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Von lautem Geschrei wachten die Zwillinge am nächsten Morgen auf. Herbert, der nach vorn heraus schlief, wollte mit einem Satz aus dem Bett und ans Fenster. Aber er stieß auf einen merkwürdigen Widerstand. Irgendein weißes Etwas, in das er sich verwickelte wie die Fliege im Gewebe der Spinne. Was war denn das für ein dummes Netz? Träumte er noch? Kräftige Jungenhände zerrten an dem störenden Ding – ritsch – ratsch – da hing es in Fetzen. Herbert aber sprang verschlafen hindurch. Es war noch dunkel im Zimmer. Dichte braune Vorhänge wehrten dem Sonnenlicht den Eintritt. Soeben hatte Herbert noch von der Waldschule geträumt. Er fand sich noch nicht wieder zurecht in der Wirklichkeit. Wieso war es denn so finster in der Kinderstube? Es war doch sonst immer ganz hell, wenn er in die Schule ging.
» Giorno – Mattina – Giorno – Mattina –«, klang das Geschrei von der Straße herauf.
Nanu?
Plötzlich zerriß auch der Vorhang, der den Jungen vom Traumland zur Wirklichkeit schied. Das waren italienische Laute – er war ja gar nicht mehr in Berlin – hurra – er war ja in Italien beim Vater!
Der dunkle Stoffvorhang vor dem Fenster wollte nicht schnell genug, von ungeduldigen Jungenhänden gezerrt, zur Seite weichen. Ach, das war ja gar kein Fenster! Eine große Glastür war es, die hinaus zur Terrasse führte. Weißer Sonnenglanz lag über der weißen Terrasse. Blumen blühten. Vögel sangen und jubilierten da draußen.
Aber die Glastür wollte nicht aufgehen, überall stieß Herbert heute auf unvorhergesehenen Widerstand. Der Mechanismus war anders, als er das von daheim her kannte. Er begann an der Tür aus Leibeskräften zu rütteln, während es von der Straße jetzt » limone – limone –«heraufschallte.
Suse war inzwischen auch von dem Geschrei munter geworden. Wieso schlief sie denn heute am Fenster? Sie kam ja mit dem Kopf immer in die Gardine. Nach welcher Seite sie sich auch wandte, überall war die alte Gardine im Wege. Aber Suse besann sich nicht lange. Sie machte es so, wie sie es von klein auf im Dunkeln gemacht hatte. Sie rief aus Leibeskräften: »Mutti – Mutti!«
Mutti hörte nicht. Das Schlafzimmer der Eltern lag auf der andern Seite des Hauses. Aber hell wurde es trotzdem in dem dunklen Zimmer. Die Tür zum Nebenraum, in dem Herbert geschlafen hatte, öffnete sich, und die Stimme des Bruders erklang tröstend: »Guten Morgen, Suse. Warum blökste denn so laut?«
»An meinem Bett ist solche dumme Gardine, ich kann gar nicht raus. Und so finster ist es hier in dem alten Italien.« Suse hatte inzwischen bei dem vom Nebenzimmer hereinfallenden Tageslicht die neue Umgebung erkannt.
»Die Gardine, das ist ja das Moskitonetz, Suse. Meins habe ich schon zerrissen. Komm, ich helf' dir.« So, nun war auch die Suse glücklich aus dem Bett heraus.
»Der Fußboden ist ja so kalt!« Sie waren daheim trotz mütterlicher Vorhaltungen meist barfuß herumgelaufen, hatten sich nicht die Zeit genommen, erst in die Morgenschuhe zu schlüpfen.
»Hier in Italien haben die Häuser Steinfußboden«, belehrte sie Herbert, der, trotzdem er genau so alt war, alles besser wußte als sein Zwillingsschwesterchen. »So, da sind deine Morgenschuhe. Und dann komm und hilf mir die Balkontür aufmachen. Die ist hier doll fest verschlossen.«
Suse, die Geschicktere von beiden, hatte den fremden Mechanismus bald heraus, da sie nicht, wie der Bruder, mit Gewalt daran ging, sondern mit Überlegung.
