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Nun waren Professors Zwillinge schon in der zweiten Woche auf der Felseninsel Capri. Und es war ihnen, als ob sie schon Gott weiß wie lange dort seien. Die kleine Insel war ihnen bald vertraut. Sie kannten die Fischerkinder, den Giovanni, den Bernardo, den Umberto und Carlo, die Julia, die Emilia, die Margherita und die Rosina. Bald waren die deutschen Kinder gut Freund mit all den braungebrannten Caprikindern an der Marina piccola.
Auch Professor Winter hatte sein Heim an der Marina piccola, dem kleinen Hafen Capris, aufgeschlagen. In Orangen- und Vignengärten lag es ganz versteckt, das weiße Häuschen mit dem bunten Majolikagesims, über und über umwuchert von dunkelroten Kletterrosen. Dort verlebte die deutsche Familie herrliche Ferientage.
Der Vater saß die halben Nächte auf und studierte den Sternenhimmel, der hier in nie geahnter Pracht herniederfunkelte. Er machte sich Aufzeichnungen und berechnete den Gang der Gestirne.
Die Mutter besorgte ihr Hauswesen hier selbst. Herbert und Suse, ihre beiden Heinzelmännchen, halfen ihr dabei getreulich.
Morgens früh gingen die Zwillinge, jeder am Arm eine buntgeflochtene Strohtasche, welche die Inselbewohner geschickt und geschmackvoll zum Verkauf für die Fremden flochten, zur Piazza auf den Markt einkaufen. Der Einkauf machte den Zwillingen großen Spaß. Was für seltsames Gemüse gab es da: riesengroße, rote Paprikaschoten. Und Früchte, so schön, so groß und verlockend, daß Herbert sie am liebsten angebissen hätte, anstatt sie der Mutter heimzutragen. Aber die gewissenhafte Suse gab das nicht zu. Die dachte an das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatten, kein ungewaschenes Obst zu essen.
Nach dem Einkauf ging es hinunter an den Strand zum Bad. Der Vater erwartete seine Familie dort bereits. Ohne Begleitung der Eltern war den Kindern das Baden oder Rudern streng verboten. Denn die Wasser um Capri herum sind heimtückisch und gefährlich. Da gibt es Strömungen und ungeahnte Strudel, die den Nichtsahnenden leicht in die Tiefe ziehen können.
Den ganzen Vormittag liefen Professors dort in ihren Badeanzügen herum und nahmen Sonnenbäder. Das gemeinsame Bad in den blauen, warmen Wellen war die schönste Stunde des Tages. Die Eltern wurden mit ihren Zwillingen selbst zu ausgelassenen Kindern. Sie tanzten, lachten und spritzten sich mit ihnen um die Wette. Kein bißchen Angst hatte die Suse, die doch sonst so furchtsam war, vor den Wellen. Von einem Tag auf den andern freute sie sich auf das Baden.
Auch dem vierbeinigen Bubi, der sonst stets wasserscheu gewesen, machte das Bad hier in Capri fast noch mehr Vergnügen als den Kindern. Wie oft er an einem Tage von dem Strand ins Wasser sprang, war gar nicht mehr zu zählen. Sobald sein kleiner Herr ein Stück Holz oder einen Stein aufhob zum Wurf ins Meer, wedelte er schon erwartungsvoll mit dem Stummelschwänzchen, und da stürzte er sich auch schon kopfüber in die blaue Flut.
Die Fischerkinder standen als Zuschauer daneben, klatschten in die Hände und bewunderten Bubis Schwimmkünste. Bald waren Professors Zwillinge ebenso knusperig braun gebrannt wie die Caprikinder.
Die ersten Worte, die Herbert sprach, als er die herrliche Insel betrat, waren: »Wann fahren wir zur Blauen Grotte?«
Seitdem wiederholte er sie täglich ein dutzendmal. Bis sein Wunsch erfüllt wurde, und der Vater sich zum Besuch der Blauen Grotte entschloß. Einen Kampf gab es noch Bubis wegen, den die Eltern nicht mitnehmen wollten. Aber Herbert bat so herzbeweglich für seinen schwarzen Freund, daß er mal wieder seinen Willen durchsetzte.
Es war ein wunderbar klarer Sommertag – der Himmel so dunkelblau wie das Meer. Ein sanftes Lüftchen wehte, als die kleine Barke, von kundiger Hand eines alten Fischers gerudert, durch das unendliche Blau glitt.
»Werft noch einen Blick zurück nach Capri, Kinder. Sieht es nicht wie eine Märcheninsel aus? In einem Blütenmeer liegen die in Terrassen zur Höhe hinaufkletternden weißen und roten Häuser.« Vater und Mutter wandten immer wieder den Kopf zurück.
