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Das Schiff schaukelte, abfahrtbereit von Neapel, im Hafen von Santa Lucia. Die letzten Passagiere wurden eingebootet. Oben vom Deck winkten Professors Zwillinge mit ihren Taschentüchern zum Kai hinüber. Dort standen Pietro und Teresina, die das Gepäck der Professorenfamilie zum Hafen befördert hatten.
Laut auf heulte die Schiffssirene. Es ging Suse durch Mark und Bein. Auch Herbert hielt sich die Ohren zu. Dann ein Stöhnen und Ächzen der großen Schiffsschraube, ehe sie sich in Bewegung setzte. Der silberne Wellengischt spritzte hoch auf. Und da glitt das Schiff wie ein Riesenschwan über das tiefblaue Meer.
»Als ich so alt war wie ihr, bin ich noch nicht über das Mittelländische Meer gefahren«, meinte der Vater lächelnd.
»Ich auch nicht, Kinder«, fiel die Mutter ein.
»Freilich, weil Vater in Ostpreußen und Mutti in Freiburg daheim war.« Herbert war nicht um eine Antwort verlegen.
»Nun nehmt für einige Zeit Abschied vom Vesuv, Kinder.« Der Vater wies auf den rauchenden Berg. »Von Capri sieht man ihn nur in der Ferne.«
»Gott sei Dank!« Das kam der Suse aus tiefstem Herzen. Sie hatte ihre Furcht vor dem Feuerberg niemals verloren. Im Gegenteil, seit dem Erdbeben streifte sie ihn nur noch mit scheuem Blick. Nun freute sie sich noch einmal so sehr auf Capri, da man den graulichen Berg dort nicht in unmittelbarer Nähe hatte.
Herrlich war die Fahrt. Herbert hatte die Suse etwas bange gemacht vor der Seekrankheit. Denn im vorigen Jahr, als sie die Sommerferien auf Rügen verbrachten, waren die Zwillinge alle beide seekrank geworden. Aber da war auch Sturm gewesen. Und hier war das Meer so glatt wie ein blaues Seidentuch. Nur das Schiff spritzte schneeigen Wellengischt auf.
Wie bunte Blumengürtel umschlossen die Ufer, mit ihren üppigen südländischen Gärten zu den Höhen ansteigend, das Meer. Wilde Schluchten, kahle Bergabstürze wechselten mit fruchtbaren, grünen Geländen. Die Eltern genossen voller Begeisterung die wundervollen Landschaftsbilder, die sich am Gestade entrollten.
Aber die Kinder hatten bald genug davon. Herbert interessierte der Maschinenraum mit der großen arbeitenden Schiffsschraube bedeutend mehr, trotzdem es dort abscheulich nach heißem Maschinenöl roch. Bubi, der vierbeinige, beschnupperte das Schiff ebenso neugierig wie Bubi, der zweibeinige. Suse aber hatte anderes zu bestaunen. Ihr gegenüber saßen zwei Männer in Frauenkleidern, wie es ihr schien. Braune, kuttenartige Gewänder trugen sie. Hänfene Stricke als Gürtel darum geknotet.
»Mutti, sind das Männer oder Frauen?« flüsterte Suse der Mutter zu.
»Mönche sind es, Herzchen. Klosterbrüder – das sind fromme Männer, die im Kloster nur ihrem Glauben leben, fern von allem Weltgetriebe. Sie tun viel Gutes an Armen und Kranken«, erklärte die Mutter dem Töchterchen. Das gefiel der Suse sehr.
Einer der Mönche war aufmerksam geworden. Er merkte wohl, daß von ihm die Rede sei. Freundlich wandte er sich dem kleinen Mädchen zu, das ihn mit so neugierigen Augen anstarrte und fragte es, wohin es fahre.
Suse schüttelte verlegen den Kopf. Sie verstand das schnell gesprochene Italienisch nicht. Obgleich sie doch ihren Lehrer Signor Salvani, ja auch Pietro und Teresina schon recht nett verstanden hatte. Die Mutter mußte die Unterhaltung vermitteln.