Ach, war das schon zu dieser frühen Morgenstunde herrlich warm auf der sonnenbeschienenen Terrasse. Über seltsame Bäume, die sie nicht kannten, blickten die Kinder neugierig hinweg auf die Straße. Eine Herde meckernde Ziegen, die von einem braunen Hüterbuben die Straße entlang getrieben wurde, war das erste, was sie erblickten. Dunkelhäutige, halbwüchsige Jungen mit Zeitungen liefen dazwischen, auf und ab, noch immer laut schreiend: » Mattina – Giorno – Giorno – Mattina.« Ein Wagen mit gelben Früchten schob sich langsam den Fahrdamm entlang, während der kleine Verkäufer ohne Atempause » limone – limone« ausrief.
»Ob das Limonade heißt?« überlegte Herbert.
»Die Früchte sehen eigentlich wie Apfelsinen aus«, meinte Suse.
»Es sind aber Zitronen«, kam eine Stimme von irgendwoher.
Ja, woher denn? Die Zwillinge sahen sich erstaunt um. Ach, da mündeten ja noch mehr Glastüren auf die Terrasse hinaus. Und an einer derselben stand der Vater, das ganze Gesicht mit Seifenschaum beschmiert, denn er rasierte sich gerade. »Schlagsahne« pflegte Suse, als sie noch klein war, den Seifenschaum immer zu nennen.
»Vati – liebes Vatichen – wie schön, daß wir wieder bei dir sind!« Da flog die warmherzige Suse auch schon zärtlich auf den Vater zu. Sie empfand das Wiedersehensglück heute aufs neue.
»Nicht so ungestüm, Wildfang, sonst schneide ich mich. Na, haben meine beiden Hemdenmätze gut in der neuen Heimat geschlafen?« Der Vater strahlte über das seifenschaumige Gesicht vor Freude, daß er seine Zwillinge wieder hatte.
»Ja, Vati, bloß das olle Moskitonetz muß abgenommen werden. Da findet man sich ja gar nicht im Bett zurecht. Ich habe meins schon abgerissen«, erklärte Herbert. Er hatte für alles Neue ringsum mindestens solch Interesse wie für den Vater.
»Na, du bist tüchtig«, schmunzelte der Vater. »Wenn ihr kein Netz habt, könnt ihr gar nicht schlafen. Denn da stechen euch die Moskitos und Zanzare.«
»Sind das Mücken, Vater?« Herberts Interesse für alles, was krabbelte und flog, erwachte.
»Ja, mein Junge. Eine Stechmücke, die hier in den südlichen Ländern eine große Plage sein kann, wenn man nicht Vorkehrungen dagegen trifft.«
»Und dann schreien die Jungs auf der Straße hier morgens so laut, daß man gar nicht schlafen kann«, beschwerte sich Suse.
»Sie rufen die Zeitungen aus. Hört ihr › Mattina‹, das heißt Morgen und › Giorno‹, das heißt Tag. Es sind die gelesensten Zeitungen hier in Neapel«, erklärte der Vater.
»Und was heißt › Limone‹?«
» Limone ist eine Zitrone. Kleine Zitronenverkäufer bieten ihre Ware an.«
»Ulkig«, meinte Herbert. »Ich möchte auch mal so schreien.«
»Du schreist schon laut genug«, lachte es aus einem Bett. Die Mutter, die eigentlich gern noch ein wenig nach der anstrengenden Reise geschlafen hätte, war von der Unterhaltung aufgewacht. »Kinder, ihr werdet euch da draußen im Nachthemd einen Schnupfen holen«, warnte sie besorgt.
»Hier in Italien, wo es selbst im Winter warm ist?« ereiferte sich der Herr Sohn. »Auf italienisch gibt's überhaupt gar keinen Schnupfen.«
»Du mußt's ja wissen«, lachte der Vater. »Gerade hier am Meer, wo abends manchmal starke Abkühlungen nach glühend heißen Tagen vorkommen, kann man sich leicht erkälten. Aber nun marsch, wascht euch und zieht euch an, daß wir zusammen frühstücken können. Ich habe mich heute in der Sternwarte, Observatorium sagt man hier, beurlaubt, um euch erst mit der fremden Umgebung vertraut zu machen.«
»Famos!« rief Herbert. Während Suse sich ein wenig zaghaft erkundigte: »Müssen wir denn nicht in die Schule, Vatichen?«
»Erst müßt ihr Italienisch, die Landessprache, erlernen. Ihr bekommt Privatunterricht. Ich möchte, daß ihr hier später das Gymnasium weiterbesucht.«
»Natürlich, wir sind doch schon in der Waldschule in die Quinta versetzt worden«, pflichtete Herbert dem Vater bei.
