich bin! ... nahm der einstige Koch wieder das Wort. Außerdem sind zwei Patagonier zehn Schritte weit von mir im Wasser versteckt und beobachten mich. Selbst wenn ich diese Kette zerreißen könnte, deren anderes Ende sie in Händen haben, würden sie mich bald eingefangen haben, ehe ich wenige Schritte machen könnte.«
Patterson begann so heftig zu zittern, daß Sirdey es bemerkte.
»Was hast du denn? fragte er.
– Patagonier! stammelte Patterson seiner selbst kaum mächtig.
– Fürchte dich nicht, beruhigte ihn Sirdey. Sie tun dir nichts. Sie brauchen uns ja. Ich habe ihnen gesagt, daß ich auf dich zählen kann, deshalb haben sie mich als Dolmetsch hergeschickt.
– Was wollen sie denn?« ... – kam es stockend von Pattersons Lippen.
Es herrschte einen Augenblick Stillschweigen, ehe Sirdey antwortete:
»Sie wollen, daß du sie in die Stadt hineinläßt.
– Ich!! ... sträubte sich Patterson.
– Ja du!! ... Du mußt! ... Höre mich an! ... Es handelt sich bei mir um Leben und Tod. Wie ich in ihre Hände gefallen bin, haben sie mich zum Sklaven gemacht, wie ich dir sagte. Sie haben mich auf hundertfache Weise gequält. Eines Tages haben sie durch einige unvorsichtige Worte erfahren, daß ich von Liberia komme. Da ist ihnen eingefallen, sich meiner als Werkzeug zu bedienen, um die Stadt zu plündern, von deren Schätzen sie schon gehört hatten. Sie haben mir die Freiheit angeboten, wenn ich ihnen dazu verhelfe ... Du verstehst, ich ...
– Schweig'!« ... unterbrach ihn Patterson.
Eine der zunächststehenden Schildwachen wollte die steifen Glieder etwas in Bewegung bringen und näherte sich den beiden, blieb aber fünfzehn Meter von den Sprechenden stehen, es war die Grenze ihres Wachtbezirkes.
»Es ist recht frisch heute Nacht, sagte der Hostelianer, ehe er an seinen Platz zurückkehrte.
– Ja, brachte Patterson mit erstickter Stimme hervor.
– Gute Nacht, Kamerad!
– Gute Nacht!«
Die Schildwache kehrte Patterson den Rücken, entfernte sich und war bald im Dunkel verschwunden.
Sogleich fuhr Sirdey fort:
»Du begreifst, daß ich alles versprochen habe! ... Darauf haben sie diesen Raubzug inszeniert und mich mitgeschleppt: Tag und Nacht haben sie mich nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen. Jetzt verlangen sie, daß ich mein Versprechen halte! Sie sind wütend, weil sie soviel Widerstand gefunden haben und man über hundert Gefangene gemacht hat ... Diesen Abend habe ich ihnen gesagt, daß ich mich mit einem Kameraden in Verbindung setzen wollte, der mir keinen Dienst verweigert ... Ich hatte dich von weitem erkannt ... Wenn sie entdecken, daß sie von mir getäuscht worden sind, ist mein Schicksal besiegelt!«
Während Sirdey erzählte, überlegte Patterson. Es hätte ihn gefreut, diese Stadt zerstört und alle Bewohner, besonders aber den Gouverneur, vertrieben oder massakriert zu sehen. Aber es war sehr gefährlich für ihn! Patterson schwankte kurze Zeit, dann hatte er sich entschieden.
»Was soll ich dabei tun? fragte er kalt.
– Uns helfen, hineinzukommen, antwortete Sirdey.
– Ihr braucht meine Hilfe ja gar nicht; der beste Beweis bist du; du bist ja auch allein hereingekommen, entgegnete Patterson.
– Ein Mann kann leicht ungesehen hineinkommen, sagte Sirdey. Bei fünfhundert Leuten ist das aber schwieriger!