»Wir wollen in Sorrent ein paar Tage zubringen, ehe wir uns für längere Zeit nach Capri begeben«, erzählte Frau Professor Winter den Klosterbrüdern.
»Daran tun Sie recht. Sorrent ist eine Perle unter den Kleinodien unserer Küstenlandschaft. Aber dann in Capri in der Blauen Grotte, da wird die kleine Signorina Augen machen.«
Suse, die kleine Signorina, machte bereits Augen, aber ins Meer hinein. Ihr schien es, als ob sie da unten in dem blauen Naß Fische schwimmen sähe. Ob da nicht auch eine Fischmutter über ihre Kleinen wachte, daß ihnen kein Leids geschähe, wie neulich im Aquarium?
Der Professor trat zu seiner Familie.
»Gleich sind wir da«, verkündete er. »Dort oben auf den Felsen sieht man schon die Hotels von Sorrent.«
»Wie kommt man denn dort hinauf?« Seine Frau musterte die steil ins Meer abfallenden Felsen kopfschüttelnd.
»Dafür ist sicher gesorgt«, gab der Professor lächelnd zur Antwort. »Das Schiff wirft schon Anker. Es kann der Felsen wegen nicht am Ufer anlegen. Man wird hier ausgebootet.«
»Auf dem offenen Meer?« Frau Professor schien nicht sehr erbaut davon.
Ringsum wimmelte es schon auf dem Wasser von Barken. Sie trugen Fahnen mit den Namen ihrer Hotels. Ohrenbetäubender Lärm empfing die Ankömmlinge. Wie am Bahnhof schrien die Barkenführer mitten auf dem Meere ihre Hotels aus und priesen sie an.
» Vittoria – Imperial – Royal – Cocumella – Paradiso – –« – war das ein Geschrei, ein Durcheinander von Stimmen. Jeder wollte möglichst viele Gäste heimbringen. Besonders der Barkenführer von dem Hotel Paradiso schien es auf die deutsche Professorenfamilie abgesehen zu haben.
»Parradies ist schön – Parradies ist serr schön – Parradies man kann sprrechen deitsch«, so rief der schwarze Bursche und winkte lebhaft.
»Vati, wollen wir nicht in das Hotel gehen, wo man deutsch spricht?« bettelte Suschen. Ihr schien das Paradies recht verlockend.
»Nein, Herzchen. Ich lege gerade Wert darauf, daß ihr nicht deutsch, sondern italienisch sprecht. Damit ihr bis zum Herbst, wenn ihr in die Schule kommt, fließend Italienisch könnt.« Der Professor winkte den Barkenführer des Hotels Cocumella herbei. Vorsichtig wurden sie in die Barke hinabgelassen.
O Gott, schaukelte die! Trotzdem das Meer eigentlich gar nicht bewegt war. Aber hier in der Nähe des Felsenstrandes schlugen die Wasser mit weißer Wellenbrandung gegen das Gestein. Suse war ganz blaß geworden. Sie klammerte sich fest an Vaters Hand. Herbert sprang übermütig in der auf und nieder schaukelnden Barke hin und her, um sie noch mehr zum Schaukeln zu bringen. Bis ein ernstes Wort des Vaters ihn endlich neben seiner Zwillingsschwester Platz nehmen ließ. Es war zweifelhaft, wer bangere Augen machte – die Suse oder Bubi, der Vierfüßler. Allen beiden war es nicht recht geheuer in der Wellenschaukel. Wasser hat nun mal keine Balken.
Aber schließlich gelangten sie doch alle heil ans Ufer. Eine Felsentreppe ging es hinauf. Hu, war es da dunkel und graulich. Suse packte Herberts Arm.
»Du, Herbert, Teresina hat erzählt, daß es hier in den Felsen noch richtige Zwerge geben solle. Monacelli nennt sie die Zwerge«, flüsterte sie.