Die Jugend aber blickte vorwärts. Die konnte es nicht erwarten, bis man die Blaue Grotte zu sehen bekam. Unzählige Boote waren draußen auf dem Meer. Denn an dem herrlichen Tage waren viele Fremde mit dem Dampfer nach Capri gekommen, die weltberühmte Blaue Grotte zu besichtigen. Italienische Volkslieder erklangen fast aus jeder Barke.
»Du, was machst du denn da, Herbert? Willst du hier auf dem Meer etwa Schmetterlinge fangen?« fragte Suse verwundert.
Wirklich, der Junge hatte sein grünes Schmetterlingsnetz mitgenommen.
»Nee, aber Korallen fischen«, sagte er großartig.
»Mit einem Schmetterlingsnetz?« Vater und Mutter lachten den dummen Herbert aus. Auch Andrea, der alte Fischer, lachte dröhnend, als der Vater ihn von den Absichten seines Sohnes in Kenntnis setzte. Nur Suse, als getreuer Zwilling, und Bubi, als getreuer Köter, stimmten nicht in das Lachen ein.
Fischer Andrea versprach, den Jungen mal nachts zum Korallenfischen mit hinaus auf See zu nehmen. Aber der Vater wollte davon nichts wissen. Nachts müssen Kinder schlafen, und überhaupt sein Junge sei viel zu unvorsichtig und wagehalsig, um ihn allein mit auf See hinauszulassen. Alles Bitten des Sohnes änderte nichts an Vaters Wort.
» Asti spumante«, sagte der Fischer, auf einen Wassersprudel weisend, der aus den Felsen herausschäumte, um das betrübte Gesicht des Kleinen wieder aufzuheitern. Aber selbst dieser Witz – denn Asti spumante war italienischer Schaumwein – konnte Herbert nicht vergnügter machen. Da saß der dumme Junge an dem strahlenden Sonnentage auf dem tiefblauen Mittelländischen Meer und machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
»Du bist undankbar, Herbert«, sagte die Mutter ernst. »Du verdienst es gar nicht, daß der Vater uns die Freude macht, die Blaue Grotte mit uns zu besuchen.«
Ein wenig schämte sich Herbert. Aber in der Tiefe seiner Seele blieb doch ein unzufriedenes Gefühl zurück. Nachts mit den Fischern auf See hinausfahren und Korallen fischen, das war sicher noch viel feiner als die Blaue Grotte.
Man näherte sich dem Felseneingang zu derselben. Viele Boote lagen dort wartend. Herrliche bunte Quallen schwammen auf der im goldenen Sonnenlicht flimmernden Wasserfläche. Herberts gedrückte Lebensgeister hoben sich wieder angesichts der Quallen. Er fing sie mit der Hand und machte der zurückweichenden Suse ein wenig Angst damit – bloß zum Spaß.
Suse verstand denn auch Spaß, aber Bubi nicht. Der schnappte wütend nach den merkwürdigen Dingern, als ob sie Fliegen seien.
»Wir hätten den Hund nicht mitnehmen sollen – ich war gleich dagegen«, meinte der Professor. »Er verbreitet Unruhe.«
»Die Unruhe verbreitet unser zweibeiniger Bubi, nicht der arme vierbeinige. Herbert, tu das Zeug fort; du nimmst uns die Ruhe«, ordnete die Mutter an.
»Solche herrlichen Quallen sind kein Zeug«, verteidigte der Sprößling seine Beute und wickelte sie sorgsam in sein einst weiß gewesenes Taschentuch.
» Grotta azzurra«, sagte Fischer Andrea, auf eine nicht viel über einen Meter hohe Felsöffnung weisend.
»Das ist die Grotta azzurra – die Blaue Grotte?« riefen die Zwillinge wie aus einem Munde und machten enttäuschte Gesichter.
»Es kommt noch«, vertröstete sie der Vater. »Wir fahren ja erst in die Grotte hinein.«
»Zuvor muß der Signore und die Signora in ein kleines Boot umsteigen«, sagte der alte Fischer. »Der junge Herr und das kleine Fräulein besteigen ein anderes Boot. Wir können nur in kleinen Barken, höchstens zu zwei Personen, in die Grotte fahren.«
»Unmöglich!« rief Frau Professor Winter. »Das ist viel zu gefährlich, die Kinder allein in einem Boot. Herbert hat sowieso immer nur Dummheiten im Kopf. Jeder von uns nimmt eins der Kinder mit ins Boot, Paul. Das ist mir sicherer.«
»Schön, dann fahre ich mit dir, Mutti. Da bist du wenigstens unter männlichem Schutz«, erklärte der Sohn. »Und Bubi? Bekommt der ein Boot für sich allein?«
»Der kleine Signore kann den Hund ruhig mitnehmen, der wiegt nicht schwer«, schmunzelte der alte Fischer und half den Herrschaften beim Einsteigen in die in Bereitschaft gehaltenen Kähne. Wie Nußschalen schaukelten die. Die bisher ruhige Meeresoberfläche war vor dem Grotteneingang durch Strömungen recht bewegt. Suse klammerte sich fest an des Vaters Hand. Es war dem Angsthäschen recht lieb, daß es mit ihm fuhr. Der Vater gab Suse am meisten Sicherheit.
