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XIV. Die Abdankung

Der Kaw-djer weinte ...

Wie schrecklich waren die Tränen dieses Mannes! Wie beredt sprachen sie von seinem Schmerze!

Er hatte befohlen: »Feuer!« ... Er! Auf seinen Befehl hatten die Kugeln ihren blutigen Weg gefunden! Ja, so weit hatten ihn die Menschen gebracht; ihre Schuld war es, wenn er sich jetzt den verabscheuungswürdigsten Tyrannen an die Seite stellen durfte, die er mit so aufrichtigem Hasse gehaßt hatte; jetzt wühlte er wie sie in Menschenblut, er hatte den Mord anbefohlen!

Und es mußte noch Blut vergossen werden! Das Werk war erst begonnen; es galt, es zu vollenden. Ungeachtet allen trügerischen Scheins lag darin die Pflicht.

Und dieser Pflicht blickte der Kaw-djer mutig ins Auge. Seine Erschlaffung dauerte nur kurze Zeit, bald hatte er alle Energie wiedergefunden. Er überließ es den Greisen und Frauen, die Toten zu beerdigen und den Verwundeten beizustehen, und brach schleunigst zur Verfolgung der Flüchtigen auf. Diese waren vor Schreck wie gelähmt und dachten nicht an den leisesten Widerstand. Tag und Nacht blieb man ihnen auf den Fersen.

Mehrmals stießen die Hostelianer mit Banden zusammen, die zu spät zum Handgemenge gekommen waren. Sie wurden mit Leichtigkeit zersprengt und nach Norden verjagt.

Die ganze Insel wurde durchstreift. Man fand die Erde mit den traurigen Resten jener Unglücklichen bedeckt, welche der Hunger aus ihrer Hütte getrieben hatte und die im Laufe des letzten Winters im Schnee erfroren waren. Lange hatte der Frost die Verwesung der Körper aufgehalten, jetzt beim Tauwetter ging der Prozeß sehr rasch vor sich. In drei Wochen waren die Abenteurer, achtzehntausend an der Zahl, auf die Halbinsel Dumas zurückgedrängt; den Isthmus hielt der Kaw-djer besetzt.

Der Bürgergarde hatten sich dreihundert Männer der »Franco-English Gold Mining Company« zugesellt, deren Beistand nicht zu unterschätzen war. Aber trotz dieser Verstärkung war die Situation beunruhigend. Wenn auch die Goldsucher zuerst niedergeschlagen waren über die Nachricht von dem Blutbade, dem ihre Genossen zum Opfer gefallen waren, und wenn man sie nachher in kleinen Abteilungen auf leichte Weise besiegt hatte, so war das jetzt anders geworden, da ihre Kräfte vereinigt waren. Ihre numerische Überlegenheit war so groß, daß ein offensives Vorgehen von ihrer Seite sehr zu fürchten war.

Die Intervention der Franco-englischen Gesellschaft verhinderte diese Eventualität. Die beiden Direktoren, Maurice Regnauld und Alexander Smith, welche sich die ihnen nötige Arbeiterschaft sichern wollten, schlugen dem Kaw-djer vor, aus den Abenteurern eine Wahl zu treffen und aus der Menge zirka tausend Leute auszusuchen, denen gestattet werden sollte, auf der Insel zu bleiben. Diese Männer wollte die Gold Mining Company beschäftigen und unter ihrer Aufsicht behalten; aber bei dem ersten Vergehen sollten sie unerbittlich verjagt werden.

Der Kaw-djer nahm den Vorschlag an, das ihm ein Mittel in die Hand gab, die Kräfte des Gegners zu schwächen. Ohne weiteres Zögern wagten es Maurice Regnauld und Alexander Smith, auf der Halbinsel Dumas vorzudringen und lieferten dadurch den Beweis eines größeren Mutes als der Löwenbändiger, welcher sich in den Käfig wilder Bestien begibt. Acht Tage später kamen sie mit tausend sorgfältig ausgewählten Männern zurück.

Die Sachlage war jetzt schon günstiger. Diese tausend Leute vermehrten die Zahl der Hostelianer und verminderten die feindlichen Streitkräfte. Der Kaw-djer vertraute die Wache über den Isthmus Hartlepool an und drang ins Innere der Halbinsel vor. Er fand weniger Widerstand, als er geglaubt hatte. Die Goldgräber hatten noch nicht Zeit gefunden, sich zu fassen.

Es gelang, ihre Reihen zu durchbrechen und man zwang jede Abteilung, sich auf die Fahrzeuge einzuschiffen, die zu diesem Zwecke von Neudorf herübergekommen waren und an der Küste kreuzten. In wenigen Tagen war alles getan. Der Boden der Insel war gereinigt – nur die tausend Abenteurer blieben zurück, für die Maurice Regnauld und Alexander Smith die Verantwortung übernommen hatten und deren Anzahl zu klein war, um eine wirkliche Gefahr zu bedeuten.

Aber es sah traurig aus auf der Insel! Die Felder waren unbebaut und die nächste Ernte ging verloren wie die vorhergehende. Viele Tiere waren auf den Weideplätzen zugrunde gegangen, weil sie sich immer selbst überlassen waren. Man hatte einen Rückschritt von mehreren Jahren gemacht und wie in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes auf der Insel Hoste bedrohte wieder der Hunger die unglücklichen Bewohner.

Der Kaw-djer sah diese Gefahr klar vor sich, aber sein Mut wankte nicht. Es durfte nur keine Zeit verloren werden. Darnach handelte er, als Diktator, wie unangenehm ihm dies auch fallen mochte!