»Quatsch mit Soße! Zwerge gibt es überhaupt nur im Märchen.« Es war erstaunlich, wieviel klüger der Bruder war, trotzdem er nur zwei Stunden älter war als sein Zwillingsschwesterchen.
Da öffnete sich das Felsendunkel auch schon wieder und gab einen zauberhaft schönen Ausblick auf das blaue Meer und die blühenden Orangen- und Limonengärten der Küstenlandschaft frei. Die Luft war von süßem Blütenduft erfüllt.
»Sorrent ist die Geburtsstadt von Torquato Tasso, dem großen italienischen Dichter«, erzählte der Vater. »Hier seht ihr auf der Piazza sein Marmorbildnis.« Nur die Mutter zeigte dafür Interesse. Den Kindern war ein Schaufenster mit allerliebsten Holzkästchen und kunstvollen Holzarbeiten interessanter als der Dichter Tasso.
»Die eingelegten Holzarbeiten, man nennt sie Tarsia, werden hier in Sorrent angefertigt. Auch Seidenwaren kommen aus Sorrent. Unsere hübsche, buntgestreifte Schlafdecke stammt auch von hier. Man hat in dieser Gegend viel Maulbeerbäume angepflanzt, um Seide zu gewinnen«, erklärte der Vater, dem Hotel zuschreitend.
»Wächst denn die Seide auf den Maulbeerbäumen?« fragte Suse verwundert.
Allgemeines Gelächter erfolgte als Antwort.
»Nein, ist die Suse dumm! Seide ist doch keine Frucht, die auf den Bäumen wächst.«
»Das weiß ich allein, aber – –.« Suse kämpfte mit den Tränen.
»Na, wie hängt denn die Seide mit den Maulbeerbäumen zusammen, mein kluger Sohn?« fragte der Vater lächelnd.
Darauf wußte der schlaue Herbert auch nichts zu erwidern.
»Ich erkläre euch das heute nachmittag. Jetzt wollen wir erst unsere Zimmer besichtigen.«
Einen herrlichen Garten hatte das Hotel. Mit großen blühenden Oleanderbäumen, mit seltsamen südländischen Pflanzen und Blumen, welche die nordischen Kinder noch nicht kannten. Hohe Blütenhecken besäumten verschlungene Wege, bildeten Laubengänge. Wie in einem Märchengarten kam man sich vor.
Professors Zwillinge gingen dort in Begleitung von Bubi nach Tisch auf Entdeckungsreisen aus.
»Da sitzt ja Teresinas Zwerg«, sagte Herbert lachend.
»Wo – wo?« Für alle Fälle griff Suse nach Herberts Hand.
»Dort in der Felsgrotte.« Wirklich, in einer kunstvoll angelegten, von Blütengezweig fast verdeckten Grotte hockte ein kleiner Steinzwerg mit roter Zipfelmütze. Bubi bellte ihn feindselig an.
»Ach, so einer!« Jetzt stimmte Suse in das Lachen des Bruders ein. »Sieht er nicht aus, als ob er der Zwilling wäre von dem Steinzwerg unseres Treptower Hauses? Und dabei ist der eine in Berlin und der andere in Italien.«
» Monacello«, sagte da eine heisere Stimme. Sie hätte ganz gut zu dem Gnomengesicht des Zwerges gepaßt. Hinter den Kindern stand ein alter Gärtner und wies schmunzelnd auf den Zwerg.
»Der Zwerg heißt wirklich so, wie Teresina gesagt hat«, rief Suse erfreut.
»Schafskopp – Zwerg heißt auf italienisch Monacello, jeder italienische Zwerg heißt so.« Es war gut, daß der alte Gärtner kein Deutsch verstand. Sonst hätte er wohl keine besondere Meinung von deutscher Bruderliebe bekommen.
Der alte Mann führte die Kinder auf eine große Terrasse, auf welche der Garten mündete. Hoch über dem Meer lag sie. Man hatte einen herrlichen Ausblick von dort.