– Fünfhundert! ...
– Ja, natürlich! ... Glaubst du vielleicht, daß ich einen Spaziergang in der Stadt machen will und dazu deine Hilfe brauche? Für mich ist die Luft in Liberia ebenso ungesund wie die Gesellschaft der Patagonier ... Was ist denn übrigens ...
– Schweig'!« ... befahl ihm plötzlich Patterson rauh.
Das Geräusch von Schritten näherte sich, bald darauf wurden drei Männer sichtbar. Der eine rief Patterson an und ließ für einen Augenblick den Schein einer Laterne, die er unter dem Mantel verborgen hielt, auf das Gesicht der Schildwache fallen.
»Nichts Neues? fragte der eine Ankömmling, niemand anderer als Hartlepool.
– Nichts.
– Alles ruhig?
– Ja.«
Hartlepool setzte seinen nächtlichen Rundgang fort.
»Was sagtest du zuletzt? fragte Patterson, als er sich außer Hörweite entfernt hatte.
– Ich wollte sagen: was ist denn übrigens aus den anderen geworden?
– Aus welchen anderen?
– Dorick?
– Tot.
– Fred Moore?
– Tot.
– William Moore?
– Tot.
– Alle Teufel! ... Und Kennedy?
– Ist gesund wie du und ich.
– Nicht möglich! ... Also hat er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können?
– Wahrscheinlich.
– Ist kein Verdacht auf ihn gefallen?
– Ich glaube nicht; er ist immer frei herumgegangen.
– Er hat irgendwo die Wache. Ich weiß nicht wo ...
– Könntest du das nicht erfahren?
– Unmöglich. Ich darf meinen Posten nicht verlassen. Was willst du denn von Kennedy?
– Mich an ihn wenden, nachdem dir mein Vorschlag nicht zu gefallen scheint.
– Du glaubst, daß ich dir beistehen würde? protestierte Patterson. Du glaubst, daß ich den Patagoniern behilflich sein werde, uns alle zu ermorden?
– Das tun sie ja nicht! behauptete Sirdey. Die Kameraden haben nichts zu befürchten. Ganz im Gegenteil, sie bekommen einen Anteil an der Beute. Das ist schon ausgemacht!
– Hm!« machte Patterson, der nicht sehr überzeugt schien. Aber er war schwankend geworden. Sich an den Hostelianern rächen und auf ihre Kosten bereichern zu können, das war sehr verführerisch ... Aber wer kann den Versprechungen dieser Wilden trauen! ... Wieder behielt die Klugheit die Oberhand.
»Das ist alles Wortgeklingel! sagte er mit Bestimmtheit. Weder Kennedy noch ich könnten fünfhundert Männer unbemerkt hereinlassen, selbst wenn wir es wollten.
– Es ist ja nicht notwendig, daß alle auf einmal hereinkommen, sagte Sirdey. Fünfzig oder auch nur dreißig wären genügend. Wenn diese die Wache übernehmen, könnten die anderen leicht Nachkommen.
– Fünfzig, dreißig, zwanzig, zehn – alles ist zu viel!
– Ist das dein letztes Wort?
– Mein letztes.
– Also – nein?
– Nein.
– Also lassen wir es, schloß Sirdey und begann nach dem Flusse hin zu kriechen. Aber plötzlich hielt er inne und blickte zu Patterson auf.
– Die Patagonier zahlen gut, sagte er.
– Wieviel?«
Das Wort kam ganz allein von Pattersons Lippen, ohne dessen Zutun. Sirdey näherte sich wieder.
»Tausend Piaster,« sagte er.