Wie einstens wurden alle auf der Insel aufzutreibenden Vorräte gesammelt, um dann an die einzelnen Familien verteilt zu werden. Das hatte große Unzufriedenheit zur Folge. Aber die für nötig befundenen Maßnahmen wurden ausgeführt und um das Murren der Gegner kümmerte man sich nicht.

Inzwischen wurden in Südamerika auf Rechnung des Staates und vieler einzelner Personen große Einkäufe gemacht. Die ersten Ladungen wurden in Neudorf einen Monat später ausgeschifft und nun verbesserte sich die Lage zusehends.

Dank dieses wohltätigen Despotismus fand Liberia und sein Vorort bald die alte Lebenskraft und Freudigkeit wieder. Der Hafen beherbergte im Sommer mehr Schiffe als je und durch einen glücklichen Zufall berechtigte dieses Jahr der Walfischfang zu den denkbar günstigsten Hoffnungen. Norwegische und amerikanische Schiffe strömten dem Hafen zu und die Bereitung des Trans beschäftigte auch etwa hundert Hostelianer unter sehr guten Bedingungen. Die Sägewerke bekamen viel Arbeit, die Konservenfabriken hatten auch vollauf zu tun und die Anzahl der Seewolfsjäger verdoppelte sich.

Mehrere hundert Yacanas, die sich den strengen Maßnahmen der argentinischen Regierung nicht fügen wollten, verließen das Feuerland, übersetzten den Beagle-Kanal und erbauten ihre Hütten an der Küste der Insel Hoste.

Am 15. Oktober waren die Wunden der Kolonie wenn auch nicht geheilt, so doch verbunden. Der erlittene Schaden war bedeutend und konnte erst in vielen Jahren wieder wettgemacht werden, aber äußerliche Spuren waren nicht mehr wahrzunehmen. Das Volk hatte seine Beschäftigung wieder aufgenommen und das normale Leben ging wieder seinen Lauf.

Um diese Zeit kaufte der hostelische Staat einen Dampfer von sechshundert Tonnen an, der den Namen »Yacana« erhielt. Nun wurde eine regelmäßige Verbindung mit den Küstenorten und den anderen Niederlassungen des Archipels geschaffen. Auch sollte er mit dem Kap Hoorn in Kontakt bleiben, dessen Leuchtturm endlich fertiggestellt war.

In den letzten Tagen des Jahres 1893 war dem Kaw-djer diese erfreuliche Nachricht zugekommen. Alle Arbeiten waren beendet: die Wohnungen der Leuchtturmwächter, die Reservenmagazine, der zwanzig Meter hohe Turm, die Aufstellung der Dynamomaschinen, denen – durch eine geistvolle Erfindung Dicks – die Kraft der Wellen und der Gezeiten dienstbar gemacht wurden. Sie konnten daher ohne jegliches Brennmaterial in Ewigkeit funktionieren, wenn die nötigen Reparaturen an den Maschinen nicht vernachlässigt wurden und für Ersatzstücke der abgenützten Maschinenteile gesorgt war.

Die Einweihung, die der Kaw-djer sehr feierlich gestalten wollte, wurde auf den 15. Januar 1894 festgesetzt. An diesem Tage sollte die »Yacana« zwei- bis dreihundert Hostelianer zum Kap Hoorn bringen und vor ihren Augen sollten die Leuchtfeuer zum ersten Male aufflammen. Nach allen überstandenen Drangsalen freute sich der Kaw-djer auf diesen Festtag, der seine lange gehegten Lieblingspläne endlich verwirklichte.

So lautete das Programm und niemand ahnte, daß es geändert werden könnte, als ganz unerwartete Ereignisse es in roher Weise umstießen.

Am 10. Januar, also fünf Tage vor der Ausführung, ging ein Kriegsschiff im Hafen von Neudorf vor Anker. Auf seinem Hintermast wehte die chilenische Flagge. Ans einem Fenster des Regierungspalastes folgte der Kaw-djer, welcher das Fahrzeug bemerkt hatte, mit einem Fernrohr den verschiedenen Landungsmanövern, dann glaubte er an Bord eine Bewegung wahrzunehmen, aber Genaueres konnte er nicht unterscheiden.

Ungefähr eine Stunde war er in diese Betrachtung vertieft, als man ihm Mitteilung machte, daß ein Mann ganz atemlos aus Neudorf eingetroffen sei, welcher von Karroly geschickt war und den Kaw-djer unverzüglich zu sprechen verlangte.

»Was gibt es? fragte dieser, als der Bote eingetreten war.

– Ein Schiff aus Chile liegt im Hafen, berichtete der Mann keuchend.

– Ich habe es gesehen; was weiter?

– Es ist ein Kriegsschiff.

– Ich weiß es.

– Es liegt mit zwei Ankern mitten im Hafen fest und seine Boote schifften Soldaten aus.

– Soldaten! rief der Kaw-djer.

– Ja ... chilenisches Militär ... schwer bewaffnet! Vielleicht dreihundert ... Karroly hat sich nicht Zeit genommen, sie zu zählen, er hat mich nur rasch hergeschickt!«

Der Vorfall rechtfertigte Karrolys Erregung. Wie dürfen bewaffnete Soldaten in ein friedliches Land eindringen? Wenn es auch chilenische Soldaten waren, so fühlte sich der Kaw-djer durchaus nicht beruhigt. Gewiß konnte man von dem Lande, das der Insel ihre Freiheit geschenkt hatte, kein feindseliges Vorgehen befürchten; aber die Ausschiffung der Soldaten blieb unerklärlich, anormal, und die Vorsicht gebot, sich dagegen zu verwahren.

