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14. Kapitel. Schule in Italien

Gemeinsame Gymnasien für Knaben und Mädchen gab es leider nicht in Neapel. So mußten Professors Zwillinge im Oktober zu Beginn des neuen Schuljahres zwei verschiedene Schulen besuchen. Zum erstenmal mußten sie sich trennen.

Für Suse, die gewohnt war, Herbert in allen neuen Lebenslagen als ihren Beschützer bei sich zu haben, war das entschieden schlimmer als für diesen selbst. Wie sollte das nur werden, wenn der Zwillingsbruder, ihr zweites Ich, nicht mehr bei ihr war?

Da war zu allererst die Aufnahmeprüfung, die einem Angst machte. Herbert hatte gar keinen »Bammel«, wie er es nannte. Suse um so mehr. Ja, wenn ihr Zwilling wie sonst bei ihr hätte sein können, wäre vielleicht etwas von seiner kecken Zuversicht auf sie übergegangen. So aber fand sich Anfang Oktober in dem großen Schulsaal des Mädchenlyzeums ein recht schüchternes kleines Mädel ein.

Ganz bleich war die Suse vor Aufregung. Würde sie auch bestehen? Sie verstand und sprach ja jetzt schon ganz gut Italienisch, aber wenn es nun zu schnell ginge? Ihr Lehrer, Signor Salvani, hatte doch darauf Rücksicht genommen, daß die deutschen Kinder der Landessprache noch nicht ganz mächtig waren.

In dem Lyzeumssaal hatten sich viele Mädchen versammelt, große und kleine. Sie kannten sich und sprachen miteinander. Nur Suse stand scheu und allein abseits. Wenn doch wenigstens Rita, das Vesuvkind, unter ihnen gewesen wäre. Dann hätte sie doch eine Freundin gehabt. Aber Rita hatte ihre Jahresprüfung schon vor den Sommerferien gut bestanden. Nur die Kinder, die in einem Fach bei der großen Jahresprüfung schwach gewesen waren, mußten sich jetzt noch einmal melden, ob sie das Fehlende während der Sommerferien nachgeholt hätten und in die neue Klasse versetzt werden könnten.

An dem langen Tisch nahmen Lehrer und Lehrerinnen Platz. Einer von ihnen verlas eine Liste mit Namen, auf welche die betreffende Schülerin mit einem vernehmlichen: » Eccomi – da bin ich« antwortete.

»Susa Winter«, rief der Vorlesende zum Schluß.

»Hier«, kam auf deutsch ein leises Stimmchen als Antwort, wie Suse es von ihrer Berliner Schule her gewöhnt war.

Die italienischen Mädchen wandten erstaunt die schwarzen Köpfe und die neugierigen dunkeln Augen der über und über errötenden Suse zu.

» Una nuova – eine Neue«, flüsterte man.

Ach, wäre doch Herbert bei ihr gewesen!

»Ah, la piccola Tedesca – die kleine Deutsche«, schwirrte es von einer zur andern.

Die Prüfung begann. Die meisten waren gut vorbereitet und bestanden. Suse kam als Neue zuletzt heran.

Arme Suse! Von Viertelstunde zu Viertelstunde wuchs ihre Aufregung. Je weniger Schülerinnen es wurden, bis sie selbst an die Reihe kam, desto stärker klopfte ihr das Herz. Es übertönte beinahe die Stimmen der examinierenden Lehrer.

»Susa Winter.« Wie ein Messer zerschnitt ihr Name die Stille, bohrte sich tief in Suses angstvolles Herzchen. Nun mußte sie nach vorn aufs Podium.

Man prüfte zuerst im Rechnen. Es schwirrte vor den Ohren des aufgeregten Kindes, als ob Glocken läuteten. Von weit her kamen die Stimmen der Lehrer. Kein Wort verstand sie von dem, was man sie fragte.

»Susa Winter – verstehst du italiano

» Si.« Suse nickte bejahend.