» Capri«, sagte der alte Mann, auf eine Insel weisend, die wie ein großes Tier in dem Meeresblau kauerte.
Also dort würde man in drei Tagen sein.
Auf der Terrasse waren Liegestühle aufgestellt. Weißgekleidete Damen und Herren lagen dort lesend und sich des schönen Ausblicks erfreuend.
Kinder haben für landschaftliche Schönheiten nicht lange Interesse. Bald spielten die Zwillinge nebst Bubi auf der Sorrenter Terrasse Himmelhops und Huckezeck, ihr Lieblingsspiel.
Ein Herr, der in einem der Liegestühle lesend lag, wurde durch die sich um ihn herumjagenden Kinder in seiner Beschaulichkeit gestört. Er rief ihnen etwas zu und stieß dazu aus einer kurzen Pfeife ärgerlich Dampfwolken hervor.
Die Kinder sahen sich verdutzt an. Waren sie gemeint? Kein Wort verstanden sie von dem, was der Fremde gesagt hatte. Es war weder Deutsch noch Italienisch. Nur der unmutige Ton machte sie betroffen.
»Das ist gewiß ein Franzose«, flüsterte Suse dem Bruder zu.
»Nee, ein Russe!« Es lag durchaus nicht mehr Grund zu dieser Annahme vor, nur – daß Herbert nun mal ein Besserwisser war.
»Ein Engländer ist der Herr«, sagte es da belustigt aus einem der Liegestühle. »Geht etwas weiter in den Garten hinein und spielt dort, Kinderchen. Der Herr wird durch euch gestört.« Es war eine deutsche Stimme. Sie gehörte zu einer noch jugendlich aussehenden Dame mit weißem Haar.
Suse hätte die Dame am liebsten umarmt. So sehr freute sie sich, deutsche Laute hier in der Fremde zu vernehmen. Auch Bubi wedelte freundschaftlich mit dem Stummelschwänzchen.
»Erst müssen sich meine kleinen Landsmänner aber noch ein Täfelchen Schokolade von mir mitnehmen.« Freundlich griff die deutsche Dame nach ihrer Tasche.
Herbert machte wohlerzogen seine Verbeugung, Suse ihren Knicks. Bubi aber beschnupperte undankbar den gereichten Leckerbissen und ließ ihn liegen.
Als man gegen Abend einen Spaziergang nach Massa machte, wohin eine wundervolle Uferstraße führt, fragte Suse: »Vati, sind das hier auch Maulbeerbäume?«
»Nein, Suschen. Das sind doch Vignen, Weingärten. Schau, sie sind in gewölbten Spaliergängen, Pergola genannt, angelegt. Da hängen dann im Herbst die blauen und goldenen Trauben herab. Auch Zitronen und Orangen werden so angepflanzt.«
»Vater, du wolltest uns doch von der Seidenraupe erzählen«, erinnerte Herbert. Raupen interessierten ihn mehr als Bäume.
»Laßt den Vater in Ruhe diesen wundervollen Weg genießen, Kinder. Quält ihn nicht«, mahnte die Mutter. »Seht nur diese herrliche Abendbeleuchtung auf dem Meere. Sieht es nicht aus, als ob die weißen Felsen von Capri brennen und lodern?« Sie standen auf dem berühmten Aussichtspunkt, dem Capodimonte.
»Ach, das haben wir ja schon oft gesehen. Wie mein Tuschkasten sieht das Meer wieder aus. Sag', Vater, wird ein schöner, bunter Schmetterling aus der Seidenraupe?«
»Ja, ein wunderschöner. Aber die Hauptsache sind die Schmetterlingslarven. Ihr wißt doch, wenn eine Raupe sich in einen Schmetterling verwandelt, wird sie zuerst eine Larve oder eine Schmetterlingspuppe. Man treibt hier zu Lande viel Seidenraupenzucht und pflanzt dazu große Maulbeerplantagen an. Die Seidenraupen oder Seidenspinner leben auf Maulbeerbäumen und nähren sich von deren Blättern. Wenn sich die Raupe zum Schmetterling verpuppt, spinnt sie sich in ein feines Gewebe ein. Kokon nennt man dieses Gespinst. Aus diesen Kokons wird die Seide gewonnen.«
»Himmel, wieviel tausend Raupen gehören zu einem Meter Seide!« rief Herbert.