»Sie kommen!« rief der Mann plötzlich und wies durch das Fenster in der Richtung nach Neudorf.

Eine zahlreiche Truppe bewegte sich auf der Straße Liberia zu. Der Kaw-djer schätzte sie schnell ab – der Hostelianer hatte übertrieben; wohl waren es chilenische Soldaten, die sich näherten, aber höchstens einhundertfünfzig Mann.

Der Kaw-djer war ungemein erstaunt und gab schnell eine Reihe klarer, deutlicher Befehle. Die Boten verstreuten sich nach allen Richtungen, worauf er ruhig wartete.

Nach einer Viertelstunde war die chilenische Truppe, von den Hostelianern mit neugierigen Blicken gefolgt, auf dem Platz angekommen und hatte vor dem Regierungsgebäude Stellung genommen. Ein Offizier in Paradeuniform, welcher eine hohe Rangstufe bekleiden mußte, wenn man das viele Gold in Rechnung zog, mit dem er überladen war, berührte mit dem Degenknopf das Tor des Regierungspalastes, das sich sogleich öffnete, und verlangte den Gouverneur zu sprechen.

Er wurde in das Gemach geführt, in dem sich der Kaw-djer aufhielt und dessen Türe hinter ihm verschlossen wurde. Eine Minute später wurden auch die äußeren Tore versperrt und der Offizier war Gefangener, ohne daß er es ahnte.

Er schien aber die Situation nicht gefährlich zu finden. Einige Schritte von der Türe entfernt war er stehen geblieben, hatte die Hand grüßend an seinen mit wallenden Federn geschmückten Zweispitz gelegt und blickte den Kaw-djer an, der unbeweglich zwischen den beiden Fenstern stand.

Er nahm als erster das Wort:

»Wollen Sie mir erklären, mein Herr, sagte er, was die Ausschiffung einer bewaffneten Truppenabteilung auf der Insel Hoste zu bedeuten hat? Wie ich weiß, führen wir nicht Krieg mit Chile.«

Der chilenische Offizier hielt dem Kaw-djer ein Schriftstück entgegen.

»Herr Gouverneur, erwiderte er, gestatten Sie mir zunächst, Ihnen mein Beglaubigungsschreiben zu überreichen.«

Der Kaw-djer erbrach die Siegel und las aufmerksam den Inhalt durch, kein Zug seines Gesichtes verriet die Gefühle, die ihn dabei bewegen mochten.

»Mein Herr, sagte er darin ruhig, Ihre Regierung stellt Sie – wie Sie jedenfalls wissen werden – zu meiner Disposition, damit auf der Insel wieder geordnete Zustände geschaffen würden.«

Der Offizier verbeugte sich schweigend zum Zeichen seiner Zustimmung.

»Die Regierung von Chile, fuhr der Kaw-djer fort, ist schlecht informiert, mein Herr. Wie jedes Land der Welt hat auch die Insel Hoste unruhige Zeiten durchgemacht. Aber ihre Bewohner haben selbst die Ordnung wieder herzustellen gewußt und jetzt herrscht überall Friede.«

Der Offizier schien verlegen und antwortete nicht.

»Ich bin der Republik Chile sehr erkenntlich für die wohlwollende Gesinnung und die gesandte Hilfe, sprach der Kaw-djer weiter, muß sie aber unter den gegenwärtigen Umständen dankend ablehnen und ersuche Sie, Ihre Mission als beendigt zu betrachten.«

Die augenscheinliche Verlegenheit des Offiziers wuchs.

»Herr Gouverneur, ich werde Ihre Antwort meiner Regierung wortgetreu übermitteln, sagte er, aber Sie werden begreifen, daß ich mich bis zum Eintreffen einer Rückantwort nach den erhaltenen Instruktionen zu richten habe.

– Und worin bestehen diese Instruktionen?

– Eine Garnison auf der Insel Hoste zu lassen, welche, unter Ihrem Oberbefehl und meiner direkten Autorität stehend, zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung beitragen soll.

– Sehr gut, sagte der Kaw-djer. Und wenn ich nun zufällig gegen diese Garnison Einspruch erheben würde ... Haben Ihre Instruktionen auch diesen Fall vorausgesehen?

– Ja, Herr Gouverneur.

– Wie lauten dieselben, diese Hypothese angenommen?

– Den Befehl auszuführen!

– Gewaltsam?

– Im Bedarfsfalle, ja! Aber ich hoffe, daß ich nicht zum Äußersten gezwungen werde!

– Das ist sehr deutlich, sagte der Kaw-djer mit unerschütterlicher Ruhe. Um ehrlich zu sein – ich habe derartiges erwartet ... Einerlei! Sie werden jedenfalls zugeben, daß die Sache ernstlich bedacht sein will, folglich müssen Sie mir die zur Überlegung nötige Zeit gewähren!

– Ich werden Ihren Entschluß abwarten, Herr Gouverneur, antwortete der Offizier, drehte sich um und wollte mit militärischem Gruß das Zimmer verlassen; aber die Türe war fest verschlossen und gab seinen Anstrengungen, sie zu öffnen, nicht nach. Er wandte sich an den Kaw-djer.