Tausend Piaster! ... Fünftausend Franken! ... Die Höhe der Summe hätte den Patterson von einstmals nicht geblendet. Aber der Fluß hatte ihm alles genommen; er besaß gar nichts mehr. Kaum war es ihm gelungen, nach einem Jahre angestrengtester Arbeit, fünfundzwanzig Piaster zu ersparen. Und diese elenden fünfundzwanzig Piaster machten jetzt sein ganzes Vermögen aus. Jetzt würde es schon schneller damit vorwärtsgehen; Gelegenheiten, es zu vermehren, würden sich schon bieten. Am schwersten ist immer die Basis zu erreichen! Aber tausend Piaster! ... Jetzt konnte er mit einem Male das Vierzigfache eines achtzehnmonatlichen Arbeitslohnes verdienen! – Und dann war vielleicht noch mehr herauszuschlagen, denn das logische Verfahren bei jedem Handel ist doch – das Handeln!
»Das ist mir zu wenig, sagte er mit wegwerfender Miene. Für eine Sache, wobei man seine Haut riskiert, wären zweitausend nicht zu viel ...
– Nun dann – gute Nacht, sagte Sirdey und wandte sich zum Rückzug.
– Oder wenigstens fünfzehnhundert,« meinte Patterson, der sich durch Sirdeys Gebaren nicht einschüchtern ließ.
Jetzt war er im rechten Fahrwasser: er konnte handeln. Auf diesem Gebiet war er zu Hause. Ob das Kaufobjekt eine Ware oder sein Gewissen war, es handelte sich immer um einen Ein- und Verkauf. Aber das Kauf- und Verkaufsverfahren ist an bestimmte Regeln gebunden und die kannte er genau. Es ist nun schon einmal Brauch, daß der Verkäufer zu viel verlangt und der Käufer zu wenig bietet. Durch das Handeln wird das Gleichgewicht hergestellt. Wer handelt, kann immer nur gewinnen, verliert aber nie etwas. Nachdem die Zeit drängte, hatte Patterson ausnahmsweise seine Forderungen erst verdoppelt, um sie unmittelbar darauf auf fünfzehnhundert herabsinken zu lassen.
»Nein, sagte Sirdey mit Bestimmtheit.
– Wenn es doch wenigstens vierzehnhundert wären! seufzte Patterson. Dann ginge es vielleicht! ... Aber tausend Piaster! ...
– Tausend Piaster und nicht einen mehr!« sagte Sirdey und wollte wieder fortkriechen.
Patterson setzte alles auf eine Karte.
»Dann ist es unmöglich!« sagte er sehr ruhig.
Jetzt wurde Sirdey unruhig ... Alles war so gut eingefädelt! ... Sollte es wegen ein paar hundert Piastern nicht zum Klappen kommen? ... Er näherte sich wieder.
– Nehmen wir die goldene Mittelstraße: zwölfhundert,« schlug er vor.
Patterson beeilte sich, anzunehmen.
– Nur um dir einen Gefallen zu erweisen, sagte er; also für zwölfhundert Piaster!
– Abgemacht? ... fragte Sirdey.
– Abgemacht!« ... wiederholte Patterson.
Aber es blieben noch die Einzelheiten zu besprechen.
»Wer wird mir das Geld einhändigen? erkundigte sich Patterson. Sind denn die Patagonier so reich, um mir nichts, dir nichts zwölfhundert Piaster herzuschenken?
– Ganz im Gegenteil, sie sind sehr arm! sagte Sirdey. Aber es sind ihrer viele und sie werden all ihr bißchen Habe zusammenlegen, um die Summe aufzutreiben. Wenn sie es tun, geschieht es so nur mit der Aussicht auf tausendmal reichere Beute in Liberia!
– Das ist ja möglich, geht mich auch nichts an, sagte Patterson. Mich interessiert nur, zu wissen, wie und wo ich das Geld bekomme. Vorher oder nachher?
– Die eine Hälfte vor, die andere Hälfte nach der Tat!
– Nein, erklärte Patterson. Jetzt höre meine Bedingungen! Morgen abends will ich achthundert Piaster haben ...
– Wo? ... fragte Sirdey.