»Da käme eine internationale Schule in Betracht oder eine italienische«, überlegte der Vater, zur Mutter gewandt, weiter.
»Ich gehe in eine italienische Schule,« Herbert war bereits vor den Eltern mit seinem Entschluß fertig – »du auch, Suse?«
»Ich gehe dahin, wo du hingehst.« Von klein auf war das schon so. Suse war der getreue Schatten des Zwillingsbruders, der sich stets als ihr Beschützer fühlte.
Während sich die Kinder wuschen und anzogen, hatte Pietro draußen auf der Terrasse einen großen roten Schirm gegen die Sonne aufgestellt. Wie eine rote Riesenblume stand er in der blauen Luft. Teresina deckte darunter den Frühstückstisch. Als die Kinder ausgeschlafen und frisch am Kaffeetisch erschienen, lag auf jedem Platz eine herrliche Rose zum Empfang. Pietro hatte sie der Mutter und ihnen zum Willkommen verehrt. Teresina aber hatte frischen Maiskuchen für die »Engelchen« gebacken.
Herbert biß sogleich erwartungsvoll hinein und – spuckte den Bissen, obgleich das gar nicht anständig war, sogleich wieder aus.
»Pfui Deibel!« rief er in seiner derben Jungensprache. »Pfui, das schmeckt ja abscheulich! Kein bißchen süß. Koste mal, Suse.«
Suse hatte eigentlich wenig Lust dazu, aber was Herbert getan hatte, mußte sie doch auch tun. Sie kostete und – spuckte ebenfalls. Denn sie war ja sein Zwilling.
»Aber Kinder, wie unmanierlich!« tadelte die Mutter.
»Was soll denn unser Vater davon denken. Der glaubt doch sicher, ihr seid in seiner Abwesenheit von Berlin ganz verwildert.«
»Na, wenn das Zeug so eklig nach Rizinusöl schmeckt«, entschuldigte sich Herbert.
»Nach Rizinusöl?« fragte der Vater belustigt. »Junge, hier wird alles mit bestem Olivenöl gekocht und gebraten. Ihr seid doch hier im Lande des Öls. Dort drüben die grauen Bäume, das sind Olivenbäume, aus deren kleinen schwärzlichen Früchten das Öl gewonnen wird. Ihr müßt euch Pfirsichgelee auf den Polentakuchen streichen. So, Suschen, jetzt probiere mal.« Der Vater strich dem Töchterchen einen Maiskuchen mit Fruchtgelee.
Ja, jetzt schmeckte es! Auch Herbert ließ sich dazu herbei, Teresinas Backkunst Ehre anzutun. Aber das Brötchen und das Hörnchen mundete ihm doch noch besser.
War das ein wundervolles Gefühl, wieder gemeinsam mit dem Vater nach so langer Zeit am Tisch zu sitzen – herrlich duftende Blüten zu seinen Füßen – weiterhin das blaue unendliche Meer und – – – »auf dem Vesuv liegt wieder eine Wolke«, sagte Herbert, in die Ferne starrend.
»Das ist Rauch, der aus dem Innern kommt«, erklärte der Vater.
Der Bissen blieb Suse vor Schreck in der Kehle stecken. Sie hatte heute über all dem Neuen noch gar nicht an den gefährlichen Vesuv gedacht.
Irgendwo auf der Straße blaffte ein Hund.
»Bubi, mein armer Bubi – ich habe mich ja noch gar nicht um ihn gekümmert.« Jetzt blieb dem andern Zwilling beinahe vor Schreck der Happen in der Kehle stecken, als er plötzlich an seinen vierfüßigen Freund dachte. Pietro hatte ihm gestern abend ein Lager unten im Souterrain zurechtgemacht.
»Und meine Schwarzwald-Lotti habe ich auch noch nicht gewaschen. Die ist noch ganz schwarz von der Reise.«
»Dann sieht sie eben wie eine Italienerin aus«, meinte der Bruder gleichmütig und machte Miene, sein Frühstück im Stich zu lassen, um nach dem ausgesetzten Bubi zu sehen.
»Hiergeblieben!« rief der Vater. »Erst wird fertig gefrühstückt. Pietro hat sicherlich schon für den Hund gesorgt.«
»Aber der arme Bubi kann sich doch gar nicht mit ihm verständigen, er versteht doch kein Italienisch.« Mit dem letzten Bissen schoß Herbert wie ein Pfeil davon, hinunter in das Kellergeschoß. Suse natürlich hinterdrein.