– Ich glaube, ich bin in eine Falle geraten, sagte er sehr beunruhigt.

– Sie gestatten mir wohl, diese Bemerkung belustigend zu finden, sagte der Kaw-djer ironisch. Dieses Wort wäre wohl eher auf die Art Ihres Eindringens auf der Insel anwendbar. Seit wann überfällt man zur Friedenszeit mit den Waffen in der Hand Freundesland?«

Der Offizier errötete leicht.

»Sie wissen ja, Herr Gouverneur, sagte er verlegen, die Begründung dieses sogenannten Überfalles. Weder meine Regierung noch ich selbst können dafür verantwortlich gemacht werden, wenn Sie dem unschuldigsten Ding in der Welt einen unschönen Namen geben.

– Meinen Sie? antwortete der Kaw-djer ruhig. Können Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß die Regierung von Chile kein anderes Ziel vor Augen hat als das von Ihnen bezeichnete? Eine Garnison kann Schutz, aber auch Drohung, Gewalt bedeuten. Könnte diese Garnison, die Sie hierherführten, nicht auch die Mission haben, Chile ihre tatkräftige Unterstützung zu leihen, falls es ihm in den Sinn käme, den Vertrag vom 26. Oktober 1881, dem wir unsere Unabhängigkeit verdanken, zu bereuen?«

Wieder errötete der Offizier und jetzt stärker als das erste Mal.

»Es steht mir nicht zu, sagte er endlich. Befehle meiner Oberen zu kritisieren. Meine Pflicht besteht einzig und allein in blinder Ausführung.

– Da haben Sie recht, sagte der Kaw-djer; aber auch ich habe Pflichten zu erfüllen, die durch die Interessen des Volkes bedingt sind, das sich meinem Schutze anvertraut hat. Ich muß ernstlich mit mir zu Rate gehen, ehe ich eine Entscheidung treffe.

– Ich widersetze mich dem auch gar nicht, erwiderte der Offizier. Glauben Sie mir, Herr Gouverneur, ich werde in aller Ruhe Ihren Entschluß zur Kenntnis nehmen und ihn geduldig erwarten!

– Das genügt nicht, sagte der Kaw-djer. Sie müssen ihn hier abwarten!

– Hier? ... Betrachten Sie mich vielleicht als Ihren Gefangenen?

– Jawohl,« erklärte der Kaw-djer.

Der chilenische Offizier zuckte die Achseln.

»Sie vergessen, rief er und machte einen Schritt zum Fenster, daß ich nur zu rufen brauche ...

– Versuchen Sie es! ... unterbrach ihn der Kaw-djer und versperrte ihm den Weg.

– Wer wollte mich daran hindern?

– Ich!«

Aug' in Auge standen die beiden Männer einander gegenüber wie kampfbereite Gegner. Nach einer langen Pause trat der Offizier zurück. Er fühlte, daß er trotz seiner jugendlichen Kraft dem athletischen Körperbau des Greises nicht gewachsen sei, dessen ehrfurchtgebietende Haltung ihn überdies einschüchterte.

»So, sagte der Kaw-djer, nehmen wir wieder unsere frühere Stellung ein und jetzt erwarten Sie geduldig meine Antwort.«

Der Offizier stand bei der Eingangstüre und war bemüht, seiner Unruhe Herr zu werden und ein möglichst gleichgültiges Aussehen zu zeigen. Ihm gegenüber, zwischen beiden Fenstern, war der Kaw-djer bald so in seine Gedanken vertieft, daß er die Anwesenheit seines Gegners vergessen hatte. Mit Ruhe und Klarheit überlegte er, was zu tun sei.

Die Beweggründe Chiles vor allem. Sie waren leicht zu erraten. Daß die Garnison helfen sollte, die Unruhen zu unterdrücken, war natürlich eitler Prätext. Eine aufgezwungene militärische Protektion sieht einer Annexion zu ähnlich, daß sich der Kaw-djer hätte täuschen lassen. Aber wie konnte Chile sein gegebenes Wort brechen! Es mußte dabei ein bestimmtes Interesse verfolgen; worin bestand dies aber? Das Emporblühen der Insel Hoste konnte nicht der alleinige Grund sein; trotz des unleugbaren Fortschrittes, den die Hostelianer bewerkstelligt, konnte nichts die Annahme rechtfertigen, daß die Republik Chile die Gebietsabtretung jemals bedauert hatte. Es konnte sich nur zu dieser großmütigen Handlung Glück wünschen! Es hatte aus dem Emporblühen der Kolonie nur Vorteile gezogen, denn es war naturgemäß ihr Hauptlieferant. Aber es war ein neuer Faktor auf dem Schauplatz aufgetaucht! Die Entdeckung der Goldmine änderte alles! Nachdem es sicher war, daß die Insel Hoste reiche Schätze dieses edlen Metalles barg, wollte Chile seinen Anteil haben und bedauerte sein vorschnelles Handeln von einst. Das war klar!

Und jetzt hatte die chilenische Regierung ein Ultimatum gestellt und es galt, eine Entscheidung zu treffen und die richtige Antwort darauf zu finden.

Sollte man Widerstand leisten? ... Warum nicht? Die einhundertundfünfzig Soldaten, welche auf dem Platze unten aufgepflanzt waren, erschreckten den Kaw-djer nicht, ebensowenig das Kriegsschiff, das im Hafen vor Anker lag. Selbst wenn es noch mehr Soldaten hergeführt hätte, so erreichten sie gewiß nicht eine Kopfzahl, die der der hostelischen Bürgergarde überlegen war. Das Schiff konnte allerdings einige Geschosse nach Liberia senden, die mehr Lärm als Schaden verursachen würden. Aber dann? ... Die Munition wäre bald erschöpft und dann mußte es die Heimreise antreten, falls es die hostelischen Kanonen nicht stark beschädigt hätten.