»Ja, daran denkt ihr nicht, wenn ihr euch den Seidenschlips an eurer Matrosenbluse bindet«, meinte die Mutter lächelnd.
»Und die Früchte von den Maulbeerbäumen, wie sehen die aus, Vati? Kann man sie essen?« erkundigte sich Suse.
»Kleine weißliche Beeren sind es. Es gibt auch Maulbeerbäume mit schwarzen Beeren. Doch die kommen mehr in Indien vor. Die Früchte schmecken ziemlich fade, sind aber eßbar. So – – – und nun wollen wir von Massa mit einer Barke nach Sorrent zurückrudern.« Zweistimmiger Jubel erschallte auf des Vaters Vorschlag.
Zum erstenmal in ihrem Leben saßen Professors Zwillinge in einem großen Speisesaal bei dem gemeinsamen Abendessen. Das war hier in Italien die große Mahlzeit des Tages. Die Gäste erschienen dazu in Gesellschaftsanzug.
Suse wagte kaum die Augen von ihrem Teller zu heben. Die blendende Lichtfülle, die schönen Blumen auf den Tischen und die geputzten Menschen ringsum, vor allem aber die feierlichen Kellner schüchterten sie ein. Sie stand jedesmal auf und machte dankend einen Knicks, wenn der Kellner ihr eine Schüssel servierte. Bis die Mutter ihr lächelnd sagte, daß dies nicht nötig sei. Wie gut, daß man an kleinen Tischen speiste und für sich saß.
Herbert aber ließ seine Augen munter umherschweifen.
»Du, Suse, da drüben sitzt die nette deutsche Dame, die uns Schokolade geschenkt hat. Und an dem Tisch daneben der olle Brummbär, der ...«
»Pst, Herbert, nicht so laut! Du bist nicht allein hier«, bedeutete ihm die Mutter.
»Ach, die verstehen ja kein Deutsch«, meinte der Herr Sohn leichthin.
Es mußte aber doch wohl an manchen Tischen Deutsch verstanden werden. Als Mutti wiederum mahnend flüstern mußte: »Iß langsam, Herbert, stopfe nicht – sieh mal, wie manierlich Suschen ißt«, da zeigte es sich, daß verschiedene Umsitzende lächelten.
Merkwürdige Dinge gab es hier zu essen. Ein Gemüse, das die Kinder noch nicht kannten. Es waren Artischocken. Der Vater sagte ihnen, das sei eine Delikatesse. Aber den Zwillingen mundete das Orangeneis, das es zum Nachtisch gab, entschieden besser.
» Ancora?« fragte der das Eis auflegende Kellner die netten Kinder lächelnd. Das hieß: Noch gefällig? Und die Zwillinge riefen wie aus einem Munde: » Si, ancora – ancora!« Bis der Vater Einspruch erhob, damit sie sich nicht den Magen verdürben.
Als die Kinder nebeneinander in ihren Betten lagen, stellten sie in dem fremden Zimmer erfreut fest, daß keine Moskitonetze die Betten umhüllten. Daran hatten sie sich noch immer nicht gewöhnen können.
»Morgen nehme ich mein Schmetterlingsnetz und die Botanisiertrommel mit und gehe auf Seidenraupenjagd«, sagte Herbert, ehe er einschlief. »Der alte Gärtner weiß sicherlich, wo hier Maulbeerbäume stehen. Die Seide, die ich aus dem Kokon gewinne, bekommst du, Suse.«
»Daraus nähe ich meiner Schwarzwald-Lotti ein Sonntagskleid«, kam es halb im Schlaf aus dem andern Bette.
Ganz klein waren Suses Augen schon; sie klappten bereits zu. Aber sie riß sie noch mal weit auf.