»Nun, beruhige dich mal erst, Kind. Du zitterst ja an allen Gliedern. Wir tun dir doch nichts.« Noch immer wußte Suse nicht, was man zu ihr sagte. Es war, als ob sie vor Aufregung überhaupt kein Wort Italienisch mehr verstand. Aber als eine Hand freundlich über ihr Haar strich und aufmunternd ihre Wangen klopfte, da verstand sie. Sie fühlte, man meinte es hier gut mit ihr. Schüchtern hob sie die haselnußbraunen Augen, die bisher krampfhaft am Steinmuster des Fußbodens gehaftet hatten, und begegnete dem mitleidigen Blick einer jungen Lehrerin. Sie sah ganz anders aus als ihre Mutti, diese junge Italienerin, viel dunkler, und doch irgend etwas in ihrem Gesicht erinnerte Suse an die Mutti zu Hause und gab ihr Ruhe. Das war das mütterlich Gütige in dem Blick der fremden Lehrerin.

Wie merkwürdig – ganz plötzlich schwieg das Glockengedröhn in Suses Ohren. Sie vernahm jetzt deutlich die an sie gerichteten Fragen. Allen Mut raffte sie zusammen, um dieselben zu beantworten.

» Benebenissimo – gut, sehr gut!« Die Lehrer nickten ihr anerkennend zu.

Die Prüfung nahm ihren Fortgang. Jetzt, da Suse die erste herzklopfende Angst überwunden hatte, wurde es ihr gar nicht schwer, die ihr gestellten Fragen zu beantworten. Sie hatte guten Unterricht in der Berliner Waldschule gehabt. Und auch Signor Salvani hatte seine Schüler gewissenhaft vorbereitet. Die übrigen Schülerinnen, die zuerst ein wenig geringschätzig und spöttisch auf die kleine Deutsche geblickt hatten, schauten jetzt erstaunt auf sie. Die konnte ja beinahe jede Frage richtig beantworten. Die wußte ja mehr als sie.

Ja, die Suse hatte jetzt gar keine Scheu mehr. Es war ihr, als ob Herbert neben ihr stände und ihr Ruhe und Sicherheit gäbe.

In allen Fächern bestand sie mit bene – gut. Nur in der italienischen Geschichte wußte sie nicht Bescheid. Die Nationalfeiertage spielen eine wichtige Rolle in Italien und auch im Schulleben. Aber Suse kannte keinen einzigen Tag der Gloria – des Ruhmes, nicht einmal den 20. September 1870, den Jahrestag des Einzugs der italienischen Truppen in Rom, den jedes italienische Kind kannte. Nun, dafür war sie eine kleine » Tedesca«.

Sie wurde trotzdem in die fünfte Klasse aufgenommen.

Unten erwartete Mutti das Töchterchen. Sie fürchtete, es in Tränen aufgelöst zu finden. Sie kannte doch ihr schüchternes Suschen.

Um so erfreuter war Frau Professor Winter, als Suse jubelnd auf sie zustürzte: »Ich habe bestanden! In die fünfte Klasse bin ich gekommen! Und die italienischen Lehrer und Lehrerinnen sind gar nicht so streng, wie ich dachte. Sehr nett waren sie alle zu mir. Und jetzt gehe ich gern in die Schule – auch ohne Herbert!« Das war die höchste Anerkennung, die Suse der italienischen Schule zollen konnte.

Herbert, der Gymnasiast, der nicht wünschte, von der Schule abgeholt zu werden, weil sich das mit seiner Quintanerehre nicht mehr vertrage, erschien merkwürdigerweise mittags kleinlauter daheim, als er morgens ausgezogen war – gar nicht so selbstbewußt, wie das sonst seine Art war.

»Na, bestanden, Suse?« fragte er väterlich.

»Ja, aber mächtig gegrault habe ich mich zuerst, weil du nicht bei mir warst. Nachher habe ich alles gut gewußt, da war's fein. Bei dir auch, Herbert?«

»Es geht«, meinte der zögernd. »Aufgenommen bin ich natürlich in die Quinta. Aber sei froh, daß du nicht mit aufs Gymnasium gekommen bist, Suse. Es scheint verflixt schwer zu sein. Ich weiß doch eigentlich immer alles – –,« Suse nickte anerkennend dazwischen, »aber die italienischen Jungen wissen auch eine Menge.« Eigentlich hatte Herbert sagen wollen: »mehr als ich.« Aber das brachte er doch nicht über die Lippen. Das gab sein Stolz nicht zu.

Es war wirklich, als ob Professors Zwillinge die Rollen vertauscht hätten. Suse erzählte unausgesetzt von der Schulprüfung, von der netten jungen Lehrerin, und freute sich auf den nächsten Tag. Herbert gab nur auf Fragen zurückhaltende Antwort. Aber natürlich hatte er alles gewußt, bloß manches nicht, was man in der Quinta in Deutschland bestimmt auch nicht zu wissen brauchte.