Anmaßend wäre ein Widerstand gewiß nicht gewesen. Aber der Widerstand bedeutete Kampf und Blutvergießen. Sollte die hostelische Erde wieder mit diesem kostbaren Naß getränkt werden, von dem sie schon gesättigt war? Um was zu verteidigen? Die Unabhängigkeit der Hostelianer? Ja, waren denn die Hostelianer, die sich so bereitwillig dem Joche seines Willens gefügt hatten, waren die unabhängig, frei zu nennen? Er würde daher nur seine eigene Autorität schützen wollen! Wozu das? Rechtfertigten die außerordentlichen Verdienste, die er sich um den Staat erworben hatte, das Opfer vieler Menschenleben?

Hatte er, seitdem er die Zügel der Regierung in Händen hielt, etwa Größeres geleistet als andere Potentaten, welche die Welt unter ihren Willen beugen?

So weit war der Gedankengang des Kaw-djer gediehen, als der chilenische Offizier eine Bewegung machte. Er begann die Zeit lang zu finden. Der Kaw-djer begnügte sich, ihn mit einer Handbewegung um weitere Geduld zu bitten und gab sich wieder seinen schweigenden Betrachtungen hin.

Nein, er war weder besser noch schlechter als andere Regenten, aus dem einfachen Grunde, daß die Herrscherwürde eine Tätigkeit mit sich bringt, der niemand entfliehen kann. Wenn auch seine Intentionen immer die besten gewesen waren, seine Absichten die selbstlosesten, er hatte sich doch aller Verbrechen schuldig gemacht, die er den anderen Häuptern der Regierungen stets zum Vorwurf gemacht hatte.

Der Vorkämpfer der individuellen Freiheit hatte Befehle erteilt. Der Bekenner der Gleichberechtigung hatte über seine Brüder zu richten gewagt. Der Friedliebende hatte Krieg geführt. Der altruistische Philosoph hatte zur Verminderung der Bevölkerungszahl beigetragen und sein Abscheu vor allem Blutvergießen hatte nur zu weiteren Metzeleien geführt.

Jeder seiner Akte stand in Widerspruch mit seinen Theorien und immer und überall war er zur Erkenntnis seiner früheren Irrtümer gelangt. Zuerst hatten sich ihm die Menschen in ihrer angeborenen Unvollkommenheit und Unfähigkeit gezeigt; wie kleine Kinder mußte er sie an der Hand fassen und leiten. Dann hatte ihm eine Kette von Ereignissen die Notwendigkeit der Anwendung von Gewalt bewiesen. Ferner hatte er gelernt, daß bei einem Volke wie beim Individuum das Solidaritätsgefühl laut spricht und daß keiner auf die Dauer inmitten der anderen isoliert leben kann. Und selbst wenn einer den unerreichbaren Standpunkt einnehmen würde, den der Kaw-djer einst als sehr möglich angesehen, so hatte dieses Volk doch mit den anderen Völkern der Erde zu rechnen!

Zuerst waren die Patagonier gekommen und der Kaw-djer mußte, wie jeder Regent in seiner Lage getan hätte, kämpfen und töten. Dabei hatte ihm Patterson bewiesen, wie tief die menschliche Natur sich herabwürdigen kann, und er war in die Notwendigkeit versetzt worden, über einen Teil des Erdplaneten zu verfügen, als ob dieser sein alleiniges Eigentum sei, aus dem er den anderen hinauswies. Er hatte gerichtet, das Urteil gesprochen, verbannt – wie jene, die er mit dem Titel »Tyrannen« belegte.

Dann kam die Entdeckung der Goldminen. Die Tausende von Abenteurern, welche die Insel Hoste überschwemmten, hatten in beredter Form den Beweis für das Solidaritätsgefühl der Nationen geliefert. Gegen diese Geißel hatte er keine anderen Mittel finden können, außer den bereits gekannten, angewandten. Und dieses Mittel hieß – Gewalt, Unterdrückung und Tod. Auf sein Gebot war Menschenblut in Strömen geflossen.

Und jetzt hatte er sich mit diesem Ultimatum der chilenischen Regierung zu beschäftigen.

Sollte er nochmals das Signal zum blutigen Kampf geben, zu einem Kampfe, der an Grausamkeiten seine Vorgänger vielleicht noch übertraf? Und nur aus dem Grunde, um den Hostelianern ihr Oberhaupt zu erhalten, welcher sich in gar nichts von den Regenten aller Zeiten und Länder unterschied? An seiner Stelle würde jeder in gleicher Weise vorgegangen sein und sein Nachfolger im Herrscheramt, ob es Chile oder jemand anderer war, konnte auch keine anderen Mittel in Anwendung bringen als diejenigen, zu den ihm die Fatalität des Schicksals gezwungen hatte.

Weshalb dann sich wehren?

Und – er war so müde! Die Hekatombe, die er befohlen, dieses entsetzliche Blutbad, diese grausame Schlächterei – das waren Erinnerungen, die ihn Tag und Nacht verfolgten und quälten. Jeden Tag beugte sich seine hohe Gestalt mehr unter der Last seiner Sorgen und Erinnerungen, seine Augen verloren ihren Glanz und seine Gedanken büßten ihre gewohnte Klarheit ein. Die Kraft verließ diesen athletischen Körper und diese Heldenseele. Er konnte nicht weiter, er hatte genug ...