Bautz – da lag der Junge. Er hatte nicht acht gehabt, daß er glatte Marmortreppen statt der gewohnten Holztreppen hinunterjagte. Plautz – da lag auch die Suse als getreuer Zwilling. Beide rieben sie sich das schmerzende Knie, sahen sich kläglich an und – lachten sodann. Denn geteilter Schmerz ist halber Schmerz.
Bubi gebürdete sich rein närrisch vor Freude, als er seinen kleinen Herrn wiedersah. Er mußte sich doch wohl so allein im fremden Lande recht vereinsamt gefühlt haben. Den Pietro, der ihn mit allerlei Kosenamen lockte, knurrte er feindselig an, denn er verstand ja noch kein Italienisch. Aber gegen Teresina, die ihm ein Näpfchen Milch hingesetzt hatte, hegte er schon freundlichere Gefühle. Die Sprache, die durch den Magen ging, verstand er.
» Cane – piccolo cane«, sagte Pietro, lachend seine weißen Zähne zeigend. Hund – kleines Hündchen, bedeutete es. Die Kinder blickten ebenso verständnislos wie der Hund.
» Cane«, sagte Pietro noch einmal, auf das Hündchen weisend.
»Nee, Bubi heißt er«, verbesserte Herbert in der Annähme, es handle sich um den Namen seines vierfüßigen Freundes. Jetzt war es an Pietro, ein verständnisloses Gesicht zu machen.
»Bubi – Bubi heißt er«, schrie der zweibeinige Bubi jetzt aus Leibeskräften dem Italiener in die Ohren. Dabei betrachtete et mit ungeheurem Interesse Pietros Goldohrringe.
Suse hatte inzwischen Teresina einen Besuch abgestattet. Die Hausmeistersleute hatten Stube und Küche im Kellergeschoß inne. Sehr ordentlich sah es darin nicht aus. Soviel sah selbst die zehnjährige Suse. Auch roch es abscheulich nach Zwiebeln und Knoblauch. In den Betten sielte sich eine ganze Katzenfamilie herum – sieben junge Kätzchen mit der Mutterkatze. Gott, waren die niedlich!
Teresina nahm eins der Kätzchen und legte es der beglückten Suse mit vielen freundlichen, aber leider unverständlichen Worten in den Arm. Ob das Kätzchen wohl ein Geschenk war oder nur geborgt? Suse hätte es zu gern gewußt.
»Herbert, sieh bloß mal das süße Kätzchen«, rief sie dem Bruder zu. »Es miaut auf deutsch, eben hat es ganz deutlich ›miau‹ gesagt.«
»Quatsch!« sagte der Bruder nachdrücklich. »Jede Katze miaut, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.«
»Schnabel – seit wann hat denn eine Katze einen Schnabel?« Suse wollte zeigen, daß sie denn doch nicht so dumm war.
Herbert kam eiligst herbei. Aber noch eiliger hatte es der vierbeinige Bubi. Mit einem Satz war er auf dem Bett. Hast du nicht gesehen, da schnappte er laut blaffend nach einem der mauzenden Kätzchen. Die alte Katze fauchte, und ehe der Hund es sich versah, hatte er von der Katzenmutter eine Ohrfeige weg. Ein wilder Kampf entspann sich zwischen den beiden.
Herbert hielt sich die Seiten vor Lachen. Während Suse aufgeregt den Hund rief: »Hierher, Bubi, wirst du wohl gleich kommen – ach Gott, die armen, kleinen Kätzchen ängstigen sich ja so doll. Herbert, rufe doch bloß Bubi zurück.« Sie weinte beinahe vor Aufregung.
Da aber hatte Pietro mit einem Nackengriff den schwarzfelligen Störenfried durch das Fenster an die Luft befördert. Die alte Katze war mit einem Sprung hinterdrein. Draußen im Garten gab es unter Palmen, Orangen- und Gummibäumen, zwischen den Kakteen eine wilde Jagd. Was kümmerten den blaffenden Bubi die fremdländischen, seltsamen Bäume und Pflanzen. Er gebärdete sich, als ob er unter den Bäumen im Berliner Tiergarten einherraste. Schwupp – da war die Katze an dem schlanken Schaft einer Palme emporgeklettert. Bubi umkreiste die Palme, wie besessen blaffend. O weh, sein feindseliges Angriffsgebell ging in jämmerliches Miefen über. Er hatte nähere Bekanntschaft mit den stachligen Kaktuspflanzen, die er bisher noch nicht kannte, gemacht. Die kratzten ja noch schlimmer als Katzen. Nein, Bubi war durchaus nicht begeistert von Italien.