»Ich glaube, unser Herbert hat heute bei der Aufnahmeprüfung nicht besonders abgeschnitten«, meinte die Mutter kopfschüttelnd zum Vater. »Es scheint im Gymnasium hier mehr verlangt zu werden als im Mädchenlyzeum. Doktor Salvani hat den Hauptwert auf die italienische Sprache bei unsern Kindern gelegt. Hoffentlich kommt Herbert in den andern Fächern mit und zeigt keine Lücken.«

»Die wird er schnell ausfüllen, Fränzchen. Der Junge hat ja einen offenen Kopf. Für unsern kleinen Besserwisser ist es mir ganz lieb, daß er nicht alles weiß und mal sieht, daß andere Schüler mehr können als er. Da wird er bescheidener werden«, beruhigte bei Professor seine Frau.

Tatsächlich, Herbert wurde bescheidener, als er merkte, daß er in Italien nicht, wie er es in Deutschland gewöhnt gewesen, zu den Besten der Klasse gehörte. Er machte noch manchen Fehler in der Orthographie und in der Deklination und Konjugation, da er mehr durch praktische Übung die italienische Sprache erlernt hatte als auf Grund der Grammatik. Besonders schwer wurden ihm die unregelmäßigen Verben. Da wurde er manches drolligen Fehlers wegen von den andern Schülern ausgelacht. Das ertrug er nur schwer. Sein Ehrgeiz litt darunter. Es gab Faustkämpfe auf dem Schulhof, bis ein Lehrer die kleinen Boxer trennte.

Als Herbert sah, daß er durch Raufereien seinen Mitschülern nicht zu imponieren vermochte, versuchte er es auf andere Weise, sich in der Klasse Ansehen zu verschaffen. Er setzte sich auf die Hosen und lernte tüchtig. Dieser Weg zeigte sich als der richtigere. Bald hatte er das Fehlende eingeholt und wurde einer der Besten. Und da er trotzdem jetzt bescheiden blieb, hatte er auch bald Freunde. Besonders Giovanni, der Sohn eines medico, so heißt der Arzt in Italien, wurde sein Freund. Denn Enrico, der Vesuvjunge, war schon in der Tertia und zu groß für ihn.

Rita aber, das kleine Vesuvmädel, und Suse verband bald innige Freundschaft. In einer Klasse waren sie. Sie saßen nebeneinander und machten den Schulweg hin und her zusammen. Denn Ritas Tante, bei der die Vesuvkinder in Neapel wohnten, hatte ihr Haus ganz in der Nähe von Professors. Eine französische Erzieherin begleitete Rita auf dem Schulweg und nahm auch Suse Winter mit unter ihre Aufsicht. Auf diese Weise lernte Suse auch allmählich Französisch, da Mademoiselle nur Französisch sprach.

Eine leichte Entfremdung trat unwillkürlich zwischen die Zwillinge, die immer ein Herz und eine Seele gewesen und Arbeit und Spiel stets miteinander geteilt hatten. Nicht, daß sie sich weniger lieb gehabt hätten – o nein. Wenn Suse aus der Schule, der » scuola« kam, war es immer ihr erstes Wort: »Ist Herbert schon zu Hause?«

Meistens war er noch nicht daheim aus seinem Gymnasium. Dabei hatte er weder länger Unterricht, noch war sein Schulweg weiter. Im Gegenteil, der war kürzer als der von Suse. Aber Herbert ließ sich Zeit mit dem Nachhausekommen. Da gab es soviel zu sehen unterwegs, was dem deutschen Jungen merkwürdig erschien und ihn interessierte. Die Straßenhändler, von denen es in Neapel wimmelte, nahmen mit ihren mannigfaltigen Waren seine Zeit in Anspruch. Bei den Wunderdoktoren blieb er stehen, die dem Volk Geheimmittel auf der Straße anpriesen, auch manchmal mitten auf einer Piazza schmerzende Zähne auszogen. Pomphafte Leichenzüge mußte er bestaunen, die von schwarzvermummten Gestalten, den Mitgliedern irgendeiner Ordensgemeinschaft, begleitet wurden. Da wurden Kühe auf den Straßen Neapels von ihren Treibern gemolken. Das erschien dem Berliner Jungen so merkwürdig, daß er jedesmal haltmachte und zu spät zum Essen heimkam. Da gab es nationale Feiertage in Neapel mit großen militärischen Umzügen, bei denen Herbert doch natürlich nicht fehlen durfte. So kam es, daß Suse trotz des weiteren Schulweges meist früher daheim war als der Bruder.