In dieser Sackgasse endete also sein Leben. Mit ganz irrem Blick schaute er auf seinen langen Leidensweg zurück. Er war mit zerstörten Illusionen bedeckt, den Resten jener Ideen, die die Grundlage seiner moralischen Kraft gebildet und denen er alles zum Opfer gebracht hatte. Hinter ihm gähnte das – Nichts. Seine Seele war zerrissen: sie glich einer mit Ruinen bedeckten Wüstenei.

Was tun? ... Sterben? ... Ja, das wäre ein logisches Ende gewesen, und doch konnte er sich dazu nicht entschließen. Er fürchtete den Tod nicht. Diesem erleuchteten Verstande erschien er als natürlicher Abschluß des Daseins, als Krönung des Lebens, dem nicht mehr Bedeutung zuzuweisen und der ebensowenig zu fürchten war als die Geburt. Aber jede Fiber in ihm sträubte sich gegen einen Akt, der seinem Leben willkürlich Grenzen gezogen hätte. Ebensowenig wie ein gewissenhafter Arbeiter eine begonnene Arbeit unfertig im Stiche lassen wird, wollte dieser mächtige Geist bis zum Ende ausharren; das war ein Gebot der Notwendigkeit für dieses starke Herz, das voll Selbstverleugnung und Aufopferung für den nächsten überfloß, und es schien ihm, nicht genug getan zu haben, wenn er nicht alles vollendete ...

Wie ließen sich diese Widersprüche einigen?

Endlich schien sich der Kaw-djer der Gegenwart des chilenischen Offiziers zu erinnern, welcher ungeduldig wartete ...

»Mein Herr, sagte er, Sie haben mir früher mit der Anwendung von Gewalt gedroht; haben Sie sich auch über unsere Stärke Rechenschaft abgelegt?

– Über Ihre Stärke? ... wiederholte der Chilene erstaunt.

– Urteilen Sie selbst!« – sagte der Kaw-djer und lud den Offizier durch eine Geste ein, ans Fenster zu treten.

Vor ihren Blicken lag der Platz. Dem Regierungspalaste gegenüber waren die chilenischen Soldaten in strammen Reihen unter dem Befehle ihrer Anführer aufgestellt. Und doch hätte ihre Aufstellung zur Kritik Anlaß geben können, denn fünfhundert Hostelianer zernierten sie mit schußbereitem Gewehr.

»Die hostelische Armee zählt heute fünfhundert Männer, sagte der Kaw-djer kalt, morgen wird sie zu tausend und übermorgen zu fünfzehnhundert angewachsen sein.«

Der chilenische Offizier war leichenfahl geworden. In welches Wespennest war er geraten! Seine Mission schien sehr verwickelt zu werden, aber er versuchte gute Mime zum bösen Spiel zu machen.

»Wir haben das Kriegsschiff ... bemerkte er in wenig überzeugungsvollem Ton.

– Das fürchten wir nicht, sagte der Kaw-djer, und auch seine Kanonen setzen uns nicht in Schrecken, denn wir sind auch mit diesen Waffen sehr gut versorgt.

– Aber Chile ... begann der Offizier nochmals stotternd, er wollte sich nicht als besiegt erklären.

– Ja, unterbrach ihn der Kaw-djer, Chile hat noch mehr Soldaten und andere Schiffe, wollen Sie sagen. Wir wissen es. Aber es würde schlechte Geschäfte machen, wenn es dieselben gegen uns ins Feld führen wollte. Die Insel Hoste hat jetzt sechstausend Einwohner, die werden nicht so leicht unterworfen. Dabei haben wir noch nicht die einhundertundfünfzig Soldaten in Rechnung gezogen, die uns als Geiseln unschätzbar sein würden!«

Der Offizier schwieg und der Kaw-djer sagte sehr ernst:

»Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?«

Der Chilene betrachtete seinen Gegner mit staunenden und erschreckten Blicken. Wahrscheinlich las er in dessen Augen die Antwort auf die gestellte Frage, denn seine Verlegenheit wuchs.

»Was wollen Sie mit dieser Frage sagen? stotterte er. Es ist jetzt zwölf oder dreizehn Jahre her, da kam der »Ribardo« von der Insel Hoste zurück, dessen Kommandant Sie zu erkennen glaubte – so lauteten die Gerüchte. Aber sie müssen auf Irrtum beruht haben, da Sie dieselben selbst im vorhinein abgeleugnet hatten.

– Und heute erkläre ich Ihnen, daß diese Gerüchte die Wahrheit sprachen. Wenn es mir damals gefallen hat und noch immer gefällt, meinen Rang zu vergessen, würde ich doch Ihnen raten, sich daran zu erinnern. Sie werden mir zugeben, daß es mir leicht fallen würde, mächtige Verbündete zu finden, welche der chilenischen Regierung sehr unangenehm sein würden!«

Der Offizier antwortete nicht, er fühlte sich ganz überwältigt.

»Meinen Sie, sagte der Kaw-djer wieder, daß ich, anstatt einfach den Forderungen nachzugeben, nicht einen beiden Teilen erwünschten Ausweg ausfindig machen könnte?«

Jetzt hob der Offizier den Kopf! – Alles war noch nicht verloren. Der Kaw-djer wollte verhandeln. Vielleicht war noch ein günstiger Abschluß dieser ihm unheimlich werdenden Angelegenheit zu erhoffen! ...