Die Mutter hatte bereits mit Auspacken der großen Koffer begonnen, als Suse, ihr Kätzchen im Arm, aufgeregt erschien: »Vati, ich muß ganz schnell Italienisch lernen. Gleich heute, ja, Vatichen?«
»Nanu, so eilig, Suschen? Hat's nicht noch ein paar Tage Zeit?« fragte der Professor lächelnd.
»Nee, Vatichen. Das süße Kätzchen weiß sonst nicht, ob es mir gehört oder der Teresina. Am Ende hat sie's mir nur geborgt.«
»Ich werde sie fragen«, versprach der gute Vater. »Jetzt wollen wir der Mutti beim Einräumen helfen, und dann gehe ich mit euch – – –«
»Zum Vesuv – ja, Vati, auf den Vesuv?« rief Herbert begeistert, während Suse schon wieder ängstliche Augen machte.
»Vorläufig sollt ihr mal erst die Stadt kennenlernen. Neapel ist herrlich, es wird euch sicherlich hier gefallen.«
Suse machte in Anbetracht des Vesuvs ein zweifelhaftes Gesicht. »Dann gehen wir aber bestimmt zum Hafen, ja, Vati, zu all den großen Schiffen«, bestürmte Herbert den Vater.
Das wurde versprochen.
Wie der Wind ging das Auspacken. Die Zwillinge waren wieder mal Muttis Heinzelmännchen, die unermüdlich hin und her liefen und die Sachen nach ihren Angaben in die verschiedenen Zimmer trugen. Das Einräumen in die Schränke besorgte die Mutter lieber selber. Herbert kam es mehr auf Schnelligkeit als auf Ordnung dabei an. Suse durfte ihre Wäsche selbst einräumen, denn sie war ein gewissenhaftes, sorgsames Kind.
»Vater, warum hast du dein großes Fernrohr nicht auf der Terrasse stehen?« fragte Herbert, in Vaters Zimmer all die großen Sternkarten bewundernd. Als bedeutender Forscher der Sternkunde war Professor Winter vor einem Jahr an das Observatorium nach Neapel berufen worden.
»Es hat auf dem Dach seinen Platz. Von dort habe ich einen noch weiteren Blick.«
Natürlich ruhte Herbert nicht, bis der Vater ihn mit aufs Dach nahm. Auch die Mutter und Suse, die mit ihrer Arbeit gerade fertig waren, kletterten mit hinauf.
Das Dach war ebenfalls eine Terrasse, ganz gerade und eben. Die Sonne brannte darauf.
»Worauf soll ich einstellen?« fragte der Vater, an seinem großen Fernrohr bastelnd.
»Auf Berlin, Vati. Kann man die Omama durch das Fernglas sehen?«
»Nein, Suse, das ist nicht möglich.«
»Na, wenn man sogar die Sterne am Himmel sehen kann, die sind doch noch viel weiter als Berlin«, verwunderte sich auch Herbert.
»Man sieht die Sterne doch auch mit bloßem Auge durch den Luftraum hindurch. Das Fernglas vergrößert sie nur. Berlin kann man nicht sehen. Da liegen viele Städte und Berge als Hindernis dazwischen. Das habt ihr doch auf der Reise hierher gesehen. So, nun habe ich das Fernrohr auf den Vesuv eingestellt. Erst soll die Mutti durchschauen, Herbert.«
»Ich brauche doch nicht, Vatichen, nicht wahr, ich brauche nicht?« schmeichelte Suse.
»Gerade du sollst mal durchsehen, mein Herzchen. Um aus der Entfernung zu erkennen, daß deine Furcht unbegründet ist.«
»Der Rauch sieht gar nicht feurig aus,« stellte die Mutter fest.
»Man sieht den Feuerschein nur am Abend im Dunkeln«, bestätigte der Professor.
»Bitte, bitte, liebe Mutti, laß mich mal ran.« Herbert konnte es nicht erwarten, durch das Fernrohr zu sehen.
»Das sieht man bloß so aus, als ob der Vesuv eine Zigarre raucht. Du kannst ruhig durchsehen, Suse. Es ist nicht ein bißchen graulig«, sagte Herbert bedauernd.