Ja, sie hatten verschiedene Interessen bekommen, Professors Zwillinge. Das, was ein Kind am meisten erfüllt, die Schule mit ihren kleinen Ereignissen, Freuden und Sorgen, verband sie nicht mehr. Das war jetzt bei Professors Zwillingen verschieden geworden. Wenn Suse freudestrahlend berichtete, daß Signorina Bellani, die nette junge Lehrerin, ihr » benissimo – sehr gut« für ein französisches Diktat gegeben hatte, ließ das Herbert völlig kalt. Er kannte Signorina Bellani nicht. Er lernte vorläufig im Gymnasium noch nicht Französisch, sondern Latein. In der Berliner Waldschule hatten sie dieselben Freunde gehabt, hier teilte sich auch das. Allenfalls zeigte Herbert noch für Rita einiges Interesse, weil sie ein Vesuvkind war und die Schwester von Enrico. Aber Beatrice, Bianca und Carla, die Schulfreundinnen, von denen die Zwillingsschwester berichtete, kannte er nicht. Also waren sie ihm ganz »wurscht«. Jede Schmetterlingsraupe, die er im Garten fand, hatte mehr Interesse für ihn.

Suse, feinfühlend wie sie war, empfand es betrübt, daß Herbert für ihre Schulangelegenheiten gar kein rechtes Verständnis mehr hatte. Seitdem er keine Verantwortung mehr für die Schwester fühlte, seitdem sie hatte lernen müssen, allein ohne den Bruder sich ihren Platz in der kleinen Schulwelt zu erobern, nahm er auch an dem, was sie lernte, kaum noch teil. Selten nur konnte er ihr bei ihren Schularbeiten helfen, denn der Lehrgang des Gymnasiums war ein ganz anderer als der in der Mädchenschule. Wenn sie ihm ihr » quaderno francese – ihr französisches Heft« – stolz zeigte, in dem es schon mehrere Einsen gab, konnte sich Herbert sogar eines leisen Neidgefühls nicht erwehren. Suse, die um zwei Stunden jüngere, die von ihm früher die Aufgaben abgeschrieben, die sich immer Rat bei ihm geholt hatte, lernte jetzt etwas, was er noch nicht kannte. Ja, sie bekam sogar Einsen ohne ihn. Anstatt sich darüber zu freuen, hatte Herbert ein Gefühl des Unbehagens dabei. Er war, trotzdem er in der Schule schon bescheidener geworden war, seinem Zwillingsschwesterchen gegenüber immer noch ein kleiner Besserwisser. Suse sollte nicht mehr können als er.

Für Suse war es gut, daß sie selbständiger geworden war und sich nicht mehr auf den Bruder verließ. Denn jeder Mensch, er mag noch so klein sein, muß allein die Verantwortung für sich tragen und sich nicht auf andere verlassen.

Schon nach zwei Monaten konnte die Klassenlehrerin Susa Winter in einem kleinen Heft das Zeugnis ausstellen, daß sie sich große Mühe gäbe und eine » buona alunna – eine gute Schülerin« – sei. Wie glücklich war Suse darüber.

Der Oktober in Neapel hatte immer noch herrliche Sonnentage. Die Temperatur war nicht zu heiß, sondern wie an einem warmen Sommertage im Norden. Der Himmel spannte sich wie tiefblauer Samt über das schöne Neapel. Und das Meer schimmerte nicht weniger blau. Man merkte hier nichts von Herbst, von Welken und Vergehen der Natur wie in der deutschen Heimat. Ewiger Sommer schien es hier zu sein.