Lange lagen die Boote schaukelnd vor der Einfahrtsstelle. Es konnte nur immer eine kleinere Anzahl von Booten die nicht allzu große Grotte befahren. In allen Sprachen klang es aus dem Nachengewimmel durcheinander, wie einst in Babylon.
»Nun geht es in die Unterwelt, kleine Landsleute«, sagte da eine deutsche Stimme neben Herbert, und ein Boot schoß vorüber.
»Die Schokoladendame – unsere nette Schokoladendame aus Sorrent!« schrie Herbert in Suses Boot hinüber. So laut, daß sich die Dame lachend und winkend nach ihm umsah.
» Avanti!« sagte da sein Bootsmann. »Legen hin in barca, piccolo – Signora, vollständig! Sonst la testa – die Kopf ist perduta – verloren!«
Suse hörte es. Sie sah, wie die Mutter, wie ihr Zwilling sich im kleinen Boot der Länge nach ausstreckten – und ihr Herz schlug wie ein Hammer. O Gott, wenn ihnen nur kein Leids geschah!
Fort schoß das Boot, der Felsenhöhle zu.
»In die Unterwelt!« war das letzte, was Suse von ihrem Zwilling vernahm.
Da folgte auch ihr eigenes Boot schon. Der Vater zog die Kleine zu sich nieder. Auch der Bootsmann legte sich lang hin und steuerte das Boot im Liegen an einer Eisenkette geschickt durch die niedrige Felsöffnung. Suse hatte die Augen fest geschlossen. Sie wollte die Unterwelt nicht sehen.
»Du kannst dich wieder emporrichten, Herzchen«, hörte sie da den Vater sagen. »Aber Suschen, mach' doch die Augen auf – es ist herrlich hier. Du glaubst in einem Feenreich zu sein.«
Suse riß die geschlossenen Augen bereits entsetzt auf, denn neben ihr erklang ein langgezogenes Heulen und Jaulen. War Herbert oder der Mutti etwas passiert, daß der Hund so jammerte?
Nein, die saßen ganz vergnügt in ihrem Boot, übergossen von der wunderbaren, dämmerigen Bläue, welche die ganze Grotte erfüllte.
Wirklich, wie in einem Märchen war es. Lichtblau das Wasser, lichtblau die Felswände. – Suse hätte sich nicht gewundert, wenn eine schöne Nixe plötzlich der blauen Flut entstiegen wäre.
Der Vierfüßler aber hatte keinen Sinn für das Märchenhafte. Das wunderbare blaue Licht, das die Grotte erfüllte, ängstigte den Köter. Er heulte zum Herzbrechen.
»Der Hund muß aus der Grotte – das abscheuliche Tier nimmt einem ja jede Stimmung«, klang es empört in Deutsch, in Italienisch, in englischen und in französischen Lauten aus den sanft dahinplätschernden Nachen. Dem Herbert, der wie ein Kobold lachte über das Angstgeheul des feigen Bubi, verging das Lachen, als sein Bootsmann plötzlich kehrtmachte und den Wünschen der Grottenbesucher nachkam.
» A basso – herunter!« kommandierte der Barkenführer.
»Nein – nein, ich will noch nicht raus! Ich muß doch noch meine Hand in das blaue Wasser halten, ob sie wirklich darin wie Silber aussieht.« All sein Schreien nützte Herbert nichts. Ehe er es sich versah, war er und sein Bubi schon wieder draußen.
Schuldbewußt blickte Herbert zur Mutti hinüber. Nun hatte die arme Mutti so wenig von der Blauen Grotte gehabt, auf die sie sich schon lange vorher gefreut hatte. Denn auch während der wenigen Minuten drinnen war sie zu keinem rechten Genuß gekommen, da Bubis Geheul ihr äußerst peinlich gewesen war.
»Dämliche Kreatur!« sagte Herbert, das Tier ärgerlich aus seinen Armen lassend. Bubi senkte das Stummelschwänzchen und machte ein Armsündergesicht.