Nanu – was war denn das? Zwischen ihrem und Herberts Bett stand ein winziger Zwerg, kleiner als ihre Puppe, mit roter Zipfelmütze. Und als sie näher zusah, erkannte sie deutlich den kleinen Steingnomen aus der Felsgrotte unten im Garten.
Er machte einen Kratzfuß und sagte, sich vorstellend: » Monacello.« Wirklich, er war's.
»Wir heißen Herbert und Suse Winter und sind Zwillinge«, erwiderte Suse höflich, da Herbert gar keine Notiz von dem kleinen Besuch zu nehmen schien, sondern ruhig weiterschnarchte.
»Das weiß ich«, sagte der kleine Wicht. »Ihr seid ja ins Fremdenbuch eingeschrieben.«
Drollig, daß er Deutsch sprach. Dabei war er doch ein italienischer Zwerg, ein Monacello.
»Ihr wolltet gern Maulbeerbäume und Seidenraupen sehen, kommt, ich zeige sie euch«, fügte er hinzu.
»Eigentlich müssen wir jetzt schlafen«, wandte Suse als braves, kleines Mädchen ein. Aber der Zwerg war bereits an der Tür und sah sich erwartungsvoll nach den Kindern um. Da rüttelte sie den verschlafen grunzenden Bruder wach.
»Du, Herbert, der Zwerg zeigt uns Seidenraupen.«
So müde er auch war, bei dem Wort Seidenraupen wurde der Herbert ganz munter.
Mäuschenstill war's im Hause. Alles schlief bereits. Behutsam schlichen die Barfüßchen die Treppe hinab. Es war ja solche warme, blütenschwere Sommernacht.
»Ist es auch nicht zu dunkel da draußen?« fragte Angsthäschen Suse noch zaghaft, bevor sie dem winzigen Führer durch die verschlungenen Heckenwege des großen Gartens folgte.
»Die Englein haben heute große Illumination am Himmel gemacht. Jedes Goldlichtchen haben sie angezündet. Da ist es heller als am Tage«, beruhigte sie der Zwerg.
»Hahaha, Goldlichtchen! Das sind doch Sterne«, belehrte Herbert den Kleinen.
»Du mußt es ja wissen.« Der winzige Geselle lächelte spöttisch.
»Muß ich auch«, rief Herbert eifrig. »Mein Vater ist doch Professor von all den Sternen.«
»Mach' dich nur nicht zu mausig, Herr Besserwisser«, sagte der Zwerg ein wenig ärgerlich. Woher er wohl wußte, daß die Eltern Herbert immer einen kleinen Besserwisser nannten? »Schau mal durch mein großes Fernglas, da wirst du's ja sehen.« Er zog das »große Fernglas« aus seinem Röckchen. Es war nicht länger als Muttis Fingerhut.
»Durch das kleine Ding sollen wir sehen?« machte Herbert verächtlich. Aber als er es jetzt ans Auge führte, wuchs es, wurde länger, immer länger. »Wirklich, es sind Lichtchen, lautet goldene Lichtchen brennen da oben«, rief er erstaunt. »Guck bloß mal, Suse.«
Auch die Schwester bestätigte es.
»Seht ihr, man muß nicht immer alles besser wissen wollen«, sagte der Zwerg, schob das Fernglas zusammen, bis es wieder so klein wie zuvor war, und steckte es in die Tasche.
»Das ist doch bloß Herbert, der immer alles besser wissen will«, wollte Suse erwidern. Aber zum Glück besann sie sich noch, daß sie ja als Zwilling die Verpflichtung hatte, auch mal eine unverdiente Rüge für den Bruder in Empfang zu nehmen.
Kreuz und quer gingen sie, schließlich blieb der Zwerg vor drei Bäumen stehen. »Das sind Maulbeerbäume«, sagte er.
Die Kinder schauten die Bäume an und dann einander. Sie konnten beim besten Willen nichts Besonderes an den Bäumen entdecken. Die sahen aus wie viele andere Bäume.