»Es kommt darauf an, nahm der Kaw-djer das Gespräch wieder auf, mit welchen Vollmachten Sie ausgestattet sind!

– Oh, mit den weitgehendsten, versicherte der Chilene.

– Haben Sie schriftliche Beweise für Ihre Behauptung?

– Ja.

– Dann bitte ich Sie, mich dieselben sehen zu lassen!« sagte der Kaw-djer ruhig.

Der Offizier zog ein zweites Schriftstück aus seiner Tasche und reichte es dem Kaw-djer hin.

»Hier!« sagte er.

Hätte sich der Kaw-djer mit dem zuerst vorgewiesenen Beglaubigungsschreiben zufriedengestellt, so hätte er niemals Einblick in dieses zweite Dokument erlangt, das er jetzt mit großer Aufmerksamkeit durchlas.

»Es ist in bester Ordnung, sagte er dann. Ihrer Unterschrift wird Glauben geschenkt werden, soweit Verträgen zwischen Menschen überhaupt Glauben geschenkt werden kann! Ihre Gegenwart auf der Insel ist aber ein Gegenbeweis hierfür!«

Der Offizier biß sich auf die Lippen, ohne zu antworten. Nach einer Pause sagte der Kaw-djer:

»Wir wollen klar sehen. Die chilenische Regierung will die Insel Hoste wieder unter ihr Szepter bringen. Ich könnte mich diesem Verlangen widersetzen, aber ich füge mich der Forderung. Ich habe jedoch auch Bedingungen zu stellen.

– Ich höre! sagte der Chilene.

– Erstens darf die Regierung keine Zölle auf der Insel Hoste einführen – außer solchen, die auf die Goldminen Bezug haben, und das soll so bleiben, auch wenn diese Bergwerke erschöpft sind. Doch darin soll sie ganz freie Hand behalten und Vorschriften nach Belieben erlassen.«

Der Offizier traute seinen Ohren nicht. Ohne Wortwechsel, ohne Streit fügte man sich dem Wichtigsten. Alles andere war Nebensache.

Und der Kaw-djer fuhr fort:

»Auf dieses Recht, mit den Minen nach Belieben zu schalten und zu walten, muß sich die Suzeränität Chiles beschränken. Der Insel muß ihre Autonomie gewahrt werden, auch ihre Fahne muß ihr bleiben. Chile kann einen Geschäftsträger hier bewohnen, dem aber nur eine beratende Stimme zufällt; die wirkliche Regierung der Insel muß in Händen eines vom Volk erwählten Rates bleiben und eines Gouverneurs, welchen ich ernennen will!

– Sie werden doch jedenfalls dieser Gouverneur sein? erkundigte sich der Offizier.

– Nein, erklärte der Kaw-djer mit Bestimmtheit. Ich brauche vollkommene Freiheit, unbegrenzte, uneingeschränkte, ferner bin ich genau so müde, Befehle zu erteilen als solche zu empfangen. Ich ziehe mich zurück, aber ich wahre mir das Recht, meinen Nachfolger zu erwählen.«

Der Offizier folgte diesen Auseinandersetzungen, ohne sie zu unterbrechen. War diese bittere Entsagung echt, wollte der Kaw-djer nichts für sich selbst fordern?

»Mein Nachfolger heißt Dick, sagte dieser traurig nach kurzem Nachdenken. Er hat keinen anderen Namen. Er ist ein junger Mann, kaum zweiundzwanzig Jahre alt – aber ich habe ihn unterrichtet und erzogen; ich bürge für ihn. In seine Hände – und nur in seine – lege ich mein Herrscheramt ... Das sind meine Bedingungen.

– Ich nehme dieselben an, sagte der Offizier hastig, sehr befriedigt, in der Hauptsache triumphiert zu haben.

– Gut, sagte der Kaw-djer; wir wollen den Vertrag zu Papier bringen.«

Das geschah sogleich. Drei Dokumente wurden ausgefertigt und von beiden Teilen unterzeichnet.

»Das eine Exemplar gehört Ihrer Regierung, erklärte der Kaw-djer, ein zweites meinem Nachfolger. Das dritte behalte ich, und wenn die Vertragsbedingungen nicht eingehalten werden, werde ich ihnen Geltung zu verschaffen wissen, dessen können Sie versichert sein ... Aber wir sind noch nicht zu Ende,, sagte er, indem er dem Chilenen ein zweites Dokument hinreichte. Es muß noch meine persönliche Lage zur Sprache kommen. Wollen Sie dieses Schriftstück auch durchlesen, es enthält meine diesbezüglichen Verfügungen.«

Der Offizier tat, wie ihm geheißen. Je weiter er las, desto erstaunter wurde der Ausdruck seines Gesichtes.

»Wie, rief er endlich, als er es überlesen hatte, ist dieser Vorschlag Ihr voller Ernst?

– Mein voller Ernst! bestätigte der Kaw-djer. Das Einhalten dieser meiner Erklärung soll sogar die Bedingung sine qua non für den anderen Vertrag sein! Nehmen Sie die Bedingung an?

– Augenblicklich!« beeilte sich der Offizier zu sagen.

Wieder wurden die Unterschriften gewechselt.