»Der unvernünftige Hund kann nicht dafür, wenn ihm bei der fremdartigen Lichtspiegelung unbehaglich und ängstlich wird. Schuld bist nur du. Dir habe ich es gesagt, du sollst Bubi daheim lassen. Nun bist du ja dafür gestraft – und ich mit.«
»Mutti – liebes Muttichen, wenn wir in die Rote, Weiße und Grüne Grotte fahren oder in die Wunderbare Grotte, lasse ich Bubi bestimmt zu Hause. Sei nur nicht traurig, daß er uns die Freude verdorben hat.« Den treuherzigen, bittenden Jungenaugen ihres Bubi, die ebenso blau waren wie die Blaue Grotte, konnte die Mutter unmöglich lange böse sein. Unter dem Sitz kam gedämpftes Miefen hervor: Bubi, der vierbeinige, bat ebenfalls um Verzeihung.
Endlich erschien auch die Barke mit dem Vater und Suse wieder. Das kleine Mädchen war ebenso glücklich, die liebe Sonne nach dem blauen Dämmerlicht in der Grotte wieder zu erblicken, wie der Köter.
»Suse, du siehst ja aus wie weißer Käse«, rief Herbert ihr entgegen.
»Ja, unser Suschen ist in der Grotte wohl ein wenig seekrank geworden, – unser kleines Fräulein muß widerstandsfähiger werden. Na, ist dir jetzt besser, Herzchen?«
Ja, viel besser war der Suse jetzt auf der Heimfahrt, wo sie wieder frische Luft atmete und ein leiser Wind mit ihrem Braunhaar spielte. Wo Muttis Hand, weicher und zarter noch als der warme Südwind, ihr die blassen Wangen streichelte.
»Suse, nächstens wirst du noch seekrank, wenn du bloß beim Wäscheblauen in die Spülwanne mit Blauwasser guckst.« Herbert war wieder ganz obenauf.
»Wißt ihr, wer die Blaue Grotte entdeckt hat? Ein deutscher Dichter, August Kopisch, von dem das allerliebste Gedicht ›Die Heinzelmännchen‹ stammt. Das kennt ihr doch«, erzählte der Vater.
»Natürlich, Mutti sagt es immer auf, wenn wir ihre Heinzelmännchen sind.«
Der alte Fischer wandte sich zu dem Professor. »Will der Signore nicht noch die Grotta meravigliosa besichtigen? Da gibt es seltsame Tropfsteine – oh, superbo.« Er freute sich, daß der deutsche Herr so gut Italienisch sprach und verstand.
Aber der Professor schüttelte den Kopf.
»Nein, Andrea. Vorläufig haben wir jetzt von Grotten genug. Mit meinen Kindern fahre ich in keine Grotte mehr.«
»Na, was kann ich denn dafür, wenn Suse und Bubi die blaue Luft nicht vertragen können? Weil ich Suses Zwilling bin, brauche ich doch nicht auch zu Hause gelassen zu werden«, begehrte Herbert trotzig auf. »Ich fahre mit in die Wunderbare Grotte.«
»Junge, du bist ein Nimmersatt. Du solltest dankbar sein, daß du heute mitdurftest. So, da sind wir ja schon wieder an der Marina grande angelangt.« Der Vater händigte dem Fischer das Geld für die Fahrt ein, und sie verabschiedeten sich von Andrea.
»Auf ein anderes Mal, piccolo signore«, sagte der Fischer zu Herbert.
»Ja, nachts zum Korallenfang – Vater wird es schon erlauben.«
Noch in der Funicolare, die vom Hafen zu den Anhöhen Capris, auf denen die kleine Stadt und die Villen verstreut liegen, hinaufführt, quälte Herbert den Vater um die Erlaubnis, Andrea zum nächtlichen Korallenfischen begleiten zu dürfen. Diesmal aber nützte Herbert alles Betteln nichts. Ja, der Vater wurde obendrein noch ärgerlich.
Den Freunden Giovanni, Umberto, Carlo, Emilia, Rosina und wie sie alle hießen, erzählte Herbert, wie herrlich es in der Blauen Grotte gewesen sei und daß Suse und Bubi drinnen seekrank geworden seien. Daß er selbst aber Hals über Kopf wieder hinausspediert worden war, das verschwieg er. Und Suse war nett genug, es nicht zu verraten.
»Die Wunderbare Grotte ist noch viel schöner als die Blaue«, sagte einer der schwarzbraunen Fischerjungen. » O bella – bellissima! Schön – sehr schön! Wer die nicht kennt, kennt gar nichts.«
»Ich werde sie schon kennenlernen!« sagte der deutsche Junge mit Bestimmtheit.
»Vati erlaubt es nicht«, warf sein Zwilling ein.
»Dann fahre ich eben ohne Erlaubnis – entweder Korallenfischen oder die Wunderbare Grotte – eins von beiden!«
Als Herbert abends in seinem Bette lag, während süßer Blütenduft und Mandolinenklang durch das geöffnete Fenster zog, hörte Suse ihn nochmals vor sich hinflüstern: »Eins von beiden!«