»Wo sind denn die Seidenraupen?« erkundigte sich Herbert.
»Groß genug sind doch eure Augen, aber sehen könnt ihr trotzdem nicht«, lachte der Gnom. »Da hängen sie ja, eine neben der andern.«
»Das sind doch Beeren, weiße Beeren«, meinte Suse. »Vati hat uns erzählt, daß der Maulbeerbaum weiße Beeren trägt. Man kann sie sogar essen.«
»Na, dann laß sie dir nur gut schmecken – guten Appetit dazu!« rief der kleine Führer belustigt. »Ich fürchte nur, die Beeren werden in deinem Magen herumkrabbeln.«
»Es sind Kokons, Suse, keine Beeren«, belehrte sie auch Herbert. »Siehst du, eine Beere ist rund, und die hier haben längliche Form. Angesponnene Seidenraupen sind es. Mit einem seinen weißen Faden sind sie an dem Blatt befestigt.«
»Das ist ein Seidenfaden«, erklärte der Zwerg. »Wenn man den abräufelt, sieht man, wie lang er ist. Immer ein Seidenfaden gleichmäßig neben dem andern. Die Seidenraupe ist die berühmteste Spinnerin hierzulande.«
»Ich möchte mal einen Kokon aufräufeln und mir die Raupe ansehen.« Herbert streckte bereits die Hand nach dem Kokon aus.
»Du, das ist nicht erlaubt.« Der Zwerg gab dem fürwitzigen Jungen mit seinen winzigen Fingerchen einen Schlag auf die große, derbe Jungenhand. Au, das tat weh! »Du störst ja die Entwicklung der Raupe in einen Schmetterling«, piepste der Kleine ärgerlich. »Das habt ihr Menschen so an euch.«
»Ich habe doch der Suse Seide für ein Puppenkleid versprochen«, entschuldigte sich Herbert verlegen.
»Na, dann wollen wir die Raupe mal bitten, daß sie euch Seide schenke«, schlug der Kleine vor. Er pflückte ein Blatt von dem Maulbeerbaum und pfiff darauf. Das hörte sich an, als ob eine Drossel pfiffe.
Einer der an einem Faden herabhängenden Kokons begann sich hin und her zu bewegen.
»Paßt auf, Frau Raupe wird sogleich ihr Fenster öffnen«, machte der Zwerg die Kinder aufmerksam.
»Fenster – eine Raupe hat doch kein Haus wie die Schnecke. Und es ist überhaupt keine Raupe mehr, sondern eine Schmetterlingslarve«, wandte Herbert ein. Aber da sah man plötzlich, wie sich die seine Hülle auseinanderschob und ein häßlicher Raupenkopf mit vielen Augen herausspähte.
»Eine Raupe – eine Raupe!« Laut auf kreischte Suse und sprang zurück. Es gab einen Krach – da lag die Suse zwischen den beiden Betten auf dem Fußboden.
Aus dem Nebenzimmer eilte erschreckt die Mutter herzu.
»Kind, Suschen, was machst du bloß für einen Lärm! Himmel, du bist ja aus dem Bett gefallen! Und aus dem Schlaf geschrien hast du auch. Du hast gewiß heute zu viel zum Abendbrot gegessen.« Mutti bettete das Töchterchen liebevoll wieder auf das Lager.
»Aus dem Schlaf geschrien? Mutti, ich hatte doch bloß Angst vor der ollen Raupe, die den Kopf aus dem Seidenkokon gesteckt hat«, flüsterte Suse schlaftrunken.
»Du hast geträumt, Herzchen.«
»Nee, der Herbert muß es doch auch wissen – – –.«
Aber da schnarchte auch Suse schon wieder, wie ihr Zwilling.
Weder Herbert noch der Steinzwerg wußten am nächsten Morgen etwas von dem nächtlichen Ausflug zu den Maulbeerbäumen. Und Suses Puppe bekam nun kein seidenes Sonntagskleidchen.