Die » Ottobrate«, die Ausfahrt der reichen Neapolitaner in blumengeschmückten oder buntbewimpelten Wagen, die stets im Oktober in Neapel stattfindet, gestaltete sich bei dem herrlichen Wetter besonders prunkvoll und farbenfreudig. Wenn Professors Zwillinge am Nachmittag, nachdem die Schularbeiten erledigt waren, in den Anlagen der Villa Nazionale spielten, konnten sie die ganze herrliche Auffahrt, die oft in vier Reihen den Korso bei Musik entlangfuhr, bewundern. Suse war von dem herrlichen Blumenschmuck, den jeder Wagen zeigte, begeistert. Herbert dagegen begeisterte sich mehr für die schönen, mit bunten Federbüschen geschmückten Pferde. Manchmal nickten auch kleine Schulfreundinnen Suse aus einem Blumenwagen zu. Die Lazzaroni, die Bettler, hatten jetzt eine gute Zeit. Denn aus den geschmückten Wagen flog meist ein Regen von Kupfermünzen in die dargehaltenen Hüte der Armen.

Der Wunsch, den Professors Zwillinge hegten, auch mal in solch einem schönen Blumenwagen den Korso entlangfahren zu dürfen, ging in Erfüllung. Der Vesuvdirektor lud sie beide zur » Ottobrate« ein.

Suse durfte neben ihrer Freundin, der schwarzlockigen Rita, sitzen. Hand in Hand fuhren die beiden Freundinnen in einem mit Alpenveilchen geschmückten Wagen den Korso auf und nieder. Herbert saß auf dem Rücksitz neben Enrico. Eigentlich hätte er viel lieber auf dem Bock neben dem Kutscher gethront. Ritas Vater fiel es auf, daß Suse ihn mit mitleidigen Augen anschaute. Was hatte die kleine Deutsche? Warum war sie nicht heiter bei der lustigen Musik? Er fragte sie nach dem Grunde.

Suse wurde rot. Dann sagte sie: »Sie tun mir so leid!«

»Aber warum denn bloß, Susetta?« Das war der Kosename für Suschen auf italienisch.

Herbert stieß seine Zwillingsschwester mit dem Bein an und plinkte ihr mit den Augen zu, ruhig zu sein. Er glaubte, sie würde sagen: »Weil Sie keine Frau mehr haben.« Und das hätte den Direktor doch sicher traurig gemacht. Bedauerte Suse doch stets Rita heimlich, weil sie keine Mutti hatte.

Aber den Stoß mit dem Bein fing Enrico statt Suse auf. Und die Augensprache verstand die Schwester nicht. Sie sagte: »Weil Sie auf dem ollen Vesuv wohnen und noch obendrein in den gräßlichen Radaukrater hineinklettern müssen.«

Da lachte Ritas Vater und sagte: »Der Vesuv und ich, wir beide sind gut Freund.«

Der Oktober ging zu Ende.

Am ersten November war Kindergesellschaft bei Professors. Die Zwillinge feierten ihren elften Geburtstag.

Ganz anders war es als im vorigen Jahr, wo die Waldschulkinder am Nachmittag zur Geburtstagsschokolade kommen durften. Ganz anders. Aber doch schön.

Morgens früh gab es bereits ein Ständchen. Nicht nur die Vögel draußen im Garten weckten Professors Zwillinge mit ihrem Morgengruß. Drunten an dem Gartengitter standen die Lazzaroni, Herberts gute Freunde aus der »Villa«. Mandolinen und Gitarren hatten sie mitgebracht, denn jeder Italiener ist ja ein halber Musiker. Sie hatten es nicht vergessen, daß Herbert und seine Zwillingsschwester am ersten November ihren Geburtstag feierten, hatte Herbert es ihnen doch so und sooft erzählt. Nun sangen sie allerlei lustige Weisen zu Ehren der Geburtstagskinder, bis diese in schnell übergeworfenen Kleidern auf der Terrasse erschienen und für das Morgenkonzert dankten.

Der Vater gab den Sängern Geld und Zigaretten. Die Mutter aber ließ jedem von Teresina ein großes Stück Geburtstagskuchen überreichen.

Teresina hatte für die »Engelchen«, die sie mit jedem Tage lieber gewann, ihre Backkunst aufs herrlichste entfaltet. Torten und Kuchen hatte sie gebacken und noch obendrein mit Früchten belegt. Sie konnte sich gar nicht genug tun für ihre Engelchen, obgleich Herbert doch wirklich mehr »Bengelchen« als »Engelchen« war. Pietro hatte einen Käfig gezimmert und ein Vogelpärchen, Inseparabiles, die Unzertrennlichen, hineingesetzt. Die schenkte er den Zwillingen, weil sie doch auch unzertrennlich waren, zum Geburtstag. Da war die Freude groß.