– Dort, wo ich Wache halte; suche mich auf! ... Was den Rest der Summe betrifft, so werde ich ihn am Tage der Ausführung erhalten. Zehn Patagonier werden hineingelassen und einer von ihnen hat mir das Geld zu geben. Zahlt man mir nicht alles richtig aus, dann alarmiere ich das Lager. Ist die Zahlung in Ordnung, so schweige ich.
– Angenommen, sagte Sirdey. Wann soll das sein?
– Die fünfte Nacht nach dieser, bei Neumond.
– Wo?
– Bei mir ... In meiner Umzäunung!
– Ja, aber ... ich habe dein Haus gar nicht gesehen! sagte Sirdey.
– Das Hochwasser hat es vor einem Jahre mit fortgerissen; das macht aber nichts; wir brauchen das Haus nicht. Die Palisade genügt.
– Die ist ja ganz zusammengebrochen!
– Ich werde sie ausbessern.
– Gut, meinte Sirdey. Also morgen!
– Ja, morgen!« antwortete Patterson.
Er hörte wieder das schwache Knistern des Grases, dann ließ ihn ein leises Plätschern erraten, daß Sirdey sich vorsichtig in den Fluß hatte gleiten lassen, dann störte nichts mehr die Ruhe der Nacht.
Am nächsten Morgen sah man mit Erstaunen, daß Patterson sich mit dem Ausbessern des Zaunes beschäftigte, der einst seine Gemüsebeete und sein Haus umschloß und nun halb zusammengebrochen war.
Die Zeit war merkwürdig gewählt, um diese Arbeiten vorzunehmen. Aber das Land war sein Eigentum, er hatte die betreffenden Papiere in der Tasche, die es schwarz auf weiß bewiesen. Nach der Überschwemmung waren ihm über besonderes Verlangen Duplikate der Dokumente ausgestellt worden. Er hatte das Recht, damit zu tun, wie ihm beliebte.
Den ganzen Tag widmete er dieser Arbeit. Er richtete die Pfähle auf, befestigte sie durch starke Querbalken, verstopfte die Spalten und kümmerte sich nicht um die Bemerkungen der anderen.
Am Abend wollte der Zufall, daß er die Wache auf dem Südwall angesichts der Berge übernehmen mußte; er begab sich ohne Widerrede auf seinen Posten und wartete die Ereignisse ab.
Er hatte diesmal seinen Dienst früher antreten müssen als gestern, es war noch ganz licht, aber das Ende seiner Wache fiel schon in die finstere Nacht und Sirdey konnte sich leicht nähern, außer ...
Außer daß der Vorschlag des ehemaligen Kochs nicht ernst zu nehmen war. Vielleicht hatte man ihm eine Falle gestellt ... und er war dumm genug gewesen, hineinzufallen? ... Der Irländer konnte sich bald über diesen Punkt beruhigen, denn Sirdey war vor ihm aufgetaucht, zwischen den Grasbüscheln war er für jedermann unsichtbar, nur ein Eingeweihter konnte ihn sehen.
Langsam wurde es finster. Der Mond stand im letzten Viertel und zeigte erst beim Morgendämmern seine schmale Sichel über dem Horizont. Als es ganz dunkel war, kroch Sirdey zu seinem Verbündeten und war bald darauf verschwunden, ohne bemerkt worden zu sein.
Alles war regelrecht verlaufen. Die beiden Parteien verstanden sich.
»Die vierte Nacht nach dieser, hauchte Patterson.
– Einverstanden! flüsterte Sirdey.
– Und daß die Piaster nicht vergessen werden ... Sonst ist alles umsonst! ...
– Sei ganz ruhig!«
Nach diesem kurzen Dialog zog sich Sirdey zurück. Aber ehe er ging, hatte er zu Füßen des Verräters einen Sack niedergestellt, der, als er den Boden berührte, einen leisen, metallischen Klang von sich gab. Das war der Judaslohn!