»Jetzt sind wir fertig miteinander, schloß der Kaw-djer endlich. Schiffen Sie Ihre Leute ein, sie dürfen unter keiner Bedingung die Insel Hoste wieder betreten. Morgen kann das neue Regime in Kraft treten. Ich werde das Meinige tun, daß keine Schwierigkeiten gemacht werden! Aber bis dahin fordere ich Stillschweigen!«

Kaum war der Offizier fortgegangen, so schickte der Kaw-djer um Karroly. Ehe der Indianer eintraf, schrieb er einige Zeilen, denen er den mit der chilenischen Regierung abgeschlossenen Vertrag beilegte, dann verschloß er alles sorgfältig. Diese Arbeit erforderte wenige Minuten und war längst beendet, als der Indianer eintrat.

»Du mußt all diese Gegenstände auf die Wel-kiej schaffen,« sagte der Kaw-djer und reichte Karroly eine lange Liste hin, auf der außer einer beträchtlichen Menge von Lebensmitteln Pulver, Kugeln und Samen notiert waren.

Trotz seiner gewohnheitsmäßigen blinden Ergebenheit konnte sich Karroly nicht enthalten, einige Fragen zu stellen. Wollte der Kaw-djer verreisen? Warum nahm er nicht lieber den Kutter an Stelle der alten Schaluppe? Der Kaw-djer hatte nur eine Antwort auf alle Fragen:

»Gehorche!«

Karroly ging und der Gouverneur ließ Dick rufen.

»Mein Kind, sagte er, als er ihm das geschlossene Schriftstück reichte, hier übergebe ich dir ein wichtiges Dokument. Es gehört dir. Du darfst es aber erst morgen nach Sonnenaufgang lesen.

– Es wird geschehen,« versprach Dick.

Sein Staunen war groß, aber er äußerte es nicht, verriet es auch nicht durch das kleinste Zeichen, so stark war er in der Selbstbeherrschung. Er hatte einen Befehl erhalten. Ein Befehl muß vollzogen, aber nicht besprochen werden.

»Gut, sagte der Kaw-djer. Jetzt geh', mein Kind, und halte dich genau an meine Instruktionen.«

Jetzt war der Kaw-djer allein ... Er näherte sich dem Fenster und hob den Vorhang in die Höhe. Lange blickte er hinaus, um seinem Gedächtnisse das Bild einzuprägen, das er nie mehr mit leiblichen Augen erblicken sollte. Vor ihm lag Liberia und weiter rückwärts Neudorf und noch weiter hinaus ein Wald von Masten der Schiffe, die im Hafen ankerten. Es wurde langsam Abend und das Tagewerk neigte seinem Ende zu. Jetzt begann sich die Straße von Neudorf zu beleben, dann, als die Schatten der Nacht länger wurden, beleuchteten sich die Fenster. Diese Stadt, diese frohe Tätigkeit, diese Ruhe, diese Ordnung, dieses Glück – es war sein Werk. Die ganze Vergangenheit erstand vor seinen Blicken, und ein Seufzer der Befriedigung und der – Ermattung entrang sich seinen Lippen,

Jetzt war der Tag gekommen, wo er endlich an sich selbst denken durfte! Jetzt wollte er aus der Mitte dieser Menschen verschwinden, die er zu einem wolhabenden, glücklichen und mächtigen Volke gemacht hatte. Den Wechsel der Regierung würde es kaum bemerken! Jetzt konnte er in der Freiheit seine Tage beschließen, wie er sein ganzes Leben freie Luft geatmet hatte.

Das Scheiden bedeutete für ihn die Befreiung und kein Abschied sollte es betrüben. Er wollte vor der Abreise niemanden mehr in seine Arme schließen, weder den treuen Karroly, noch seinen Freund, Harry Rhodes, noch Halg und Dick, welche ihm teuer waren wie eigene Kinder. Wozu auch? Zum zweiten Male floh er die Menschen. Seine Liebe wurde wieder allumfassend, nahm die ganze Welt ein, wurde unpersönlich, war die Liebe eines Gottes und bedurfte dieser kindlichen Äußerungen nicht mehr. Ohne ein Wort, ohne jedes Zeichen wollte er verschwinden.

Die Nacht war sehr finster. Wie Augen, die sich zum Schlummer schließen, löschten die Lichter in den Fenstern ans, bis auch das letzte sich verdunkelte. Und bald herrschte vollkommene Finsternis.

Jetzt verließ der Kaw-djer den Regierungspalast und wandte seine Schritte Neudorf zu. Die Straße lag einsam da, er begegnete niemand und hatte bald den Vorort erreicht.

Die Wel-kiej schaukelte sich am Landungssteg. Er sprang hinein und löste die Taue. Mitten im Hafen sah er einen finsteren Koloß aus dem Wasser ragen – das chilenische Kriegsschiff; von dort hörte er jetzt Mitternacht schlagen. Der Kaw-djer wandte seine Blicke davon, stieß ab und setzte ein Segel.

Die Wel-kiej setzte sich in Bewegung und glitt langsam aus dem Hafen, dann schoß sie schnell ins offene Meer hinaus, denn eine frische Nordwestbrise hatte sich in die Segel gelegt. Der Kaw-djer stand nachdenklich am Steuerrad und lauschte auf das Klatschen der Wellen, die sich an der Bordwand brachen.

Als er einen letzten Blick zurückwerfen wollte, war es zu spät. Das Schauspiel war zu Ende gespielt und der Vorhang gefallen. Neudorf, Liberia, die ganze Insel Hoste waren schon in der Nacht untergegangen. Alles verschwand im Nebel der Vergangenheit.


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