Die Kaffeetassen hatte Teresina mit Rosen geschmückt. Denn die blühten immer noch im Garten, trotzdem man schon den ersten November schrieb.

»Ob wir hier in Italien wohl auch Geburtstagslichtchen bekommen, Herbert?« erkundigte sich Suse beim Aufstehen.

»Glaub' ich nicht. Wenn man elf Jahre alt ist, braucht man keine mehr. Da ist man überhaupt schon zu groß dafür.«

Aber als die Eltern ihre Zwillinge nun ins Wohnzimmer riefen und bunte Lichtchen ihnen von jedem Geburtstagstisch entgegenleuchteten, da fühlte sich Herbert noch gar nicht zu groß dazu. Da freute er sich genau so wie Suse darüber.

Wieder hatte Elternliebe den Zwillingen nützliche und schöne Dinge auf den Gabentisch gelegt. Da war die winzig kleine Mandoline aus blauen Mosaiksteinen, die Suse so sehr bei den Straßenhändlern bewundert hatte. Da erhielt Herbert einen Käfig mit fünf kleinen weißen Mäusen, die er sich brennend gewünscht hatte und die Suse mit mißtrauischen Blicken betrachtete. Das beste aber war, daß ihr Vater sie heute in seine Arme schloß, daß sie nicht, wie im vergangenen Jahr, ohne ihn Geburtstag feiern mußten.

Bubi und Mija trugen den Geburtstagskindern zu Ehren rosenrote Halsbänder mit Blumensträußchen daran. Bubi schien sich sehr unbehaglich damit zu fühlen; er schnappte beständig danach.

Ein Paket von der Omama aus Berlin lag bereits auf den Geburtstagstischen. »Unsere kleine Omama!« riefen die Zwillinge jubelnd beim Auspacken. Ja, sie kam selbst zum Geburtstag ihrer Kinderchen nach Italien angereist, die gute Omama – allerdings nur im Bild. Da saß sie strickend in ihrem Lehnstuhl, die liebe alte Dame. Auf dem Schoß hielt sie Prinz, ihr Hündchen. Und neben ihr stand Frau Annchen, die ehemalige Kinderfrau der Zwillinge, in ihrer ganzen gemütlichen Breite.

Als Suse das Bild erblickte, nahm sie es und – küßte es. Die Sehnsucht nach der lieben kleinen Omama übermannte das weichherzige Kind.

Noch eine Überraschung gab es aus der Heimat. Die Waldschule hatte Professors Zwillinge nicht vergessen. Eine allerliebste Zeichnung, die Schule im Grunewald darstellend, hatte Paulchen für seine kleinen Freunde gezeichnet. Und sämtliche Waldschulkinder hatten einen Glückwunsch und ihren Namen unterschrieben.

Als die kleinen Neapolitaner und Neapolitanerinnen, die jetzigen Schulkameraden von Professors Zwillingen, am Nachmittag zur Geburtstagsschokolade erschienen, bewunderten sie alle Paulchens schöne Geburtstagskarte.

Unter Palmen und Zypressen und in den Pergolas, den Bogengängen, von denen die großen blauen und goldenen Weintrauben herabhingen, wurden lustige Spiele gespielt. Ja, sogar getanzt wurde. Graziös drehten sich die zierlichen Italienerinnen mit ihren kleinen Herren. Pietro blies dazu die Mundharmonika.

Am Abend aber war italienische Nacht in Professors Garten. An jeder Palme, an jedem Orangen- und Zitronenbaum hatte Pietro einen bunten Lampion befestigt. Wie leuchtende Riesenblumen wuchsen sie zwischen den Traubengängen. Zuletzt aber brannte der gute Pietro, der gar nicht wußte, was er seinen kleinen deutschen Freunden alles zuliebe tun sollte, noch rote und grüne Feuerschlangen ab und ließ goldene und silberne Leuchtkugeln in die warme Abendluft emporsteigen. Mit »Ah!« und »Oh!« wurde eine jede begleitet. Die Silber- und Goldkugeln flammten auf, sie stiegen weiter, immer weiter – bis zu den Sternen.

Einen so schönen Geburtstag, wie ihren ersten November in Neapel, haben Professors Zwillinge in ihrem Leben nie wieder gefeiert.


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