Na, wenn ihr Zwillingsbruder meinte! Auch Suse wagte es herzklopfend, einen Blick durch das Fernglas auf den feuerspeienden Berg zu werfen – gut, daß sie so weit davon entfernt war. Schwarze Rauchschwaden stiegen zum Himmel empor. »Wohnen wirklich Leute auf dem Vesuv?« erkundigte sie sich ängstlich. Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß es so tollkühne Menschen geben sollte.
»Am Fuße des Vesuvs liegen blühende Ortschaften, Rebengelände zieht sich die Hänge hinauf. Es ist die fruchtbarste Gegend Italiens, da in der Asche Düngesalze enthalten sind. Der Vesuvwein ist berühmt; heute mittag sollt ihr ihn mal versuchen. Weiter hinauf allerdings ist alles schwarze Lava. Da wächst nichts mehr. Der Direktor des Vesuv-Observatoriums, das unmittelbar unter dem Gipfel an geschützter Stelle liegt, ist ein guter Bekannter von mir. Er hat ein Töchterchen, das ihr mal besuchen sollt. Da hast du gleich eine kleine Freundin, Suschen.« Liebevoll strich der Vater über das kurzgeschorene, kastanienbraune Haar des Töchterchens.
Das aber machte durchaus kein begeistertes Gesicht. Die kleine Vesuvfreundin war ihr höchst unbehaglich.
»Ich brauche gar keine Freundin, Vati. Ich habe ja den Herbert zum Spielen und Bubi und meine Schwarzwald-Lotti und vielleicht sogar noch das süße Kätzchen von der Teresina. Ein Vesuvkind soll nicht meine Freundin sein!« wehrte sich Suse mit ungewöhnlicher Heftigkeit.
»Hat sie nicht noch einen Bruder?« erkundigte sich Herbert lebhaft. Er dachte es sich herrlich, einen Freund auf dem Vesuv zu haben.
»Ja, ein Junge ist auch noch da. Aber älter als du. Die Kinder vom Observatoriumsdirektor sind für gewöhnlich unten in Neapel, da sie die Schule besuchen«, beruhigte der Vater seine beiden. »So, Fränzchen, jetzt habe ich auf die Insel Capri eingestellt, wenn du noch mal durch das Glas sehen willst. Wenn man weiß, wo die Insel liegt, kann man sie mit bloßem Auge erkennen, so klar ist die Luft.«
»Ich sehe hohe Felsen mitten aus dem Meer aufragen, auch weiße Häuser kann man unterscheiden. Muß das dort herrlich sein.«
»Meinen Sommerurlaub beabsichtige ich mit euch auf Capri zuzubringen. Dort können wir See baden und – –«
»Gibt's auch dort Muscheln, Vati?« erkundigte sich Suse, die im vorigen Jahr auf Rügen eine begeisterte Muschelsammlerin gewesen war.
»Freilich, ganz große, auch Bernstein und Korallen.«
»Und die Blaue Grotte, Vater, die ist doch bei Capri. Kann man sie durch das Fernglas sehen?«
»Nein, mein Sohn, das Felsentor zur Blauen Grotte ist so niedrig, daß man sich im Boot lang ausstrecken muß bei der Einfahrt. Sonst bleibt der Kopf draußen«, scherzte der Vater. Aber nun avanti – subito! Vorwärts – schnell! Sonst wird es zu spät für die Stadtbesichtigung. Das Gabelfrühstück nehmen wir unterwegs in einem Gasthaus.«
»Hurra!« rief Herbert begeistert dazwischen.
»Inzwischen bereitet uns Teresina die Mittagsmahlzeit, das pranzo, das man hier erst gegen sieben einnimmt. Wir können es ihr vollständig überlassen, mein Herz, Teresina kocht gut. Und du selbst mußt ja erst die italienische Küche kennenlernen«, bemerkte der Professor.
»Ich dachte nach deutscher Art zu kochen, Paul«, wandte seine Frau ein, die wohl kein rechtes Zutrauen zu Teresinas Kochkunst hatte.
»Es gibt hier andere Früchte, andere Gemüse, andere Fische als bei uns im Norden. Das Öl spielt bei der Zubereitung eine große Rolle. Du wirst hier umlernen müssen, Fränzchen.«
Bald darauf sah man die deutsche Professorenfamilie, Bubi allen voran, durch die Straßen von Neapel wandern.